DER ULMER SCHRANK
VON ADOLF HÄBERLE
Ulm als Reichsstadt und Mittelpunkt politischer und wirtschaftlicher Interessen, das im
15. Jahrhundert die Führung über ganz Schwaben übernommen hatte, war damals fort-
schrittlich und modern gesinnt. Das Alte wurde schnell überwunden und aus der Welt
geschafft. So kommt es, daß die Renaissance viele gotische Schöpfungen beseitigt hat.
Übrig ist noch ein gotischer Schrank mit der Jahreszahl 1465, begleitet von den Wappen
der Ulmer Familien Gienger und Lupin und dem Namen des bedeutendsten Ulmer Meisters
»Jörg Syrlin«1, neuerdings in das Ulmer Museum zurückgekehrt.
Die Zeit höchster Blüte ist überwunden, der Klassizismus, fremde Motive greifen Platz.
Trotz dieser fremden Einflüsse aber ist hier ein eigener Stil der Handwerkskunst fest-
zustellen mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts. Von dieser Zeit an bis hinein ins Bieder-
meier, also durch mehr als vier Jahrhunderte hindurch, hat im Möbel dieser Klassizismus
im Aufbau durchgehalten. Das stilkritische Moment liegt mehr in der Ornamentierung,
der Wahl der Hölzer, in den mehr oder weniger fein gegliederten Flächen und Profilen
und in den vom Schlosser verfertigten Beschlägen. Die Holzwahl fällt auf Eichen, Nuß-
baum, Tannen, Linden und, was für Ulm wichtig ist, auf ungarische Eschen. Letzteres
wurde von den Ulmer Schiffleuten die Donau heraufgebracht und in Zeiten, wo nicht
gerade Kriege die Einfuhr erschwerten, verwendet. Dies ist ein besonderes Merkmal der
Ulmer Möbel. (S. Abb. 1.) Den Einflüssen, die ein Dürer und ein Holbein über die Alpen
brachte, und der Bewegung, die durch die sogenannte Kleinmeister in alle Zweige des
Kunstgewerbes getragen wurde, konnte Ulm ebensowenig wie andere Städte widerstehen.
Doch ist seine Eigenart stets gewahrt geblieben.
Was die Konstruktion des Schrankes betrifft, so dürfte die Truhe in zweifacher Aufeinander-
stellung den Anfang hierzu gebildet haben. Wenn wir heute gewohnt sind, den Schrank
zum Hängen der Kleider zu benützen, so war noch im 16. Jahrhundert das Legen der-
selben durch die Konstruktion bedingt. Im 17. Jahrhundert wird dies anders, der heutige,
senkrecht durchgehende Schrank, in dem das Hängen der Kleidung möglich wird, tritt
auf. Von den beiden aufeinandergestellten Truhen verliert die obere den Boden, die untere
das Dach und ein durchgehend Ganzes ist geschaffen, ein Schrank, wie wir ihn heute
noch haben. Der Entwurf zum Schrank hing vom schaffenden Baumeister jener Zeit ab.
Genau wie dieser nach Proportionsregeln ein Bauwerk bis ins einzelne aufteilte, die Höhe
zur Breite und die Höhe der Geschosse zum Ganzen abwog, genau so verfuhr der
Schreiner. Aber nicht nur die Verhältnisse wurden übernommen, sondern die ganze
Architektur. Schränke der Renaissance sind Steinfassaden en miniature, die in der Hoch-
renaissance Steinquaderaufteilungen und Fugen des Quaderbaues in Holz imitierten.
1 S. Falke, Möbel des Mittelalters und der Renaissance, 1925, Abb. S. 104.
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VON ADOLF HÄBERLE
Ulm als Reichsstadt und Mittelpunkt politischer und wirtschaftlicher Interessen, das im
15. Jahrhundert die Führung über ganz Schwaben übernommen hatte, war damals fort-
schrittlich und modern gesinnt. Das Alte wurde schnell überwunden und aus der Welt
geschafft. So kommt es, daß die Renaissance viele gotische Schöpfungen beseitigt hat.
Übrig ist noch ein gotischer Schrank mit der Jahreszahl 1465, begleitet von den Wappen
der Ulmer Familien Gienger und Lupin und dem Namen des bedeutendsten Ulmer Meisters
»Jörg Syrlin«1, neuerdings in das Ulmer Museum zurückgekehrt.
Die Zeit höchster Blüte ist überwunden, der Klassizismus, fremde Motive greifen Platz.
Trotz dieser fremden Einflüsse aber ist hier ein eigener Stil der Handwerkskunst fest-
zustellen mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts. Von dieser Zeit an bis hinein ins Bieder-
meier, also durch mehr als vier Jahrhunderte hindurch, hat im Möbel dieser Klassizismus
im Aufbau durchgehalten. Das stilkritische Moment liegt mehr in der Ornamentierung,
der Wahl der Hölzer, in den mehr oder weniger fein gegliederten Flächen und Profilen
und in den vom Schlosser verfertigten Beschlägen. Die Holzwahl fällt auf Eichen, Nuß-
baum, Tannen, Linden und, was für Ulm wichtig ist, auf ungarische Eschen. Letzteres
wurde von den Ulmer Schiffleuten die Donau heraufgebracht und in Zeiten, wo nicht
gerade Kriege die Einfuhr erschwerten, verwendet. Dies ist ein besonderes Merkmal der
Ulmer Möbel. (S. Abb. 1.) Den Einflüssen, die ein Dürer und ein Holbein über die Alpen
brachte, und der Bewegung, die durch die sogenannte Kleinmeister in alle Zweige des
Kunstgewerbes getragen wurde, konnte Ulm ebensowenig wie andere Städte widerstehen.
Doch ist seine Eigenart stets gewahrt geblieben.
Was die Konstruktion des Schrankes betrifft, so dürfte die Truhe in zweifacher Aufeinander-
stellung den Anfang hierzu gebildet haben. Wenn wir heute gewohnt sind, den Schrank
zum Hängen der Kleider zu benützen, so war noch im 16. Jahrhundert das Legen der-
selben durch die Konstruktion bedingt. Im 17. Jahrhundert wird dies anders, der heutige,
senkrecht durchgehende Schrank, in dem das Hängen der Kleidung möglich wird, tritt
auf. Von den beiden aufeinandergestellten Truhen verliert die obere den Boden, die untere
das Dach und ein durchgehend Ganzes ist geschaffen, ein Schrank, wie wir ihn heute
noch haben. Der Entwurf zum Schrank hing vom schaffenden Baumeister jener Zeit ab.
Genau wie dieser nach Proportionsregeln ein Bauwerk bis ins einzelne aufteilte, die Höhe
zur Breite und die Höhe der Geschosse zum Ganzen abwog, genau so verfuhr der
Schreiner. Aber nicht nur die Verhältnisse wurden übernommen, sondern die ganze
Architektur. Schränke der Renaissance sind Steinfassaden en miniature, die in der Hoch-
renaissance Steinquaderaufteilungen und Fugen des Quaderbaues in Holz imitierten.
1 S. Falke, Möbel des Mittelalters und der Renaissance, 1925, Abb. S. 104.
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