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Hrst r. JUustrstrte Fnmilien-Deitnng. Zahrg. ms.




Sie spielte noch immer leise fort, aber ihr Haupt
sank gegen den Notenständer und blieb dort mit allen
seinen Traumen ruhen.
Eine Hand legte sich ans ihre Schulter, Marie
fuhr auf, Gertrud v. Niren stand neben ihr,
„Bist Du so traurig?" fragte sie theilnchmend.
„Tn thust mir leid, Marie, Wie kann man Dich be-
neiden! Was fehlt Dir?"
„Breie —"
„Soll ich sie rufen?" fragte Gertrud schnell zurück-
tretend,
„O nein!" Marie ergriff die Hand des jungen,
ernsten Mädchens. „Bleibe! Ich kann Linie jetzt
nicht sehen. Es ist, als hätte sie mir wehe ge-
than,"

„Bleibst Du noch länger hier als bis Ostern,
Marie?"
„Bis zum Oktober. Dann will Tante nach Berlin
ziehen,"
„Dort wohne ich ja auch mit meiner Mutter."
„Ich besuche Dich. Darf ich?"
„Aber cs ist sehr einfach bei uns," fiel Gertrud
ruhig ein. „Wir sind ärm."
„Und doch bist Du hier-"
„Ein Freund meines Batcrs, mein Bormund jetzt,
läßt mich auf seine Kosten ausbilden, damit ich später
mir mein Brod selbst verdienen kann."
„Wie heißt er?"
„Professor Richard Lohmann. Er ist ein bekannter
Gelehrter."
„Du schuldest ihm Dank für seine
Güte."
„Vielen Dank. Als mein Vater
starb, und meine Mutter uun ans ihre
kleine Wittwenpension angewiesen war.
juchte der Professor uns eines Tages
auf und bot seine Hilfe an. Er ist
gütig von Natur, aber sehr ernst und
schweigsam, lind wenn er tadelt, sei
cs durch cin Wort oder eine Miene
nur, so thut das sehr weh."
„Er muß Dich doch lieb haben, wenn
er für Dich sorgt," fiel Marie ein.
„Lieb? Er hat wohl Niemand
lieb. Nein, er war der Freund meines
Vaters und bemitleidete meine Mutter,
das ist Alles. Wenn ich mich seiner
Güte unwürdig zeigte, würde er mich
ohne Gnade fallen lassen. Was läge
ihm daran, ob ich unterginge! Und
nun wirst Tu wissen, weshalb ich mit
eisernem Fleiß stets nach den besten
Zeugnissen ringe sie werden ihm
vorgelegt; weshalb ich ven dem Ta-
schengeld, welches er mir ausgesetzt
hat, keinen Pfennig ohne dringende
Notwendigkeit anSgcbe. Die Abrech-
nung muß ich aufstellcn und ihm gleich-
falls vorlegen. Ter Ueberschuß kommt
meiner Mutter zu gut. Ich habe also
doppelte Ursache, mich thunlichst ein-
zuschränken."
„Ich bewundere Dich, Gertrud!"
ries Marie, mit schüchterner Innig-
keit das junge Mädchen betrachtend.
Gertrud lächelte. „Ich denke, Du
bewunderst Lucie?"
Marie sprang auf und fiel ihr
nm den Hals. „Dich konnte ich lie-
ben - sie nie!" —
Zu Ostern wurden alle drei Pen-
sionärinnen eingesegnct. Selten sah
man so gänzlich verschiedene junge
Mädchen auf derselben Altarstufe
knieen.
Lucie v. Trcfflingen in ihrem mo-
disch gearbeiteten wcißseidcnen Kleide,
mit dem leuchtenden Farbenfpiel ihres

'n s. . -i , I

Kainpse mit dem Bösen. Nach einem Gemälde von R. Stredel. <S. 35)


Die goldene Gans.
Roman
Georg Kartwig.
^Fortsetzung.)
-- ^Nachdruck verboten.)
enken Sie an mich!" fuhr Valer ba-
risius zu Marie fort. „Und wenn Sic
dies thun, so glauben Sie, daß es
doch noch Vereinzelte gibt, die das
Wahre vom Schein unterscheiden ge-
lernt haben."
Sie begriff den
Sinn dieser Worte
nicht. Aber das eigenthümlich wohl-
lautende Organ des Sprechenden
schmeichelte ihrem Ohr.
Er reichte ihr die Hand. „Ob wir
uns je Wiedersehen werden?"
„Weshalb nicht?" Der Blick seiner
dunklen Augen verwirrte sie.
„Die Erde ist groß wie die Hoff-
nung."
Er ließ ihre Rechte fahren und
ging hinaus. —
Ain nächsten Tage kehrte Marie
in die Pension zurück. Während sie
in den Eisenbahnwagen stieg, flüsterte
Rolph ihr hastig zu: „Willst Du an
Lucie v. Tresflingen einen Gruß von
mir bestellen?"
Als sie errothend nickte und anf-
schaute, sah sie den Blick Valer's ver-
ständnißvoll auf sich ruhen.
Noch ehe der Zug den Bahnhof
verlassen hatte, lehnte Marie sich in
die äußerste Ecke des Coupö's und,
ihrer Gefühle selbst unbewußt, schlug
sie beide Hände vor ihr Antlitz und
weinte
Obwohl es ihreinenheftigen inneren
Kampf kostete, richtete sie doch den auf-
getragenen Gruß pflichtgctren aus-
Sie verstand das Widerstrebende
in ihrem Herzen nicht.
Lucie lachte und tänzelte trällernd
hinaus.
Als es im Gemach dämmerig zu
werden anfing, setzte sich Marie aills
Klavier und begann zu spielen. An
ihrem Geiste zogen alle Bilder der
Vergangenheit vorüber. Sie sah die
Gräber ihrer Eltern im Mondcnschein
unter Jmmergrünranken und das
schwarz beworfene Grab des Ober-
försters; und neben dein letzteren das
Antlitz deS Einzigen, welcher die Waise
lieb gehabt hatte und jetzt auch nichts
mehr von ihr wissen mochte.
 
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