Heft 4.
mit einigen Schaffnern auf den Weg nach dem Bahn-
wärterhaus. Hier fanden sie die ohnmächtige Frau.
Als Anna ſich einigermaßen ermuntert hatte, dachte
sie aufs neue an Karl. Sie wies ſchluchzend mit der
Hand in der Richtung nach Sodenheim und stammelte:
„Dort – mein Mann = unterwegs !“
Der Zugführer winkte den Schaffnern, beiseite zu
treten und ſagte leiſe zu ihnen: „Der Bahnwärter hat
wahrſcheinlich vor dem Kommen des Zuges vorſchrifts-
mäßig die Strecke revidiert und iſt in dem fürchter-
lichen Wetter verunglückt. Laufe einer von euch zum
Zuge zurück und sage, er solle unter allen Umständen
halten. Zwei bleiben hier und zwei kommen mit mir,
den Bahnwärter zu ſquchen !“
Der Regen hatte nachgelaſſen, das Gewitter war
im Abziehen begriffen, aber der Weg, den der Zug-
führer mit den beiden Schaffnern aufwärts nahm, war
troßdem noch sehr ſchlimm. Nach einer halben Stunde
fanden die Beamten die Strecke geſperrt durch einen
Erdrutſch. Ciner der vom Berg herabſtürzenden Bäche
hatte ſeitwärts sein Bett durchbrochen und Geröll-
maſſen, Sträucher und Bäume zu einer Barrikade auf
dem Schienengeleis aufgehäuft. Im Schlamm eckte
nE zum Leib der Bahnwärter Börner.
wußtlos. .
Hätte nicht Anna das sonderbare Signal gegeben,
indem ſie sfür den Gatten die Lichter am Signalmaſt
aufzog, ſo wäre der Zug auf die Barrikade aufgefahren
und ohne Zweifel entgleiſt. Auch Börner wäre ver-
loren gewesen. c
Als die Beamten den Verunglückten aus dem Schlamm
und Geröll, in dem ſein Unterkörper ſteckte, heraus-
zogen, kam er mit einem Schmerzensruf zum Bewußt-
ſein. Sein linker Oberſchenkel war gebrochen.
Einer der Schaffner zog ſeinen Mantel aus, Karl
wurde auf dieſen gelegt und zum Wärterhaus zurück-
getragen.
Nach dieſer Schreckensnacht kamen für Karl und
îYAlnna, die nach Berghauſen gebracht worden waren,
noch trübe Tage. Karl lag im Krankenhauſe und die
Disziplinarunterſuchung war gegen ihn von der Direk-
tion eingeleitet worden, weil er ſeinen Poſten ohne
Urlaub verlaſſen hatte. Mit Rücksicht darauf, daß
.. seine Frau den Zug, wenn auch ohne Absicht, gerettet
hatte, und daß er durch sſein Verunglücken ſchon ſchwer
genug beſtraft war, wurde ihm ſtatt der Dienſtent-
laſſung nur ein ſtrenger Verweis erteilt und er außer-
dem verſeßzt. Er iſt jezt Weichensſteller im Bahnhof
VBerghauſen und hofft durch pünktliche Pflichterfüllung
das Vertrauen ſeiner Vorgeſetzten wiedergewinnen zu
können.
Frau Anna hat ihn liebevoll gepflegt, als er aus
dem Krankenhauſe kam, aber ein leichtes Hinken be-
hält Karl Börner sein Leben lang als Erinnerung an
jene ſchreckliche Nacht. :
Er war be-
Die Ilebergabe von Santiago.
(Siehe das nebenſtehende Porträt.)
M" 22. April 1898 fand die Kriegserklärung der Union
an Spanien statt, und am 27. Juli hat die ſpaniſche
Regierung durch Vermittelung des franzöſiſchen Botſchafters
_ Cambon in Waſhington dem Präsidenten Mae Kinley ihre
Bereitwilligkeit, den Krieg zu beendigen und den Frieden
abzuſchließen, erklären laſſen. Das dieſer Wendung vor-
_ hergegangene kriegeriſche Hauptereignis war die Kapitu-
lation von Santiago, die am 14. Juli unterzeichnet wurde.
