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Heft 19. D a s B u ch f ii r A l l c.

Ans Glarus.
(Siehe die 2 Bilder auf Seite 460 u. 461.)
.Glarus ist einer der kleineren Kantone der Schweiz nörd-
lieh und östlich vom Kanton St. Gallen, südlich von
Graubünden, westlich von Uri und Schwyz umschlossen. Der
gleichnamige Hauptort des Kantons hat, wie unsere Ansicht
ans L>. 461 genugsam erkennen läßt, eine großartige Lage.
Die im Hintergründe unseres Bildes emporragende kolossale
Felspyramide ist der Vorderglärnisch (2331 Nieter), südöstlich
von der Stadt, nordöstlich erhebt sich der Schilt, und nord-
westlich der Wiggis. Die Stadt selbst, weiche einen viel-
besuchten Ausgangspunkt für Hochgebirgstouren bildet und an
den Eisenbahnen^ Zürich-Linththal und Wesen-Glarus liegt,
zählt an 5400 Einwohner und ist nach einem großen Brande
im Jahre 1861 fast ganz neu aufgebant worden. Sie ist auch
industriell und merkantil der Mitteipunkt des Landes. — Gleich
den übrigen sogenannten Länderkantonen besitzt auch Glarus
eine reine demokratische Einrichtung, so daß die „Landslüt",
alljährlich zur „Landsgemeinde" versamnielt, sich selbst ihre
Gesetze geben und ihre Landesbehörden ernennen. Alljährlich
am ersten Sonntag im Mai oder an dem nächstfolgenden
schönen Sonntage findet diese „Landsgemeinde" (siehe unser Bild
auf S. 460) in Glarus statt. In Schaareu rücken die festlich
gekleideten Glarner nach dem Hauptorte ihres Kantons, der
bald von Menschen wimmelt, die sich theils uni das Rathhaus
lagern, wo sich die Führer des Volkes versammeln, theils auf den
Landsgemeindeplatz begeben, wo durch Schranken der sogenannte
„Ring" gebildet ist, in dem 7000 bis 8000 Männer Platz
finden können. Inmitten des Ringes steht die Rednerbühne,
daneben befinden sich Plätze für die Knaben bestimmten Alters,
die mit den vaterländischen Gebräuchen vertraut, gemacht wer-
den sollen, und ringsum ziehen sich amphitheatralisch ansteigende
Sitzreihen. Frauen werden innerhalb des Ringes nicht ge-
duldet. Zur bestimmten Stunde wird das Volk durch Glocken-
geläut zur Landsgemeinde gerufen, gleichzeitig naht vom Rath-
hanse her der Zug. Voran eine Abtheilung Militär, daun
ein Musikkorps, die Weibel mit dem silberbeschlagenen Stabe
und dem Schwert, die Mitglieder des Regierungs- und Land-
rathes, die Richterkollegien und die verschiedenen Gemeinde-
beamten. Wenn der Zug in den Ring eingetreten ist, und alle
stimmfähigen Männer ebenfalls ringsum Aufstellung genommen
haben, so verstummt das Glockengeläuts, und der zweite Nnths-
fchreiber verliest den sogenannten Dänibergerbrief, ein uraltes
Dokument, enthaltend eine Art Reglement für die Lands-
gemeinde. Hierauf leisten zuerst die Beamten, dann das ge-
jammte Volk entblößten Hauptes und mit emporgehobeuen
Schwurfingern den Landeseid, dessen Formel der Landammann
der Menge in Absätzen vorspricht. Demnächst eröffnet Letzterer
die Verhandlungen durch eine orientirende Rede, worauf die
einzelnen zu verhandelnden Gegenstände der Tagesordnung, wie
sie aus den Vorberathungen des Landrathes hervorgegangen und
in einem, jedem Bürger vier Wochen vor der Landsgemeinde
gedruckt zugestellten Bericht niedergelegt find, erledigt werden.
Der Landammnnn erläutert jeden Verhandlungsgegenstand
kurz und bündig, worauf die allgemeine Diskussion eröffnet
wird. Die Regierungsmitglieder sprechen immer von der
Neduerbühne, die Landsleute von ihren Plätzen ans. Nach
beendeter Diskussion resümirt der Lnndammann und bringt die
Anträge über jeden Artikel zur Abstimmung. Letztere erfolgt
durch Aufheben der Hände mit einem lauten „Heh!", an das
sich bei einstimmiger Annahme der Ruf: „Eihellig!" schließt.
Nur in sehr seltenen Fällen wird eine direkte Zählung der
Stimmen vargenommen, wobei dann Mann für Mann unter
den, Schwerte des Landammanns durchpassiren muß. Stets
herrscht eine musterhafte Ordnung in diesen Versammlungen;
noch niemals ist es in einer Glarner Landsgemeinde zu Aus-
brüchen roher Leidenschaft oder gar zu Thättichkeiten gekommen.
