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Das Buch für Alle.

Thusnelda dagegen an der Ähnlichkeit mit ihrer Mutter
erkannte, da tagte in mir die Hoffnung, daß Ihr viel-
leicht im Stande wäret, mir Auskunft zu ertheilen."
Gehässig lachte Gregor auf.
„Traue keiner Kunde mehr," sprach er finster, „am
wenigsten einer, die ihren Weg über Melvillehouse
nahm, und käme sie aus meinem Munde; denn Die-
jenigen, die einst Zwietracht in eine glückliche Familie
trugen, deren Mitglieder schanilos auseinanderrisscn
und in alle Winde zerstreuten, dieselben Kräfte wirken
heut noch, bieten heut noch ihr Aeußerstes auf — nein,
ich täusche mich nicht — eine Vereinigung der Ueber-
lcbendcn zu erschweren, unmöglich zu machen."
„Ja, Gregor, es konnte nicht anders fein, oder ich
hätte nicht so viele Jahre vergeblich nach den Mei-
nigen gesucht," erwiederte Stocton wie mit Wider-
streben, „ja, alle meine Anstrengungen mußten erfolg-
los bleiben, so lange fanatischer Haß und Hinterlist
sich gegen mich Verbündeten."
„Armer Charles," wiederholte Gregor unverändert
duster und er hielt noch immer Stocton's beide Hände,
„komm in mein Schlafzimmer, da wollen wir unsere
Herzen vor einander öffnen und erleichtern. Nachher
sollst Du der todten Edith Tochter, meinen Schützling,
Deine eigene Nichte kennen lernen, an ihr ermessen,
wie gewissenlos und grausam man gegen uns Alle ver-
fuhr und weiter Verfahren wird. Denn wo man einen
Engel mordete, da ist auch heute noch nicht auf mil-
dere Gesinnungen, auf herzliches Entgegenkommen zu
rechnen."
Sie waren in das Nebenzimmer getreten und hatten
sich neben einander niedergelassen; dann fuhr Gregor
ungesäumt forte „Ja, Charles, ich durchschaue bis zu
einer gewissen Grenze die gegen uns auSgespielten und
wohl noch auszuspielcnden Ränke. Vorgestern noch hieß
es, Du seiest seit vielen Jahren todt, als ich Tante
Sarah -"
„Du sahst sie?" fuhr Stocton heftig auf.
„Ich sah und sprach sie —"
„Du warst es, der mit den beiden Falben —"
„Kein Anderer, Charles."
„So mußt Du bald nach mir dort gewesen sein?"
„Sicher, wenn Du derselbe Pcdlar warst, an dem
wir achtlos vorüber fuhren, und für dessen mühevolle
Wanderung Thusnelda so viel freundliche Thcilnahme
- verricth."
„lind was erfuhrst Du von der Tante Sarah?"
„Nicht mehr und nicht weniger, als daß Dein Tod
erwiesen sei."
„Nachdem wir kurz zuvor Äug' in Ang' einander
gegenüber gestanden hatten," versetzte Stocton erstaunt;
„doch wer weiß, sie mag mich dennoch nicht erkannt
haben," fügte er zweifelnd hinzu, „cs wäre zu grau-
sam, zu herzlos gewesen; ich kann cs nicht glauben."
„Glaube das Acrgste," erwiederte Gregor finster,
„dann aber frage Dich, welchen Werth alle Nachrichten
ans derselben Quelle nur haben können. Außerdem liegt
die Möglichkeit, sogar die Wahrscheinlichkeit nahe, daß
unsere gemeinschaftliche unversöhnliche Gegnerin durch
den Einfluß des Schurken Slowfield —"
„Slowfield?" warf Stocton leidenschaftlich ein und
ungläubig sah er in Gregor's düster überschattete Angen.
„Ja, er," bestätigte dieser kalt, „und mehr noch:
er befand sich zugleich mit mir in Mclvillehousc."
„Slowfield," wiederholte Stocton zähneknirschend,
„also auch er lebt noch, zählt noch immer zu unseren
Feinden. Und ein furchtbarer Fcind ist er; und an
seinem guten Willen lag cs nicht, wenn ich zu seiner
Zeit dem Tode durch Meuchlerhand entging. Doch
später mehr davon. Jetzt habe ich nur noch Sinne
für Marianne und meine Kinder; ich muß sie finden,
und wäre ich gezwungen, die Ruhestätten der Todten
nach ihnen zu durchforschen. Nein, Alle können nicht dem
Fluch erlegen sein, welchen der Ausbruch jenes unheil-
vollen Krieges auf das ganze Land herabrief. Von
Marianne aber kann ich nicht glauben, daß die Empfin-
dungen, welche sie damals bewogen, sich von mir los-
znsagen, die vielen langen Jahre überdauerten."
