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Neuem so lebhaft auf ihr schon vorher verstimmtes
Gemüth ein, daß sich die sie schon früher beherrschende
Idee bis zum Entschluß steigerte, den sie mit furcht-
barer Kaltblütigkeit ausführte. —
Man kann den Nachahmungstrieb, der durch Hin-
richtungen angeregt wird, geradezu zahlengemaß° be-
weisen. Aus den englischen Parlamcntsakten von 1865
geht hervor, daß kurz nach der Hinrichtung eines ge-
wissen Franz Müller fünf Mordthaten von Menschen
verübt wurden, die bei der Bollziehung der Strafe
gegenwärtig gewesen waren.
Einen interessanten Fall führt der französische Ge-
lehrte Devergie in seinem Werk „Heilkunde und Gesetz"
an. Der genannte Gewährsmann berichtet von einem
fünfundzwanzigjährigen Mann von nervösem Tem-
perament, der eines Tages einen Vatermörder zum
Richtplatz führen sah. Dieser Anblick erschütterte ihn
auf's Tiefste. Er lebte allein mit seinem Vater, den
er zärtlich liebte. Da, ganz unvermuthet, überrascht
ihn in einer Dämmerstunde der Gedanke, daß er auch
einmal in einem Augenblick geistiger Verwirrung an
seinem Vater zum Mörder werden könne. Mit der

Das Buch für Alle.
Zeit wurde dieser Gedanke so peinigend, daß er schließ-
lich von seinem Vater fortzog und nie mehr dazu zu
bewegen war, ihn zu sehen, aus Angst, daß er an ihm
zum Verbrecher werden könnte.
Im Jahre 1889 wurde in einem Arbeiterviertel
Londons ein Knabe am Treppengeländer aufgehängt
vorgefunden. Man konnte sich den Grund hierzu an-
fänglich gar nicht erklären und glaubte schließlich einen
Selbstmord annehmen zu müssen. Erst ein halbes
Jahr später kam durch einen Spielkameraden des Ver-
storbenen Licht in die dunkle Angelegenheit. Es stellte
sich nämlich heraus, daß aus dem jugendlichen Freundes-
kreis ein Knabe einer Hinrichtung beigewohnt hatte,
wo der Schuldige durch die Schlinge gestorben war.
In dem kindlichen Zuschauer hatte sich nun der Vor-
satz eingenistet, bei der ersten Gelegenheit das beob-
achtete Schauspiel zu wiederholen. Er hatte daher
eines Tages durch seine Schilderung seine Gespielen
zu einer Nachahmung zu überreden gewußt. Er selbst
hatte die Rolle des Scharfrichters übernommen, ein
zweiter Knabe hatte den Gehilfen, ein dritter den
Beichtvater dargestellt, und der Verstorbene war zum

Hrst 5.
Verurtheilten ausersehen worden. Gefragt, was ihn
zu dieser Handlung verleitet habe, wußte der Anstifter
nur zu antworten, er habe gern noch einmal „einen
Menschen so zappeln sehen m.gen".
In einem gewissen Sinne sind für die Nachahmung
der Verbrechen, wie schon angedeutet, die Zeitungen
verantwortlich zu machen. Die Genauigkeit, mit der
sie alle Einzelheiten der That schildern, der Eifer, mit
dem sie die Verdachtsgründe, die persönlichen Verhält-
nisse und die Handlungsweise des Verbrechers erörtern,
eine Behandlung, die oft fast eine gewisse Hochachtung
durchblicken läßt, die Verbreitung solcher Schilderungen
in allen Schichten und an allen Punkten in kürzester
Zeit, so daß sich die Nachrichten von Kapitalverbrechen
häufen, als wären sie ganz natürliche, alle Tage vor-
kommende, völlig belanglose Erscheinungen, stunipfen
sowohl die Empfindung der Verwerflichkeit und Schwere
der That ab, als auch reizen sie schwache und falsch
geleitete Charaktere dazu an, ebenfalls die Bahn des
Verbrechens zu betreten.
Eine wahre Mordmanie hatte auf diese Weise vor
einer Reihe von Jahren die Veröffentlichung der Vor-


dem Mlde auf Selle 128 und 129.

I. Waddington, Frankreich.
II. d- Staat, Rußland.
III. Graf Hatzfeldt, Deutschland.
IV. Rustem-Pascha, Türkei.
V. Gras Deym, Oesterreich-Un-
garn.
VI. Gras Tornielli, Italien.

VII. Marquis Casa la Jglesta,
Spanien.

1. Graf v. Bylandt, Niederlande.
2. Baron Solvyns, Belgien.
S. de Plagino, Rumänien.

Krkfärungslafel zu
4. L. Domulguez, Argentinien.
5. C. Medina, Guatemala.
6. I. Grnitsch, Serbien.
7. Or. F. Angnlo, Columbien.
8. C. Antunez, Chile.
9. Nobert T. Lincoln, Nord
amerika.

10. Mirza Mahonuncd Ali-Khan,
Persien.
11. Lew Ta-jsn, Ellina.
12. H. Akerman, Schweden.
13. de Bille, Dänemark.
14. I. Gennadios, Griechenland.
15. L. de Soveral, Portugal.