Sind die Geschäfte erledigt, so schließt der Landammann die
Verhandlungen und empfiehlt das „liebwertste" Vaterland
und alle Anwesenden dem Schutze Gottes, worauf der Zug
sich wieder aus das Rathhaus zurückbegibt, und das Volk sich
zerstreut.
Die niüit'nale Ausstellung iu Palermo.
n.
(Siehe das Bild auf Seite 464.)
^tkn Heft 14 bereits berichteten wir kurz über die nationale
Ausstellung in Palermo, dis nach der inzwischen erfolgten
Ausfüllung mancher Lücken sich als ungemein reichhaltig und
interessant darstellt. Mag man auch zugeben, daß die früheren
Ausstellungen in Mailand, Turin und Bologna ein voll-
kommeneres Bild von den gewerblichen Leistungen und den
Erzeugnissen Italiens geboten haben,^so darf man auch nicht
die Hindernisse übersehen, welche die Schwierigkeiten der Sen-
dungen nach deut durch die See geschiedenen Palermo einer all-
gemeineren Betheilignng in den Weg gelegt haben. Sicilien
selbst aber hat nur eine geringe gewerbliche Thätigkeit auszu-
weisen. Einen sehr großen Raum in der Ausstellung bean-
sprucht die Maschineugallerie; höchst interessant ist die Wein-
bau-Ausstellung, namentlich die Gallerte mit den Flaschen-
pyramiden der berühmten sicilianischen Weine, die unser Bild
auf S. 464 darstellt. Der Weinbau ist ja über ganz Italien
ausgedehnt, wird aber erst in wenigen Gegenden, namentlich
auf Sicilien, so rationell betrieben, daß von den jährlich im
Durchschnitt gewonnenen 22 bis 28 Millionen Hektoliter Wein
ein beträchtliches Quantum zur Ausfuhr gelangen kann. Die
Lese im Herbste 1881 hat sogar 40 Millionen Hektoliter ge-
lmert, und gleichzeitig ist der Konsum ausländischer Weine
in Italien von 312,000 auf 14,000 Hektoliter zurückgegangen.
Seit dem neuen Handelsverträge Deutschlands mit Italien,
in dem die dortigen Verschnittweine bekanntlich eine besondere
Begünstigung erfahren haben, sind alle jene Verhältnisse auch
für uns von Wichtigkeit geworden, und desh.ckb verdient die
„F-rlisria enoloAienM der Ausstellung zu Palermo besonderes
Interesse. Namentlich die Ausstellung der sicilianischen Weine

ist sehr reichhaltig; letztere zählen zu den alkoholreichsten
italienischen Weinen und werden deshalb vielfach nach dem
Auslands exporlirt, aber auch in Oberitalien zur Verbesserung
minderer Sorten benutzt, die dann als „Chianti" in den Handel
kommen. Leider liegt aber auch auf Sicilien die Weinerzen-
gung noch vielfach im Argen, was die Entwickelung des Wein-
handels sehr beschränkt und die Weine, bis auf wenige bevor-
zugte Sorten, im Anstande fast ausschließlich zur Verwendung
für den Verschnitt verurtheilt. Der berühmteste sicilianische
Wein ist der Marsala, der in der Umgegend der gleichnamigen
Stadt gebaut wird und in der Ausstellung glänzend vertreten
ist. Hervorzuheben ist ferner die landwirthschaftliche Ans-
stellung, namentlich die Abtheilung der Südfrüchte, die chemisch-
technologische Ausstellung, die interessante Darstellung der
Schwefelgewinnung, die Abtheilung der öffentlichen Arbeiten
des Staates und der Kommunen, die Ausstellung des Kriegs-
und Marineministeriums und die Ausstellung von kunstgewerb-
lichen Erzeugnissen aller Art, die wohl den Glanzpunkt des
Ganzen bildet. Die Werke der bildenden Kunst sind in einem
gesonderten Bau untergebracht.

Miß Aorzia.
Novellette
I'ank Zrink.
- (Nachdruck verboten)
i
seinem behaglichen Junggesellenzimmer saß
an einem Augustnachmittage Mr. John Abery,
ein schlanker junger Mann, dessen offenes,
sympathisch wirkendes Gesicht ein blonder, am
Kinn zugespitzter Bart umrahmte. Wahrend
' er sich bequem in seinem Schaukelstuhle streckte
und den Rauch einer großen Cigarre von sich blies,
war er damit beschäftigt, den „Advertiser von Henry
County", Welcher soeben aus der Druckerei bei ihm ab-
gegeben worden war, zu lesen.
