Heft 2.
sowie aus dm jungen Löwen „Rußland", „Eaprice",
„Milia", „Charly", „Prinzeß" und „Tina". Mit
dieser Gruppe trat sie Anfangs 1891 ein Engage-
ment im Cirkus Salamonsky in Moskau an, wo
„Nero" am 7. April wieder einmal recht dumme
Streiche machte. Er wurde Plötzlich rebellisch und
ließ sich auf keine Weise bewegen, über eine Barriere
zu springen, wie es Miß Senide verlangte. Er hatte
sich in eine Ecke des Käfigs an's Gitter gel rückt, sah
seine Gebieterin mit drohenden Augen an und wedelte
nervös mit dem Schweif. In der Arena stand beim
Käfig der Thierbändiger Karl Beckmann. Als er den
Ungehorsam des Löwen bemerkte, ergriff er eine Eisen-
stange und wollte mit derselben den Löwen zum Sprunge
zwingen. Allein in diesem Augenblick warf sich das
wüthende Thier auf Senide, riß sie auf den Boden
des Kä^gs und schlug ihr seine Zähne in die rechte
Seite Die Thierbändigerin schrie laut auf. Das
Publikum War in eine unbeschreibliche Aufregung ge-
rathen, mehre Damen fielen in Ohnmacht. In diesem
kritischen Moment riß Karl Beckmann die Thür des
Käfigs auf, stürzte in denselben und versetzte dem
Löwen mit der Eisenstange einen starken Hieb auf den
Kopf. Das Thier ließ sofort sein Opfer los. Beck-
mann benutzte die momentane Verwirrung des Löwen,
stieß die halbohnmächtige Senide aus dem Käfig und
sprang ebeusalls hinaus. Die Vorstellung wurde unter-
brochen. Ein Arzt fand sich sofort unter den Zu-
schauern und reichte der Verletzten die erste ärztliche
Hilfe. Senide hatte eine aufgcrissene Wunde von den
Zähnen und drei Schrammen von den Krallen des
Löwen an der rechten Seite erhalten. Zum Glück
waren die Verletzungen ungefährlich, und Senide
wurde zur Beruhigung des Publikums bald in die
Arena herausgesührt. Sie sah bleich aus und ihr
Kostüm war an der rechten Seite zerrissen und blut-
besteckt. Sie dankte jedoch lächelnd dem Publikum für
dessen enthusiastischen Applaus. —
Nicht Jeder freilich ist so glücklich wie die schöne
Senide, und ab und zu muß ein Bändiger sogar das
Leben lassen. Fräulein Van der Burg wurde in der
Alhambra in London von einem Tiger zerrissen, und
der Spanier Luccas fiel ini Hippodrom zu Paris unter
den Klauen der Löwen; Bertha Baumgarten (geb.
1868 in Prag) wurde 1888 in Hohenmauth in Mähren
von einem bengalischeu Königstiger, Robert Müller
(geb. 1858 in Grimma) am 29. April 1889 in Asti
von dem Löwen „Prinz", die Nouma-Soulet (geb.
1861 in Nsniäres) am 26. November 1886 in Verviers
von dcm Löwen „Brutus", Wilhelm Schanda am
16. April 1888 in Welwarn in Böhmen, Eniil Schlüpfer
am 15. Juni 1886 in Pirmasens, und endlich August
Hempel am 2. Juli 1889 in Steyr gleichfalls von
Löwen zerrissen. Letzterer war der Sohn der berühmten
Vatty-Hcmpel (geb. am 8. September 1826 zu Greiffen-
hagen in Pommern; gestorben am 7. Mai 1885 in
Berlin).
Der jüngste Unglücksfall dieser Art trug sich am
15. Juli 1891 in der Menagerie Bridgman zu Gunnis-
lake in England zu, wo der unter dem Namen „Ka-
pitän Eordona" bekannte Löwenbändiger Thomas
Bridgman von dem Löwen „Wallace" in Stücke ge-
rissen wurde. „Wallace" hatte während der Hebungen,
die Eordona am Sonntag mit seinen Löwen voruahm, zu
wiederholten Malen Beweise seiner Bösartigkeit gegeben.
Während die vier anderen Löwen, durch die Peitsche
Cordvna's in Schranken gehalten, in einen Nachbar-
käfig eiutraten, zog sich „Wallace" in eine Ecke seines
Käfigs zurück. In diesem Augenblick wandte Eordona
den Kopf und vergaß einen Moment, das bösartige
Thier zu beobachten. Mit einem wilden Sprunge stürzte
sich der Löwe auf seinen Herrn, warf ihn mit seinen
Tatzen zu Boden und drückte seine Krallen in dessen
Fleisch. Die Zuschauer brachen in ein wildes Geschrei
aus, was den Löwen noch mehr zu erbittern schien.
