H. M. LÜTZELER / O. FISCHER
Kunstphilologie aus ihrer trostlosen Isolierung von
heute erlöst und wieder zu etwas Lebendigem
ausgeweitet werden ? Denn es hat Zeiten gegeben,
wo diese gleiche Philologie etwas ungemein Lebens-
notwendiges war und heißhungrig begehrt wurde
als wahrhaftiges Brot nach der Wolkenspeise ästhe-
tischer Schöngeisterei. Die Notwendigkeit jener
Ausweitung der »Kunstphilologie« aus vollem Her-
zen zugebend, möchte ich doch in der vom Verfasser
postulierten Wesenserkenntnis etwas anderes sehen
als er: nicht eine Aufdeckung objektiver Wesens-
gesetze, sondern die ins Kleid solcher Gesetzes-
forderung gehüllte Klarstellung des jeweils eigenen
Kunstwollens. Wenn die scharfsinnige kritische
Auseinandersetzung mit den wichtigsten Kunst-
theorien in die positive Feststellung ausläuft: »Die
Ordnung nun, die die Kunst gestaltet, ist über-
schaubar, geschlossen und notwendig«, so ist damit
nicht über die Kunst an und für sich etwas ausgesagt,
sondern über das, was uns Kunst ist, sein kann,
zu sein hat. Sich darüber Klarheit zu verschaffen,
das instinktiv Innegehabte durch ein spekulativ
Erarbeitetes zu befestigen, mag von äußerster
Wichtigkeit sein, nie kann jedoch eine solche Fest-
stellung apriorisch einer Kunstwissenschaft ihr
Material bereitstellen. Denn zu diesem gehört alles,
was Kunst war und Kunst werden könnte, gehört
alles, was jenen Kern reflektiert, ergänzt, verbreitet,
der uns unmittelbar und zwingend Kunst ist. Die
Existenz eines solchen Kernes überhaupt zu fühlen,
heißt aber schon den archimedischen Punkt im
Weltall der Kunst gefunden zu haben, von wo
aus ihre geschichtliche Erkenntnis ins Werk gesetzt
werden kann. H. Tietze
SCHWÄBISCHE MALEREI DES NEUNZEHNTEN
JAHRHUNDERTS VON OTTO FISCHER
Mit 21 g Abbildungen. Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart, Berlin und Leipzig 1925
Das Buch entstand aus Anlaß der großen retro-
spektiven Ausstellung schwäbischer Kunst in Stutt-
gart, die Otto Fischer im Sommer 1925 veranstaltete,
und faßt den wesentlichen Teil des Materials an
malerischen Werken des 19. Jahrhunderts in Wort
und Bild zusammen. Da die Geschichte der schwä-
bischen Kunst nach Fischers prägnanter Formu-
lierung »nicht die Kontinuität einer einheitlichen
Schulung und Fortbildung, sondern mehr ein
Spiegelbild der allgemein deutschen Entwicklung«
enthüllt, trägt das Buch den Charakter eines
historischen Katalogs. Kurze, lebendige Charak-
teristiken umreißen die Persönlichkeiten der ein-
zelnen Maler, die sich in unmittelbarem Schul-
zusammenhang folgen oder eine geschichtlich
fortlaufende Linie nur aus der weiteren deutschen
Entwicklung erkennen lassen. Der Ablauf der
schwäbischen Produktion im 19. Jahrhundert
wird durch das Buch Fischers in allen seinen
Phasen klar überschaubar, wenigstens den ent-
scheidenden Grundzügen nach, und offenbart sich
für den größten Teil der hundert Jahre in seinem
künstlerischen Ausmaß als Erscheinung von loka-
ler' Begrenztheit. Nur der Flöhepunkt der schwä-
bischen Malerei in den Jahrzehnten des Klassizis-
mus schenkt der deutschen Produktion führende
Individualitäten. Vor allem Gottlieb Schick und
den Kreis um ihn. Mit dem Verklingen des
Klassizismus, der die kultivierte Breite einer bürger-
lichen Malerei mit realistischer Einstellung vor-
wegnimmt, sinkt das künstlerische Niveau rasch
bis zur Grenze des Anonymen. Gegen das Ende
des Jahrhunderts steigt die Kurve wieder an, doch
für die Gesamtheit des deutschen Schaffens in
ihrer künstlerischen Bedeutung nicht in dem Aus-
maß, das Fischer durch die zu positive Wertung
der im Vordergründe stehenden Individualitäten
andeutet. Dies ist vielleicht der einzige Einwand
gegen die leidenschaftslose aber warme Sachlich-
keit der Darstellung, die durch mehr als zwei-
hundert vorzügliche Abbildungen zu lebendigster
Wirkung erhoben wird. Der ganze Umkreis
schwäbischer Malerei ,von den Höhen der führenden
Künstler bis zu der im Dilettantischen sich ver-
lierenden Produktion ist durch das reiche Ab-
bildungsmaterial dauernd erschlossen: als ein
wichtiger Ausschnitt für eine durchgreifende
Kenntnis und Erkenntnis der gesamtdeutschen
Malerei im 19. Jahrhundert. Bruno Grimschitz
120
Forum