,',Es wäre wenigstens Unnatur," versetzte Gregor
crmnthigcnd, „und mag vorläufig noch Alles in un-
durchdringliches Dunkel gehüllt erscheinen - zu Dir stehe
ich mit Leib nnd Seele in Deinem Trachten und For-
schen. Vor keinem Hinderniß, vor keinem Opfer will
ich zurückschreckcn, nur Denjenigen zu ihrem Recht zu
verhelfen — zu ihnen zählt Thusnelda in erster Reihe —
gegen die unzweifelhaft ein schamloser Betrug in's
Werk gesetzt worden ist."
„Wenn Thusnclda's Vater noch lebte und es ge-
länge uns, mit ihm in Verbindung zu treten," be-
merkte Stocton trübe.
„Gilbert sollte auf unsere Seite treten?" fragte
Gregor wieder feindselig und er lachte gegen seine Ge-
wohnheit höhnisch auf, „er, der weder'die Lust, noch
die Kraft besaß, für seine Frau, die Mutter sei-
ucs Kindes, cinzntreten, als mau sie Ivie eine Ver-
brecherin von dannen jagte ? Ha, Charles, hättest Du
sie gesehen, wie sie in ferner Witduiß mit einem Se-
genswunsch für ihre Verderber auf den Lippen die Augen

Hess !!.
Dewe Würde wahrend, als leeres Wortgeklingcl
d ' M"r legt er jetzt einen Beweis seiner Hochachtung
- / uicder." Dann überwachte er aufmerksam
//st iieblichen Schützling, während dieser las, so
säunit^ Auf^Erter mit dem zweiten Auftrage höflich
St Psdi'N hatte sich bis dahin nicht von der
r/" gerührt. Die Hände vor sich in einander gelegt,
n /"astete er regungslos die freundliche Gruppe, welche
„ j beinah vollständig in seinem Gesichtskreise befand.
, icgor saß in einer Sophaecke, wo er bisher mit dem
" ?"ser Zeitung beschäftigt gewesen. Vor ihm auf
j.stoßen ruudcn Tisch unterschied der Pcdlar eine
"vn hellblauem Seidenstoff, weißen Straußcn-
""d Silbcrtressen. Thusnelda, in einem hell-
Hausklcide, mit darüber gezogenem unfertigen
p..,,' V/u Atlaßleibchen, stand seitwärts vom Tisch und
j ^stn den Rücken zugekehrt. Um sie herum be-
derNt k'H stierlich Singsang, die große Hornbrille auf
,,, augenscheinlich messend und prüfend, um ein
m ^cmzmdcs Kostüm herzustcllen.
chstMm Thusnelda den Brief überflogen hatte,
l ßc ihn auf den Tisch.
"E" Mensch sah recht beschämt aus," bc-
L , , sie gleichmüthig; und zu Singsang über die
iäunt nicht wieder zu eng, oder Du bist die
One Zeit Hofschncider gewesen."
o,,,./,"sicht enger als nothwendig, um Deine Gestalt
ieilhast hervortreten zu lassen," erklärte Singsang,
cbw/Z entstanden auf seiner Stirn die Weisheitsfalten
""cs heiligen Kon-fu-tse.
ur "z/cis kümmert mich das Wohlgefallen der Men-
, erwiederte Thusnelda sorglos, „frei bewegen
„ ? "h mich können. Ich möchte hören, was Du
drein - /cisi'be ich einen Knebel durch Deinen Zopf und
übev ' so lange, bis Dir vor Vergnügen die Augen
m "-OssPen — lache immerhin, altes Scheusal mit Deiner
Ohonerungstvrtur. Es ist mein furchtbarer Ernst.
scul soll^' " *"cnn Deine Mühe nicht umsonst
m, "Da ist noch Jemand im Vorzimmer, der den Mr.
Utzt'bcu^^ glaubte der Aufwärtcr
absiclÄ"! Hcnkcr damit," fuhr Gregor rauh ans nnd
n/Z"ich laut genug, nm in dem Ncbcngcmach vcr-
an M werden, „Sie wissen, daß wir nie Besuche
kümu wcnigsten die neugieriger Reporter; Be-
/.besitze ich in New-Orleans nicht."
NnWu " Geschäftsmann," entschuldigte Jener, „er
pd er hätte cs sehr dringend."
ist ein Anderes," versetzte Gregor, „sagen
"Wb er möchte ein wenig warten, ich käme gleich."