Eordona bewahrte geraume Zeit seine Kaltblütigkeit
und wehrte sich so gut es ging. Als er um Hilfe
rief, geschah etwas ganz Unerhörtes. Die vier an-
deren Löwen liefen ans ihrem Käfig herbei, stürzten
sich auf „Wallace" und vertheidigteu ihren Herrn gegen
das wilde Thier. Hätten die Menageriewärtcr, welche
mit eisernen Stangen auf die Löwen einschlugen, die
Thiere nicht unnöthig gereizt, so wäre Eordona vielleicht
gerettet worden. In der Aufregung dachte jedoch Nie-
mand daran, die Pforte des Käfigs zu öffnen, und
so wurde Thomas Bridgman vom Löwen „Wallace"
buchstäblich zerstückelt. —
Es ist nun sehr merkwürdig, daß diese wilden
Thiere, die selbst ihren Herrn zerreißen, ungemein
furchtsam sind, wenn sie zufällig einmal ihre Freiheit
erlangen, was schon ziemlich oft vorgekommen ist.
Diese eigenthümliche Erscheinung dürfte mit dem Ver-
lust des Instinkts Zusammenhängen, den die Thiere in
der Gefangenschaft erleiden. Sie haben sich daran
gewöhnt, von Menschen bedient zu werden, von ihnen
Speise und Trank zu erhalten, sie haben verlernt, sich
selbst zu ernähren. Wohl lebt in ihnen noch ein dunkler
Freiheitsdrang, aber wenn sie plötzlich die Freiheit
Das Buch für Alle,
erlangen, wissen sie mit derselben nichts anzufangcn,
sie werden verblüfft, scheu und verkriechen sich ängstlich
in irgend einem Versteck.
Es ist oft vorgckommen, daß Löwen und Tiger,
deren Käfige offen standen, zwar hin und wieder den
Kopf heranssteckten und sich verdutzt umsahen, aber
dann schleunigst wieder in ihre Ecke znrückkrochen.
Auch beim Umsetzen der wilden Thiere kann man diese
Erfahrung machen; dieselben können oft nur mit Ge-
walt aus ihrem kleinen, engen Käfig in einen hohen,
luftigen Bau gebracht werden.
Während ich also die unglaubliche Schüchternheit
der entsprungenen Ranbthiere auf den Verlust des
Instinkts zurückführe, hat in allerneuester Zeit der
französische Augenarzt Motais eine andere Erklärung
dafür; er behauptet, daß die in Gefangenschaft lebenden
Tiger, Löwen, Panther u. s. w. kurzsichtig seien.
Diese merkwürdige Thatsache will der Arzt durch seine
Untersuchungen an großen Raubthieren zahlreicher
Menagerien festgestellt haben Wie man sich denken
kann, hat er sich bei seinen Untersuchungen nicht der
gewöhnlichen Hilfsmittel bedienen können. Er war
auf den Augenspiegel allein angewiesen und auch diesen
konnte er nur aus der Entfernung von 70 bis 80 Cen-
timetern auwenden. Auch unter diesen Umständen
kostete es in manchen Fällen den anwesenden Bändiger
Mühe genug, seine Kostgänger von feindseligen Kund-
gebungen gegen den fremden Mann abzuhalten, der
sich ihnen lästig machte, indem er ihnen blendende
Lichtstrahlen in die Augen warf. Doktor Motais be-
hauptet aber, trotz der Schwierigkeiten zu sicheren Er-
gebnissen gelangt zu sein. Jur natürlichen Zustande
sind nach seiner Angabe alle großen Ranbthiere weit-
sichtig. Wenn sie jedoch noch sehr jung gefangen wer-
den oder in der Gefangenschaft zur Welt kommen, sind
sie fast ohne Ausnahme kurzsichtig. Bon neun in der
Gefangenschaft geborenen Löwen waren sechs kurzsich-
tig, ebenfalls zwei Panther und einige Tiger, die im
Alter von einem Monate bis sechs Wochen gefangen
wurden.
Und weshalb werden die Thiere kurzsichtig"? Aus
demselben Grunde wie die Menschen: durch das Stu-
diren. Der Bündiger, der sie zu den üblichen Kunst-
stücken abrichtet, steht im engen Käfig ganz nahe vor
ihnen, und sie müssen ihn und die Gegenstände, die
bei ihren Vorführungen eine Rolle spielen, die Reifen,
durch die sie springen, die Holzblvcke, über die sie
setzen u. s. w., in's Äuge fassen, während ihr Sehwcrk-
zeug darauf eingerichtet ist, in's Weite zu spähen. Das
Auge, das nie weiter als bis zu den Enden des Käfigs
zu sehen hat, paßt sich rasch diesen neuen Bedingungen
seiner Thätigkeit an und wird kurzsichtig.