Kunstphilologie aus ihrer trostlosen Isolierung von
heute erlöst und wieder zu etwas Lebendigem
ausgeweitet werden ? Denn es hat Zeiten gegeben,
wo diese gleiche Philologie etwas ungemein Lebens-
notwendiges war und heißhungrig begehrt wurde
als wahrhaftiges Brot nach der Wolkenspeise ästhe-
tischer Schöngeisterei. Die Notwendigkeit jener
Ausweitung der »Kunstphilologie« aus vollem Her-
zen zugebend, möchte ich doch in der vom Verfasser
postulierten Wesenserkenntnis etwas anderes sehen
als er: nicht eine Aufdeckung objektiver Wesens-
gesetze, sondern die ins Kleid solcher Gesetzes-
forderung gehüllte Klarstellung des jeweils eigenen
Kunstwollens. Wenn die scharfsinnige kritische
Auseinandersetzung mit den wichtigsten Kunst-
theorien in die positive Feststellung ausläuft: »Die
Ordnung nun, die die Kunst gestaltet, ist über-
schaubar, geschlossen und notwendig«, so ist damit
nicht über die Kunst an und für sich etwas ausgesagt,
sondern über das, was uns Kunst ist, sein kann,
zu sein hat. Sich darüber Klarheit zu verschaffen,
das instinktiv Innegehabte durch ein spekulativ
Erarbeitetes zu befestigen, mag von äußerster
Wichtigkeit sein, nie kann jedoch eine solche Fest-
stellung apriorisch einer Kunstwissenschaft ihr
Material bereitstellen. Denn zu diesem gehört alles,
was Kunst war und Kunst werden könnte, gehört
alles, was jenen Kern reflektiert, ergänzt, verbreitet,
der uns unmittelbar und zwingend Kunst ist. Die
Existenz eines solchen Kernes überhaupt zu fühlen,
heißt aber schon den archimedischen Punkt im
Weltall der Kunst gefunden zu haben, von wo
aus ihre geschichtliche Erkenntnis ins Werk gesetzt
werden kann. H. Tietze
SCHWÄBISCHE MALEREI DES NEUNZEHNTEN
JAHRHUNDERTS VON OTTO FISCHER
Mit 21 g Abbildungen. Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart, Berlin und Leipzig 1925
Das Buch entstand aus Anlaß der großen retro-
spektiven Ausstellung schwäbischer Kunst in Stutt-
gart, die Otto Fischer im Sommer 1925 veranstaltete,
und faßt den wesentlichen Teil des Materials an
malerischen Werken des 19. Jahrhunderts in Wort
und Bild zusammen. Da die Geschichte der schwä-
bischen Kunst nach Fischers prägnanter Formu-
lierung »nicht die Kontinuität einer einheitlichen
Schulung und Fortbildung, sondern mehr ein
Spiegelbild der allgemein deutschen Entwicklung«
enthüllt, trägt das Buch den Charakter eines
historischen Katalogs. Kurze, lebendige Charak-
teristiken umreißen die Persönlichkeiten der ein-
zelnen Maler, die sich in unmittelbarem Schul-
zusammenhang folgen oder eine geschichtlich
fortlaufende Linie nur aus der weiteren deutschen
Entwicklung erkennen lassen. Der Ablauf der
schwäbischen Produktion im 19. Jahrhundert
wird durch das Buch Fischers in allen seinen
Phasen klar überschaubar, wenigstens den ent-
scheidenden Grundzügen nach, und offenbart sich
für den größten Teil der hundert Jahre in seinem
künstlerischen Ausmaß als Erscheinung von loka-
ler' Begrenztheit. Nur der Flöhepunkt der schwä-
bischen Malerei in den Jahrzehnten des Klassizis-
mus schenkt der deutschen Produktion führende
Individualitäten. Vor allem Gottlieb Schick und
den Kreis um ihn. Mit dem Verklingen des
Klassizismus, der die kultivierte Breite einer bürger-
lichen Malerei mit realistischer Einstellung vor-
wegnimmt, sinkt das künstlerische Niveau rasch
bis zur Grenze des Anonymen. Gegen das Ende
des Jahrhunderts steigt die Kurve wieder an, doch
für die Gesamtheit des deutschen Schaffens in
ihrer künstlerischen Bedeutung nicht in dem Aus-
maß, das Fischer durch die zu positive Wertung
der im Vordergründe stehenden Individualitäten
andeutet. Dies ist vielleicht der einzige Einwand
gegen die leidenschaftslose aber warme Sachlich-
keit der Darstellung, die durch mehr als zwei-
hundert vorzügliche Abbildungen zu lebendigster
Wirkung erhoben wird. Der ganze Umkreis
schwäbischer Malerei ,von den Höhen der führenden
Künstler bis zu der im Dilettantischen sich ver-
lierenden Produktion ist durch das reiche Ab-
bildungsmaterial dauernd erschlossen: als ein
wichtiger Ausschnitt für eine durchgreifende
Kenntnis und Erkenntnis der gesamtdeutschen
Malerei im 19. Jahrhundert. Bruno Grimschitz
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