Zstf Anfwärter entfernte sich.
p'^'e habcu's gehört," sprach er im Vorbeigehen
/"l Pedlar, dann trat er auf den Korridor hinaus.
dann'? "em Wohnzimmer ertönten feste Schritte, gleich
st scschien Gregor in der Thür.
spät" .^st sür dringende Geschäfte ist cs schon etwas
de» 'm?dcte er in der ihm cigcuthümlichen kalten Weise
cdtar an, welcher, den Rücken noch etwas tiefer
Ne» chu mit einem seltsamen Ausdruck wehmüthi-
betrachtete.
die h st blcser auf seine Anrede nichts erwiederte, nicht
!al; wWandlung in seinem Acußercu stattfand,
,,2m"sstor schärfer auf ihn hin und fragte befremdet:
iistte Ts ich dienen? Bitte, erwägen Sic die
Vnm" !cnfzte der Pedlar tief auf. Er öffnete die
,^st ciucr Antwort, brachte aber nur leise hcr-
biel , "Gregor, mich wicdcrzuerkcnncn — cs wäre zu
c "erlangt."
(istr/'cu/ ersten Wort, welches sein Ohr traf, erbleichte
brnu/ cödtlich. Wie vor einem dem Grabe Entstiegenen
c er einen Schritt zurück, besaß indessen die Ucbcr-
lMni?'-d>cis Wohnzimmer zu schließen, nachdem er
gt>stz 'stesprochcn hatte: „Ich möchte eine Weile un-
hw. / blcibcn." Tann dem Pedlar sich wieder zu-
st'l n>- ästete er seine Blicke durchdringend auf das
aber'! benarbte und entstellte Antlitz. Sobald er
Tlnz^'c/rtc, wie in den großen schwcrmüthigcn Augen
ding 'lllsammenliefeu, legte er, wie unter dem Eiu-
nner Sinnestäuschung, die Hand auf seine Stirn.
Lst»>, """Es - Stocton —" entwand cs sich seinen
,,cs ist unmöglich -"
deejn,?, kZch Wirklichkeit, lieber Gregor," versetzte
über,- "" schmerzlich läclelnd, „hier, fasse meine Hand,
i„ Dich — ja , Gregor, wir haben uns Beide
daß ./'sststu Jahren verändert, und ich am wenigsten so.
Dir Freude bereiten könnte, wie Dein Anblick
fasO^cbwr, armer Charles," hob Gregor nunmehr gc-
Sm,.' cm,und ergriff Stocton's beide Hände, „welche
gtiu, "c sind über Dich hingerast! Wie mußt Du
"en haben!"
^dn/Zsst Gregor, schwer gelitten, und am schmerzlichsten
Nun, "aß ich bisher vergeblich nach Marianne und
bell,'- pudern forschte. Dein Name und der Thus-
führten mich in den Cirkus; als ich Dich sah,

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für ewig schloß; hättest Du sie gehört, wie sie in Todes-
angst mir, der selber dem Knabenalter kaum entwach-
sen, ihr Kind anvertraute, Du würdest seinen Namen
nur mit Abscheu aussprechen. Ja, auch nach ihm will
ich suchen, und lebt er noch — die Kunde von seinem
Tode mag ebenfalls erlogen sein — so finde ich ihn,
gleichviel wo nnd wie. Dann aber will ich ihm sein
Kind als Kunstreiterin Porstellen; in das entsetzt lau-
schende Ohr will ich ihm schreien, daß er eine Heilige
mordete. Ich will ihm die Worte zuschreien, mit
welchen die arme Dulderin sterbend ihm verzieh; Rechen-
schaft will ich ihm darüber ablegen, wie ich mein vor
Edith abgelegtes Gelübde erfüllte. Und windet er sich
in Todesqualen, drängt Neue ihm die gräßlichsten Flüche
für sich selbst über die Lippen, dann will ich Hohn-
lachen —"
„Nein, Gregor, so weit würdest Du Deinen blinden
Haß nicht treiben," fiel Sto.ton erschüttert ein, „Du
würdest nicht vergessen, daß er des lieben schönen Kin-
des Vater, jede feindselige Handlung gegen ihn ihren
Schatten auch auf Thusnelda würfe. Suche immerhin
zu sühnen — und eS beängstigt mich fast die Willens-
kraft, mit welcher Du einem Dir vorschwebeuden Ziele
zustrebst — aber sühne in einer Weise, die nicht ge-
eignet ist, das Gemüth Deines lieblichen Schützlings zu
vergiften. Erwäge, was zügelloser Fanatismus in
jungen Jahren sündigte — und wenn Jemand darunter
litt, so bin ich cs gewiß — das muß nicht noth-
gedrungen im Alter seine Fortsetzung finden. Und dann,
Gregor, breche nicht mit unerbittlicher Strenge den
Stab über einen Todten."