Der französische Gelelpte dürfte mit seiner Hypo-
these nicht Unrecht haben, nur möchte ich die Ursache
dieser Erscheinungen auf die senkrecht angebrachten
Stangen der Sichcrhciksgitter znrückführen, hinter
welchen die Thiere fortwährend hin und her laufen.
Würden diese Stangen in horizontaler Richtung an-
gebracht sein, so wäre vielleicht die Ursache der Augen-
leiden beseitigt. Jedermann kennt die unangenehme
Empfindung, wenn man bei Hellem Sonnenlicht einen
längeren Weg hinter einem hoben Gitter oder Stärket
zurückzulegen hat, wo schnellwechselnd Licht und Schatten
das Auge treffen. —
Ich will nun einige Beispiele anführen, aus welchen
hervorgeht, wie kläglich unbeholfen sich wilde Thiere
benehmen, wenn sie zufällig einmal die Freiheit er-
langen. Im Jahre 1861 entsprang in Hamburg, in
der Vorstadt St. Pauli, aus der Kreuzberg'schen Me-
nagerie der Löwe „Prinz" in demselben Augenblick,
wo der Fuhrmann sich anschickte, den Wagen zur Bahn
zu befördern. Auf welche Weise der Wüstenkönig seinen
Käfig verlassen konnte, ist bis heute unaufgeklärt ge-
blieben — genug, der Löwe saß plötzlich auf einem
der Zugpferde, während der Fuhrmann auf dem anderen
Platz genommen hatte. Daß er sich nicht auf den
Reiter stürzte, zeigt, daß ihm jede Berechnung abging,
wie dies auch sein tölpelhaftes Benehmen im weiteren
Verlauf der Sache zeigt. Der Löwe hatte sich vollständig
im Nacken des Pferdes fcstgcbissen und beachtete andere
Vorgänge um sich herum nicht. Der Fuhrmann stieg
schnell vom Gaul, schirrte diesen aus und begann nun
niit Stricken den Löwen regelrecht zu fesseln. Hätte
das Thier in der Gefangenschaft nicht jede Thatkraft
verloren, so wäre es um den Fuhrmann geschehen ge-
wesen, so aber konnte dieser noch einige beherzte Leute
herbeirufen und dem Löwen noch einen Strick um den
Hals werfen, worauf Alle an demselben so lange
zerrten, bis das Thier erwürgt vom Pferde fiel. Wären
einige Menageriediener znr Hand gewesen, dieselben
hätten gewiß mit Leichtigkeit den Löwen in seinen Käfig
zurückgebracht.
Im Jahre 1870 befand sich die Menagerie Hugo
Winkler in Goldberg in Schlesien. Es war gerade
stütterungszeit, und auch der große Löwe sollte sein
Theil erhalten, als sich das Fleischstück zu groß er-
wies, um durch die Gitterstäbe oder uuter dem Gitter
durchgesteckt werden zu können. Da man gerade kein
47
Messer bei der Hand hatte, um das Fleisch zu theilen,
so versuchte mau, es denk Thiere durch die Gitterthür
;u reichen, indem man dieselbe etwas hoch schob. Der
Löwe, auf das Fleisch begierig, stieß mit dem Kopfe
gegen das Gitter, wodurch das Fleisch zurückgeschoben
wurde und zur Erde fiel. Voller Begier drängte der
Löwe nach, sein mächtiger Kopf schob sich in die Oeff-
uuug, hob das Schiebegitter, und während sich Wink-
ler nach dem Fleische bückte, sprang das Thier mit
mächtigem Satze über den Bändiger hinweg ins Freie.
Der Löwe gelangte auf die Straße und spazierte in
einen Mctzgerladen, dessen Geruch ihn anzog; der
Mcnageriebesitzer folgte dem Flüchtling auf dem Fuße
und schlug die Ladenthür zu. Allein der Löwe ent-
kam durch ein Hinterfenstcr und sprang in seiner Angst
in einen Keller, der mit Steingutwaaren gefüllt war.
Winkler klappte schnell die Thüre zu, und das Thier
war gefangen. Mittelst eines schnell herbeigeschaffteu
Ilmsetzkastens wurde der Ausreißer bald iu seinen Käfig
zurückgebracht; der Menageriebesitzer aber bekam eine
schwere Rechnung für zerbrochene Steingutwaaren.