16. de Souza Correa, Brasilien.
17. M. Latortue, Haiti.
18. A. Hoffnung, Hawaii.
19. vr. A. Nin, Uruguay.
20. Don Pablo Martinez del
Campo, Mexiko.
21. Phra Dithakar, Siam.

22. M. F. Yovitschitsch (Legations-
sekretär), Serbien.

23. Sir Christopher Teesdale, Cere-
monienmeister.

gange erregt, die gelegentlich der Verhandlung gegen
eine gewisse Henriette Cornier zur Sprache gekommen
waren. An den verschiedensten Punkten Frankreichs
stellte sich plötzlich, veranlaßt durch die eingehenden
Erörterungen in der Presse, bei einer Anzahl von Per-
sonen der unbezwingliche Drang ein, die abscheuliche
Grausamkeit der Angeklagten nachzuahmen. Zum
besseren Verständniß ist es nöthig, die That der Cornier
kurz anzuführen. Henriette Cornier war eine von
ihrem Manne getrennt lebende Frau, die als Dienerin
in verschiedenen Familien sich ihren Lebensunterhalt
verdiente. Ihre letzte Stellung vor der That beklei-
dete sie bei einer Familie Tournier in Paris, die dem
Fruchthändler Belon benachbart wohnte. Eines Tages,
als ihre Herrschaft die Wohnung verlassen hatte, be-
gibt sich Henriette Cornier zu den Belon'schen Ehe-
leuten und weiß diese zu bewegen, daß sie ihr ihr
kleines Töchterchen, Fanny, zur Pflege überlassen, das
sie in ihre Behausung unter den zärtlichsten Lieb-
kosungen mitnimmt. Kaum ist sie aber hier an-
gelangt, als sie ein Messer aus der Küche holt,
das Kind auf das Bett legt und ihm den Kopf ab-
schneidet. Im Verhör gab sie an, daß sie keinen be-
sonderen Grund zur Ausführung des Verbrechens ge-
habt habe, sondern es ihr nur so in den Sim gekommen

sei, auch einmal eine solche That zur Ausführung zu
bringen.
Soweit der Fall der Cornier. Wie mächtig er
wegen seiner Unerklärlichkeit die Gemüther aufregte,
können wir aus der Thatsache ersehen, daß allein bei
dem Psychiatriker Esquirol drei Personen erschienen,
die seine Hilfe in Anspruch nehmen wollten, weil sie
einen unwiderstehlichen Drang zur Nachahmung des
Cornier'schen Verbrechens in sich verspürten.
Wenige Tage nach dem erfolgten Urtheilsspruche
kam eine Mutter von vier Kindern zu dem bei der
ärztlichen Begutachtung betheiligten Arzte, Namens
Marc, und schüttete ihm ihr Herz aus. „Ich bin,"
sagte sie, „in der schrecklichsten Lage. Seitdem ich
Kenntniß von dem Prozeß der Cornier habe, werde
ich unaufhörlich von der Begierde gequält, mein jüngstes
Kind zu tödten. Diese Begierde erreicht einen so hohen
Grad, daß ich fürchte, ihr nicht Widerstand leisten zu
können. Empfehlen Sie mich daher Ihrem Freunde
Esquirol, damit er mich in sein Hospital aufnehme."
Noch überzeugender ist ein von Lucas mitgctheilter
Fall. Ein Einwohner aus der Provinz siedelte nach
Paris über, wohin er ein zweiundzwanzigjähriges
Mädchen mitbrachte, das das älteste seiner Kinder
leidenschaftlich liebte. Sechs Monate hindurch betrug

sich das Mädchen gut, im siebenten fing ihre Gesund-
heit an zu leiden, sie wurde bleich und litt an Nerven-
zufällen. Ihr Herr, welcher» sie in Thräncn fand,
drang in sie mit Fragen, denen sie auszuweichen suchte,
erlangte aber endlich von ihr folgendes schreckliche
Geständniß. „Ich wusch," erzählte sie, „das Tisch-
geschirr, und Ihr Sohn stand mir zur Seite. Plötz-
lich stieg in mir der Gedanke auf, ihm den Kopf ao-
zuschneiden. Ich ergriff mein Hackemesser und setzte
es ihm an den Hals, er floh entsetzt, aber ich rief ihn
zurück, indem ich sagte, er solle sich nicht fürchten.
Als er sich mir genähert hatte, ergriff ich ihn von
Neuem beim Kopf und setzte ihm das Messer an den
Hals. Schon war ich im Begriff, die That auszu-
führen, als der Knabe weinte. Seine Thränen gaben
mir die Vernunft zurück, und ich warf das Hackemesser
weit weg, indem ich an die Cornier dachte. Seitdem
habe ich hundertmal das Verlangen gehabt, zu voll-
enden, was ich anfiug."
Das Mädchen wurde nun entlassen und trat bei
einer Dame in der Provinz in Dienst. Aber schon
einige Tage nachher gestand sie auch dieser, sie hege
den Wunsch, dem jüngsten Kinde ihrer Herrin den
Kopf abzuschneiden, obwohl dieser Wunsch nicht in
eine heftige Leidenschaft ausarte.
 
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