„Ob todt oder lebendig," erwiederte Gregor, finster
Vor sich nicderstarrcnd, „breche ich den Stab' über ihn,
so ist es gerechtfertigt. Was ich selbst durch seine
Schuld zu tragen gezwungen war, die ununterbrochene
Sorge und Angst um das mir anvertraute Kind, das
Entsagen meiner ersten mannhaften Träume, ich rechne
es heut nicht mehr; der Erfolg, der mein treues Stre-
ben begleitete, ward mir ja zum reichen Lohn. Aber
Edith, Edith, was an ihr gesündigt wurde, kann nim-
mermehr ausgeglichen werden, cs fordert Vergeltung.
Getragen von einer solchen Uebcrzeuguug, entschied ich
mich für unseren jetzigen Beruf, und zwar weniger aus
Neigung zu einem abenteuerlichen Leben, oder weil ich
in uns Beiden die entsprechenden Fähigkeiten entdeckte,
als um eine uuübersteigliche Scheidewand zwischen uns
nnd allen unseren Verwandten zu errichten, die bereits
begonnen hatten — wer, das weiß ich nicht — Nach-
forschungen nach Thusnelda anzustellen. Und als ich
erst die mit dem neuen Beruf verbundenen Gefahren
in ihrem ganzen Umfange kennen lernte, da war es
zur Umkehr zu spät. Und Gefahren birgt er in sich,
große, schwere Gefahren. Wohl ist er sür uns Beide
eine Quelle nicht allein reicher Einnahmen, sondern
auch zahlloser Triumphe und einer inneren Befriedi-
gung geworden; andererseits aber vergeht kein Tag,
an welchem ich nicht mit Grauen der Möglichkeit ge-
denke, Thusnelda mit zerschmetterten, zuckenden Glie-
dern vor mir liegen zu sehen, und diese Qual ist nicht
zu unterschätzen. Und kein Mittel, solche Gefahren auf
ein geringeres Maß zu beschränken, gibt cs. Die Lust
an wildem Reiten steigert die Verwegenheit, und in
dieser ersticken alle Ncbcnrücksichteu. Jeder neue Ritt
ist ein S'.icleu mit dem Tode - nnd selbst darin liegt
ein unheimlicher Reiz — es schwindet der letzte Ge-
danke an die Möglichkeit eines Mißgriffs oder Fehl-
trittes, oder, was das Entsetzlichste, cincs jähen Endes
im funkelnden Flitterstaat. Begeisterung treibt zu den
äußersten Anstrengungen, zu den gewagtesten Versuchen.
Bei Thusnelda erleidet dieselbe keine Unterbrechung.
Ich dagegen — mit heimlichem Beben trete ich jedes-
mal an die gemeinschaftliche Aufgabe heran. Erst wenn
ich den glatten, beweglichen Boden unter mir fühle,
der heiße Athcm der Pferde dem meinigen begegnet,
legt cs sich wie ein Rausch um meine Sinne. Vor
Wonne möchte ich laut aufjauchzcn; es steigert sich die
wilde Lust, bis ich Thusnelda die Manöge wohlbehal-
ten verlassen sehe und sie lachend in meinen Augen
nach einem Zeichen der Befriedigung sucht. Daun
aber beginnen meine Sorgen auf'S Neue. Abspannung
bemächtigt sich meiner, als ob wir im letzten entschei-
denden Augenblick von einem Abgrunde zurückgcrissen
worden wären, und dies vor Thusnelda zu verheim-
lichen, gehört gewiß nicht zu meinen leichtesten Auf-
gaben. Was. hilft mir der Beifall, was das Geld,
welches wie aus einem Füllhorn auf uns hereinströmt?
Was hilft mir die eigene Sicherheit? Wie ein Ge-
spenst schwebt es nur vor in unbestimmten Formen,
und je älter ich werde, um so grauenhafter erscheint
es mir, um so verbitterter fühle ich mich sogar in dcu
sorglosesten Stunden. Und dies Alles, Charles, Alles
hätte mir erspart werden können. Und Anderes trctt
noch hinzu, was mich von Tag zu Tag tiefer be-
unruhigte. Indem Thusnelda nach jeder Richtung hin
sich holdseliger entwickelte nnd endlich zur Jungfrau
heranreiftc, fiel mir schwer auf die Seele, daß ihre
Schönheit, ihre unvergleichliche Anmuth zu öffentlichen
Schaustellungen ausgeuutzt wurden. Denn es unter-
 
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