Demselben Meuageriebesitzcr brannte 1877 in Kasan
ein Löwe durch. Die Wagen standen znr Abfahrt be-
reit, als ein Pferd ausschlug und die Holzwand eines
derselben zertrümmerte Durch die entstandene Oeffuung
drängte sich ein großer Lölve und stürzte sich auf eines
der Pferde. Während nun die Kutscher die Bestie er-
folglos durchbläuten, griffen die großen Wolfshunde,
die jede Menagerie mit sich führt, den Löwen an und
verscheuchten ihn von den« Pferde. Er flüchtete durch
die Straßen der Stadt, immer verfolgt von den starken,
äußerst bissigen Hunden, nnd gerieth endlich in einen,
von einer Plauer umschlossenen Garten. In seiner
Angst versuchte der Löwe die Plauer zu überspringen,
gerieth aber ans ein Gartenhaus, dessen Dach unter
der Wucht seines schweren Körpers zusammenbrach.
Kläglich nach Kahenart miauend, verkroch er sich in
eine Ecke des zertrümmerten Gebäudes und schlüpfte
gern in den Umsetzkasten, den man schnell herbeigebracht
hatte.
Dieser Umsetzkastcn ist ein kleiner, tragbarer, aber
sehr stark gebauter Käfig, mit einem Ziehgitter ver-
sehen, den man beim Umsetzen der Thiere an den
Hauptkäfig hängt und dann jene hincintccibt, woraus
man sofort das bis dahin offene Gitter fallen läßt
Oftmals erfordert es lange Zeit, ehe ein Thier die
neue Wohnung zu beziehen sich bequemt; wenn es aber
gewaltsam aufgescheucht wird, dann kann es Vorkommen,
daß es mit einem mächtigen Satze in den Kasten springt,
dessen Eisenangeln unter der Wucht des Anpralls dann
brechen. So geschah es 1863 in der Kreuzberg'schen
Menagerie zu Schwerin, die dort auf dem Schloß-
platze Aufstellung genommen hatte. Ein Jaguar, ein
sehr starkes und inuthiges Raubthier, sollte umgesetzt
werden. Mit einem gewaltigen Sprunge warf er sich
in den Kasten, welcher zu Boden stürzte und dem
Jaguar die Freiheit gab. Eine herrlichere Gelegenheit
zum Entweichen, wie sie sich hier bot, kann man sich
kaum denken; der Jaguar brauchte nur einige Sätze
zu machen, und er befand sich in dem weiten, mit
mächtigen uralten Bäumen bestandenen Schloßgarten,
dcm sich wiederum ein meilenlanges Wald- und Seen-
gebiet anschließt. Hier hätte sich das Raubthier be-
quem auf die Bäume flüchten und Menschen und Thiere
anfallen können. Aber nichts von alledem geschah.
Der Jaguar lief bis zur Schloßbrücke, kauerte sich iu
der Mitte derselben nieder unb schaute sich ängstlich
und verlegen um. Der Großherzog Friedrich Franz II.,
welcher vom Schlosse aus die Flucht des Thieres be-
merkt hatte, eilte in die Schloßwache und befahl zwei
Jägern, die er vor das Portal des Schlosses stellte,
sofort auf den Jaguar Feuer zu geben, sobald dieser
sich vom Platze rühre. Der schnell herbeigerufene
Menageriebesitzer bat die Soldaten, wenigstens nicht zu
schießen, wenn er und seine Leute mit dem Einfangcn
des Thieres beschäftigt seien und dieses sich nach der
Menagerie zu bewegen sollte. Plan brachte hieraus
eine große Plane herbei und versuchte damit den Jaguar
zu überdecken. Dieser sah auf einer Seite die schuß-
bereiten Soldaten, auf der anderen den See und auf
der dritten die Menagerie, die mit ihren Wagen und
Kasten Schlupfwinkel in Menge darbot. Dort schien
es ihm am sichersten zu sein, und er trollte sich denn
auch richtig in die Menagerie, verkroch sich hier unter
einem Packwagen und wurde mit Leichtigkeit wieder
in seinen alten Käsig befördert.