„Alle Wetter!" rief er Plötzlich aus, vergaß ganz
seinen Schaukelstuhl und seine Cigarre und las die
Stelle, welche seine Aufmerksamkeit erregt hatte, noch
einmal und zwar laut vor sich hin: „Wir können unseren
Lesern die interessante Nachricht mittheilcn, daß Miß
Grace Bishop, ein Kind unserer Stadt, nach wohl-
bestandenem juristischem Examen sich der Advokatur zu-
gewandt hat und sich in Henry County als Sachwalterin
niederzulassen gedenkt. Wir freuen uns um so mehr
über dieses Ereigniß, als es gerade einer Dame aus
unserer Stadt vergönnt war, als Erste auf dem noch
nicht lange dem Frauenstudium zugänglich gemachten
Gebiete der Jurisprudenz so schöne Früchte zu
ernten."
John Abery warf die Zeitung fort, sprang vom
Stuhle auf und begann in heftiger Erregung in seinem
Zimmer auf und ab zu gehen. Da klopfte es plötzlich,
die Thür öffnete sich und herein trat ein junges Mäd-
chen, das trotz des einfachen Reiscanzuges, der ihre bieg-
same Gestalt umhüllte, einen nicht gewöhnlichen Ein-
druck machte. Dunkles Haar zierte in reicher Fülle
ihr Haupt, und der Glanz der gleichfalls dunklen Augen
zeugte von innerer Wärme. Was aber auffiel, war
der ernste Ausdruck ihres Gesichtes, der auf herbe Lebens-
erfahrungen schließen ließ.
„Grace, Du bist es?" rief Abery, auf's Höchste über-
rascht.
„Jawohl, mein Lieber, Du hast mich wohl noch in
New-Zork vermuthct?"
„O nein, ich bin durch die Zeitung schon auf Dein
Kommen vorbereitet."
„So hast Du gelesen? Und was sagst Du dazu?"
„Daß mir die Sache durchaus unangenehm ist. Du
weißt, daß ich mich nie für die Franenemanzipation
begeistert und Deinen Schritt von vornherein gemiß-
billigt habe. Daß Du Dich nun gar hier als Advo-
katin niedcrlassen willst, setzt Allem die Krone auf."
„Ich hätte eine freundlichere Begrüßung erwartet,
John, und vor Allein gehofft, daß Du Deine unmodernen
Vorurthcile aufgegeben hättest. Haben wir nicht schon
eine ganze Anzahl weiblicher Journalisten. Beamten,
Lehrer und Aerzte, die durchaus Tüchtiges leisten?
Warum sollte uns Frauen die Jurisprudenz verschlossen
bleiben? Ich meinerseits hoffe auch hierin zu zeigen,
daß Verstandesschärfe nicht nur eine Domäne der
Männer ist."
„Viel Glück zu Deinem Vorhaben, Grace, mich aber
wirst Du niemals überzeugen. Die Frau gehört nicht
auf die Straße, nicht in den Gerichtssaal,'sondern in
das Haus und die Familie!"
Grace zuckte schmerzlich zusammen. „Jn'sHauS?"
wiederholte sie in traurigem Tone, „lind wenn inan
kein Haus hat, wenn man als Waise unter fremden
Leuten ausgewachsen und auf die eigene Kraft an-
gewiesen ist. Wenn kein fühlendes Herz —"
„Grace, hast Du unsere Liebe vergessen, habe ich
Dir nicht einen eigenen Herd versprochen?"
„Versprochen? Ja! Aber Du hast keine Anstalten
getroffen, Dein Versprechen zu erfüllen. Du begnügst

4 «3
Dich damit, Dein kleines Erbtheil zu verzehren und
den vornehmen Mann zu spielen, statt zu arbeiten."
„Habe ich Dir nicht oft gesagt, Grace, daß auch
Onkel Ensley mich zu seinem Erben eingesetzt hat, daß
er alt und schwach ist, jeden Tag das Zeitliche segnen
kann, und ich dann Herr eines großen Vermögens
Werde?"
„Darauf verlässest Du Dich noch immer, John?
Das aber nenne ich unmännlich — unmännlich im
höchsten Grade. Doch magst Du immerhin in Deiner
Energielosigkeit verharren, ich habe keine Lust, auf die
Zukunft zu warten. Ich habe mich selbstständig gemacht
und werde allein weiter dnrch's Leben schreiten. Leb'
wohl, John!"
Abery's stark entwickeltes Selbstgefühl hatte durch
diese Strafpredigt einen bedenklichen Stoß erlitten.
Entgegen seiner Gewohnheit wurde er nachdenklich und
als er an's Fenster trat, um Grace nachzusehen, sagte
er halblaut zu sich: „Wirklich, Du bist doch ein recht
träger Schlingel, John, daß Du so ein resolutes, hübsches
Mädchen nicht schon längst zn Deiner Frau gemacht
hast. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät.