Aus der Winkler'schen Menagerie entsprangen 1878
bei Poltawa zwei Leoparden, deren Käsige sich bereits
auf dem Eisenbahnwagen befanden. Beim Rangiren
stieß die Deichsel eines zweiten Käfigwagens au den
der Leoparden, zertrümmerte die Vordcrwand, und durch
das entstandene Loch schlüpften die Ranbthiere in's
Freie, in den nahe gelegenen Wald. Man hätte nun
annehmen sollen, die Bäume wären ihr Element ge-
wesen, auf diesen hätten sie sich lauge Zeit verbergen
können. Nein! Der eine Leopard hockte auf einem
freien Rasenplatz, ließ sich ruhig die Schlinge um den
Hals werfen und nach Hause ziehen, während man
sowie aus dm jungen Löwen „Rußland", „Eaprice",
„Milia", „Charly", „Prinzeß" und „Tina". Mit
dieser Gruppe trat sie Anfangs 1891 ein Engage-
ment im Cirkus Salamonsky in Moskau an, wo
„Nero" am 7. April wieder einmal recht dumme
Streiche machte. Er wurde Plötzlich rebellisch und
ließ sich auf keine Weise bewegen, über eine Barriere
zu springen, wie es Miß Senide verlangte. Er hatte
sich in eine Ecke des Käfigs an's Gitter gel rückt, sah
seine Gebieterin mit drohenden Augen an und wedelte
nervös mit dem Schweif. In der Arena stand beim
Käfig der Thierbändiger Karl Beckmann. Als er den
Ungehorsam des Löwen bemerkte, ergriff er eine Eisen-
stange und wollte mit derselben den Löwen zum Sprunge
zwingen. Allein in diesem Augenblick warf sich das
wüthende Thier auf Senide, riß sie auf den Boden
des Kä^gs und schlug ihr seine Zähne in die rechte
Seite Die Thierbändigerin schrie laut auf. Das
Publikum War in eine unbeschreibliche Aufregung ge-
rathen, mehre Damen fielen in Ohnmacht. In diesem
kritischen Moment riß Karl Beckmann die Thür des
Käfigs auf, stürzte in denselben und versetzte dem
Löwen mit der Eisenstange einen starken Hieb auf den
Kopf. Das Thier ließ sofort sein Opfer los. Beck-
mann benutzte die momentane Verwirrung des Löwen,
stieß die halbohnmächtige Senide aus dem Käfig und
sprang ebeusalls hinaus. Die Vorstellung wurde unter-
brochen. Ein Arzt fand sich sofort unter den Zu-
schauern und reichte der Verletzten die erste ärztliche
Hilfe. Senide hatte eine aufgcrissene Wunde von den
Zähnen und drei Schrammen von den Krallen des
Löwen an der rechten Seite erhalten. Zum Glück
waren die Verletzungen ungefährlich, und Senide
wurde zur Beruhigung des Publikums bald in die
Arena herausgesührt. Sie sah bleich aus und ihr
Kostüm war an der rechten Seite zerrissen und blut-
besteckt. Sie dankte jedoch lächelnd dem Publikum für
dessen enthusiastischen Applaus. —
Nicht Jeder freilich ist so glücklich wie die schöne
Senide, und ab und zu muß ein Bändiger sogar das
Leben lassen. Fräulein Van der Burg wurde in der
Alhambra in London von einem Tiger zerrissen, und
der Spanier Luccas fiel ini Hippodrom zu Paris unter
den Klauen der Löwen; Bertha Baumgarten (geb.
1868 in Prag) wurde 1888 in Hohenmauth in Mähren
von einem bengalischeu Königstiger, Robert Müller
(geb. 1858 in Grimma) am 29. April 1889 in Asti
von dem Löwen „Prinz", die Nouma-Soulet (geb.
1861 in Nsniäres) am 26. November 1886 in Verviers
von dcm Löwen „Brutus", Wilhelm Schanda am
16. April 1888 in Welwarn in Böhmen, Eniil Schlüpfer
am 15. Juni 1886 in Pirmasens, und endlich August
Hempel am 2. Juli 1889 in Steyr gleichfalls von
Löwen zerrissen. Letzterer war der Sohn der berühmten
Vatty-Hcmpel (geb. am 8. September 1826 zu Greiffen-
hagen in Pommern; gestorben am 7. Mai 1885 in
Berlin).
Der jüngste Unglücksfall dieser Art trug sich am
15. Juli 1891 in der Menagerie Bridgman zu Gunnis-
lake in England zu, wo der unter dem Namen „Ka-
pitän Eordona" bekannte Löwenbändiger Thomas
Bridgman von dem Löwen „Wallace" in Stücke ge-
rissen wurde. „Wallace" hatte während der Hebungen,
die Eordona am Sonntag mit seinen Löwen voruahm, zu
wiederholten Malen Beweise seiner Bösartigkeit gegeben.
Während die vier anderen Löwen, durch die Peitsche
Cordvna's in Schranken gehalten, in einen Nachbar-
käfig eiutraten, zog sich „Wallace" in eine Ecke seines
Käfigs zurück. In diesem Augenblick wandte Eordona
den Kopf und vergaß einen Moment, das bösartige
Thier zu beobachten. Mit einem wilden Sprunge stürzte
sich der Löwe auf seinen Herrn, warf ihn mit seinen
Tatzen zu Boden und drückte seine Krallen in dessen
Fleisch. Die Zuschauer brachen in ein wildes Geschrei
aus, was den Löwen noch mehr zu erbittern schien.
Eordona bewahrte geraume Zeit seine Kaltblütigkeit
und wehrte sich so gut es ging. Als er um Hilfe
rief, geschah etwas ganz Unerhörtes. Die vier an-
deren Löwen liefen ans ihrem Käfig herbei, stürzten
sich auf „Wallace" und vertheidigteu ihren Herrn gegen
das wilde Thier. Hätten die Menageriewärtcr, welche
mit eisernen Stangen auf die Löwen einschlugen, die
Thiere nicht unnöthig gereizt, so wäre Eordona vielleicht
gerettet worden. In der Aufregung dachte jedoch Nie-
mand daran, die Pforte des Käfigs zu öffnen, und
so wurde Thomas Bridgman vom Löwen „Wallace"
buchstäblich zerstückelt. —
Es ist nun sehr merkwürdig, daß diese wilden
Thiere, die selbst ihren Herrn zerreißen, ungemein
furchtsam sind, wenn sie zufällig einmal ihre Freiheit
erlangen, was schon ziemlich oft vorgekommen ist.
Diese eigenthümliche Erscheinung dürfte mit dem Ver-
lust des Instinkts Zusammenhängen, den die Thiere in
der Gefangenschaft erleiden. Sie haben sich daran
gewöhnt, von Menschen bedient zu werden, von ihnen
Speise und Trank zu erhalten, sie haben verlernt, sich
selbst zu ernähren. Wohl lebt in ihnen noch ein dunkler
Freiheitsdrang, aber wenn sie plötzlich die Freiheit
Das Buch für Alle,
erlangen, wissen sie mit derselben nichts anzufangcn,
sie werden verblüfft, scheu und verkriechen sich ängstlich
in irgend einem Versteck.
Es ist oft vorgckommen, daß Löwen und Tiger,
deren Käfige offen standen, zwar hin und wieder den
Kopf heranssteckten und sich verdutzt umsahen, aber
dann schleunigst wieder in ihre Ecke znrückkrochen.
Auch beim Umsetzen der wilden Thiere kann man diese
Erfahrung machen; dieselben können oft nur mit Ge-
walt aus ihrem kleinen, engen Käfig in einen hohen,
luftigen Bau gebracht werden.
Während ich also die unglaubliche Schüchternheit
der entsprungenen Ranbthiere auf den Verlust des
Instinkts zurückführe, hat in allerneuester Zeit der
französische Augenarzt Motais eine andere Erklärung
dafür; er behauptet, daß die in Gefangenschaft lebenden
Tiger, Löwen, Panther u. s. w. kurzsichtig seien.
Diese merkwürdige Thatsache will der Arzt durch seine
Untersuchungen an großen Raubthieren zahlreicher
Menagerien festgestellt haben Wie man sich denken
kann, hat er sich bei seinen Untersuchungen nicht der
gewöhnlichen Hilfsmittel bedienen können. Er war
auf den Augenspiegel allein angewiesen und auch diesen
konnte er nur aus der Entfernung von 70 bis 80 Cen-
timetern auwenden. Auch unter diesen Umständen
kostete es in manchen Fällen den anwesenden Bändiger
Mühe genug, seine Kostgänger von feindseligen Kund-
gebungen gegen den fremden Mann abzuhalten, der
sich ihnen lästig machte, indem er ihnen blendende
Lichtstrahlen in die Augen warf. Doktor Motais be-
hauptet aber, trotz der Schwierigkeiten zu sicheren Er-
gebnissen gelangt zu sein. Jur natürlichen Zustande
sind nach seiner Angabe alle großen Ranbthiere weit-
sichtig. Wenn sie jedoch noch sehr jung gefangen wer-
den oder in der Gefangenschaft zur Welt kommen, sind
sie fast ohne Ausnahme kurzsichtig. Bon neun in der
Gefangenschaft geborenen Löwen waren sechs kurzsich-
tig, ebenfalls zwei Panther und einige Tiger, die im
Alter von einem Monate bis sechs Wochen gefangen
wurden.
Und weshalb werden die Thiere kurzsichtig"? Aus
demselben Grunde wie die Menschen: durch das Stu-
diren. Der Bündiger, der sie zu den üblichen Kunst-
stücken abrichtet, steht im engen Käfig ganz nahe vor
ihnen, und sie müssen ihn und die Gegenstände, die
bei ihren Vorführungen eine Rolle spielen, die Reifen,
durch die sie springen, die Holzblvcke, über die sie
setzen u. s. w., in's Äuge fassen, während ihr Sehwcrk-
zeug darauf eingerichtet ist, in's Weite zu spähen. Das
Auge, das nie weiter als bis zu den Enden des Käfigs
zu sehen hat, paßt sich rasch diesen neuen Bedingungen
seiner Thätigkeit an und wird kurzsichtig.