Beiläufig bemerkt, hat sie eine Beredtsamkeit, mit der
sie vor Gericht sicher ihr Glück machen wird. — Nein,
nein, noch ist es nicht zu spät, John, trotz Deiner
achtundzwanzig Jahre, die Du auf dem Rücken hast.
Vorwärts, alter Junge, eile Dich, damit Du die kleine
Sachwalterin bald zn Deiner Hauswalterin machen
kannst."
Jin Gasthanse „Zum rothen Ochsen", dem vor-
nehmsten Restaurant von Henry County, saßen iu einer
gemüthlichen Ecke die Honoratioren der Stadt hinter
ihren Gläsern und debattirten lebhaft über die neuesten
Tagesereignisse. Als Präsident der Kneiptafel fungirte
der Bürgermeister Mr. Short, ein kleiner beweglicher,
sehr beredtsamer Herr. Ihm gegenüber saß der lang-
gewachsene Polizeidirektor, Mr. Sandwich, dessen mageres,
citronenfarbenes Gesicht einen malerischen Kontrast zu
dem feisten, rothglänzenden Angesicht des wohlbeleibten
Richters, Mr. Cambridge, bildete. Der Feuerwehr-
direktor, der Apotheker, ein Bauunternehmer und andere
bekannte Persönlichkeiten vervollständigten die Tafel-
runde. Man unterhielt sich besonders eifrig über Miß
Bishop, welche zur Zeit das Interesse der ganzen
Stadt auf sich vereinigte.
„Sie werden jetzt einen schweren Stand haben, Mr.
Cambridge," sagte der Bürgermeister zu dem ihm gegen-
über sitzenden Richter, „denn dieser Advokat im Unter-
rock soll es hinter den Ohren haben, nach Allem, was
ich bis jetzt darüber gehört habe."
„Pah!" erwiederte der Angeredete, und blies eine
gewaltige Rauchwolke in die Luft, „habe fchon manchen
der männlichen Rechtsverdreher abfällen lassen und
werde auch mit diesem emanzipirten Frauenzimmer
keine Umstände machen. — Man munkelt übrigens,
daß die Frau Bürgermeister auch nicht auf den Mund
gefallen sei."
Alles lachte, rief dem Richter ein Bravo zu und
stieß mit ihm an.
Der Bürgermeister wollte etwas erwiedern, doch das
Wort blieb ihm im Halse stecken, denn soeben wurde
die Thür aufgerisscn, ein kleiner dicker Mann, feuer-
rot!) im Gesichte, stolperte herein und schrie völlig außer
Athen:: „Ein Mord, Gentlemen! Der alte Ensley ist
erschossen worden!"
Die ganze Gesellschaft sprang auf und umringte
den Ueberbringer der Unglücksbotschaft, während der
Polizeidirektor, so schnell er konnte, nach seinen: Bureau
eilte.
„Sprechen Sie, Zeitungsmann, was ist geschehen.
Wie ist das möglich?"
Nachdem sich der Reporter etwas verschnauft und
an einem Glase Brandy gestärkt hatte, sagte er: „Ja,
wenn wir nicht wären, wenn die Presse nicht wäre!
Da kneipt unser Polizeityrann hier in aller Gemächlich-
keit, und draußen gehen indessen die tollsten Sachen vor.
Charles Ensley, der alte reiche Sonderling in der King-
street, wurde vor einer Stunde todt in seinen: Zimmer
aufgefundeu. In seinen: Kopfe steckte eine Kugel aus
einen: kleinen alterthümlichen Gewehr, welches man im
Zimmer vorfand. Außer Ensley war Niemand im
Hanse, sodaß die Nachforschungen nach dem Mord-
gesellen außerordentlich schwierig sein werden. Doch
nun muß ich fort, um meinen Bericht zu schreiben.
Olooä bz-s, tisntlsmon!"
Die Mittheilung des Reporters hatte große Auf-
regung unter der Stammtischrnnde verbreitet, aber auch
in der Stadt war die Mordthat schnell ruchbar ge-
worden, und bald füllte sich die Stube mit Gästen,
welche herbeigecilt waren, um etwas Näheres darüber
zn erkunden. Aber Niemand wußte Genaueres über
den Ermordeten, nur darin stimmten alle Erzählungen
überein, daß Ensley sehr reich gewesen sei und nur in
Gesellschaft eines Dieners ganz zurückgezogen gelebt habe.
Der Einzige, mit dem er Umgang gepflogen hatte,
war sein Neffe, John Abery. Dieser, der auch zn den
Stammgästen des „Rothen Ochsen" gehörte, mußte fir.
 
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