Der französische Gelelpte dürfte mit seiner Hypo-
these nicht Unrecht haben, nur möchte ich die Ursache
dieser Erscheinungen auf die senkrecht angebrachten
Stangen der Sichcrhciksgitter znrückführen, hinter
welchen die Thiere fortwährend hin und her laufen.
Würden diese Stangen in horizontaler Richtung an-
gebracht sein, so wäre vielleicht die Ursache der Augen-
leiden beseitigt. Jedermann kennt die unangenehme
Empfindung, wenn man bei Hellem Sonnenlicht einen
längeren Weg hinter einem hoben Gitter oder Stärket
zurückzulegen hat, wo schnellwechselnd Licht und Schatten
das Auge treffen. —
Ich will nun einige Beispiele anführen, aus welchen
hervorgeht, wie kläglich unbeholfen sich wilde Thiere
benehmen, wenn sie zufällig einmal die Freiheit er-
langen. Im Jahre 1861 entsprang in Hamburg, in
der Vorstadt St. Pauli, aus der Kreuzberg'schen Me-
nagerie der Löwe „Prinz" in demselben Augenblick,
wo der Fuhrmann sich anschickte, den Wagen zur Bahn
zu befördern. Auf welche Weise der Wüstenkönig seinen
Käfig verlassen konnte, ist bis heute unaufgeklärt ge-
blieben — genug, der Löwe saß plötzlich auf einem
der Zugpferde, während der Fuhrmann auf dem anderen
Platz genommen hatte. Daß er sich nicht auf den
Reiter stürzte, zeigt, daß ihm jede Berechnung abging,
wie dies auch sein tölpelhaftes Benehmen im weiteren
Verlauf der Sache zeigt. Der Löwe hatte sich vollständig
im Nacken des Pferdes fcstgcbissen und beachtete andere
Vorgänge um sich herum nicht. Der Fuhrmann stieg
schnell vom Gaul, schirrte diesen aus und begann nun
niit Stricken den Löwen regelrecht zu fesseln. Hätte
das Thier in der Gefangenschaft nicht jede Thatkraft
verloren, so wäre es um den Fuhrmann geschehen ge-
wesen, so aber konnte dieser noch einige beherzte Leute
herbeirufen und dem Löwen noch einen Strick um den
Hals werfen, worauf Alle an demselben so lange
zerrten, bis das Thier erwürgt vom Pferde fiel. Wären
einige Menageriediener znr Hand gewesen, dieselben
hätten gewiß mit Leichtigkeit den Löwen in seinen Käfig
zurückgebracht.
Im Jahre 1870 befand sich die Menagerie Hugo
Winkler in Goldberg in Schlesien. Es war gerade
stütterungszeit, und auch der große Löwe sollte sein
Theil erhalten, als sich das Fleischstück zu groß er-
wies, um durch die Gitterstäbe oder uuter dem Gitter
durchgesteckt werden zu können. Da man gerade kein
47
Messer bei der Hand hatte, um das Fleisch zu theilen,
so versuchte mau, es denk Thiere durch die Gitterthür
;u reichen, indem man dieselbe etwas hoch schob. Der
Löwe, auf das Fleisch begierig, stieß mit dem Kopfe
gegen das Gitter, wodurch das Fleisch zurückgeschoben
wurde und zur Erde fiel. Voller Begier drängte der
Löwe nach, sein mächtiger Kopf schob sich in die Oeff-
uuug, hob das Schiebegitter, und während sich Wink-
ler nach dem Fleische bückte, sprang das Thier mit
mächtigem Satze über den Bändiger hinweg ins Freie.
Der Löwe gelangte auf die Straße und spazierte in
einen Mctzgerladen, dessen Geruch ihn anzog; der
Mcnageriebesitzer folgte dem Flüchtling auf dem Fuße
und schlug die Ladenthür zu. Allein der Löwe ent-
kam durch ein Hinterfenstcr und sprang in seiner Angst
in einen Keller, der mit Steingutwaaren gefüllt war.
Winkler klappte schnell die Thüre zu, und das Thier
war gefangen. Mittelst eines schnell herbeigeschaffteu
Ilmsetzkastens wurde der Ausreißer bald iu seinen Käfig
zurückgebracht; der Menageriebesitzer aber bekam eine
schwere Rechnung für zerbrochene Steingutwaaren.
Demselben Meuageriebesitzcr brannte 1877 in Kasan
ein Löwe durch. Die Wagen standen znr Abfahrt be-
reit, als ein Pferd ausschlug und die Holzwand eines
derselben zertrümmerte Durch die entstandene Oeffuung
drängte sich ein großer Lölve und stürzte sich auf eines
der Pferde. Während nun die Kutscher die Bestie er-
folglos durchbläuten, griffen die großen Wolfshunde,
die jede Menagerie mit sich führt, den Löwen an und
verscheuchten ihn von den« Pferde. Er flüchtete durch
die Straßen der Stadt, immer verfolgt von den starken,
äußerst bissigen Hunden, nnd gerieth endlich in einen,
von einer Plauer umschlossenen Garten. In seiner
Angst versuchte der Löwe die Plauer zu überspringen,
gerieth aber ans ein Gartenhaus, dessen Dach unter
der Wucht seines schweren Körpers zusammenbrach.
Kläglich nach Kahenart miauend, verkroch er sich in
eine Ecke des zertrümmerten Gebäudes und schlüpfte
gern in den Umsetzkasten, den man schnell herbeigebracht
hatte.
Dieser Umsetzkastcn ist ein kleiner, tragbarer, aber
sehr stark gebauter Käfig, mit einem Ziehgitter ver-
sehen, den man beim Umsetzen der Thiere an den
Hauptkäfig hängt und dann jene hincintccibt, woraus
man sofort das bis dahin offene Gitter fallen läßt
Oftmals erfordert es lange Zeit, ehe ein Thier die
neue Wohnung zu beziehen sich bequemt; wenn es aber
gewaltsam aufgescheucht wird, dann kann es Vorkommen,
daß es mit einem mächtigen Satze in den Kasten springt,
dessen Eisenangeln unter der Wucht des Anpralls dann
brechen. So geschah es 1863 in der Kreuzberg'schen
Menagerie zu Schwerin, die dort auf dem Schloß-
platze Aufstellung genommen hatte. Ein Jaguar, ein
sehr starkes und inuthiges Raubthier, sollte umgesetzt
werden. Mit einem gewaltigen Sprunge warf er sich
in den Kasten, welcher zu Boden stürzte und dem
Jaguar die Freiheit gab. Eine herrlichere Gelegenheit
zum Entweichen, wie sie sich hier bot, kann man sich
kaum denken; der Jaguar brauchte nur einige Sätze
zu machen, und er befand sich in dem weiten, mit
mächtigen uralten Bäumen bestandenen Schloßgarten,
dcm sich wiederum ein meilenlanges Wald- und Seen-
gebiet anschließt. Hier hätte sich das Raubthier be-
quem auf die Bäume flüchten und Menschen und Thiere
anfallen können. Aber nichts von alledem geschah.
Der Jaguar lief bis zur Schloßbrücke, kauerte sich iu
der Mitte derselben nieder unb schaute sich ängstlich
und verlegen um. Der Großherzog Friedrich Franz II.,
welcher vom Schlosse aus die Flucht des Thieres be-
merkt hatte, eilte in die Schloßwache und befahl zwei
Jägern, die er vor das Portal des Schlosses stellte,
sofort auf den Jaguar Feuer zu geben, sobald dieser
sich vom Platze rühre. Der schnell herbeigerufene
Menageriebesitzer bat die Soldaten, wenigstens nicht zu
schießen, wenn er und seine Leute mit dem Einfangcn
des Thieres beschäftigt seien und dieses sich nach der
Menagerie zu bewegen sollte. Plan brachte hieraus
eine große Plane herbei und versuchte damit den Jaguar
zu überdecken. Dieser sah auf einer Seite die schuß-
bereiten Soldaten, auf der anderen den See und auf
der dritten die Menagerie, die mit ihren Wagen und
Kasten Schlupfwinkel in Menge darbot. Dort schien
es ihm am sichersten zu sein, und er trollte sich denn
auch richtig in die Menagerie, verkroch sich hier unter
einem Packwagen und wurde mit Leichtigkeit wieder
in seinen alten Käsig befördert.
Aus der Winkler'schen Menagerie entsprangen 1878
bei Poltawa zwei Leoparden, deren Käsige sich bereits
auf dem Eisenbahnwagen befanden. Beim Rangiren
stieß die Deichsel eines zweiten Käfigwagens au den
der Leoparden, zertrümmerte die Vordcrwand, und durch
das entstandene Loch schlüpften die Ranbthiere in's
Freie, in den nahe gelegenen Wald. Man hätte nun
annehmen sollen, die Bäume wären ihr Element ge-
wesen, auf diesen hätten sie sich lauge Zeit verbergen
können. Nein! Der eine Leopard hockte auf einem
freien Rasenplatz, ließ sich ruhig die Schlinge um den
Hals werfen und nach Hause ziehen, während man