Ihre Bedingungen wurden vereinbart durch eine Kommission,
welche aus zwei Spaniern, einem Engländer und zwei Ameri-
kanern beſtand. Auf spanischer Seite hatte das Oberkom-
mando der Kommandant von Santiago und ſtellvertretende
Gouverneur der Provinz Santiago, General Toral (siehe das
nebenstehende Porträt), auf den dieſe Aemter durch die ſchwere
Verwundung seines Vorgängers, des Generals Linares, dem
ein Arm amputiert werden mußte, übergegangen waren. Er
bestimmte zu Kommissaren den General Tolon und ſeinen
Chef des Generalſtabes, sſowie den langjährigen englischen
î Vizekonſul in Santiago, Mr. Robert Mason, während die
Generale Wheeler und Lawton vom Generalstab des Generals
Shafter ernannt wurden. Außer der belagerten Stadt
wurde durch die Kapitulation der ganze öſtliche Teil der
Insel Cuba, begrenzt durch eine von Acerraderos an der
Südküste und westlich von Santiago über Palma nach
Sagua de Tonamo an der Nordküste gezogene Linie, den
Amerikanern ausgeliefer. Im übrigen einigte man ſich
dahin, daß die Garnison von Santiago als kriegsgefangen
zu betrachten sei und ihre Waffen abzugeben habe, jedoch
von den Amerikanern in ihre Heimat befördert werden ſolle.
Am 117. Juli wurde die Uebergabe der Stadt durch General
Toral an General Shaftter feierlich vollzogen. Letzterer und
die anmerikaniſchen Diviſions- und Brigadekommandeure
kamen mit ihren Stäben in Begleitung einer Kavallerie-
eskorte an. General Toral und sein Stab waren von hundert
ausgewählten Mannſchaften begleitet. Von beiden Seiten
ertönten Fanfaren , dann überreichte General Toral seinen
Säbel dem amerikaniſchen Befehlshaber, der ihm denselben
zurückgab und ihm die Hand ſchüttelte. Die amerikanischen
Truppen waren vor den Versſchanzungen in Reihen aufgeſtellt,
um die Zeremonie mit ansehen zu können. General Shafter
und sein Gefolge ritten hierauf in Begleitung des Generals
Da s Buch für Alle.
Toral in die Stadt, um sie formell in Beſit zu nehmen.
Vor dem Palaſt des Gouverneurs wurde die feierliche Üeber-
gabe vollzogen. Genau um die Mittagsstunde wurde in
Gegenwart von 10,000 Mann die amerikaniſche Flagge auf
dem Palaſte gehißt. Die Infanterie und Kavallerie präsen-
tierten, und jeder Amerikaner entblößte sein Haupt. Das
ſpaniſche Königsbanner senkte sich, und die Sterne und Strei-
fen der Unionsflagge entfalteten ſich im Winde, während
das Muſikcorps des amerikanischen 9. JInfanterieregiments
„The Star-spangled Banner“ ſspielte. Aus den Laufgräben
ertönten Salutschüſſe und ersſcholl ein vieltauſendstimmiges
Hurra! Die Sieger grüßten ihre Fahne.
Das IR. deutſche Turnfeſt in Hamburg.
(Siehe die 2 Bilder auf Seite 101.)
N" Abend des 23. Juli 1898 fand in der großen Feſt-
halle am Heiligengeistfeld in Hamburg die Eröffnungs-
feier des IX. deutschen Turnfestes statt, zu dem nahezu
25,000 Turner sich eingefunden hatten. Am Vormittag des
24. rückten von allen Seiten die Turnerſcharen mit ihren
Fahnen und mit Musikkapellen an der Spitze nach dem
Sammelplatze vor dem Steinthor, um sich zu dem großen
JFestzuge durch die Stadt (siehe das obere Bild auf S. 104)
zu ordnen. Punkt 12 Uhr ſetzte sich die Spitze des Zuges
in Bewegung. Drei berittene Fanfarenbläsſer auf prächtigen
Roſssen eröfsneten den imposanten Zug, der überall mit dem
lebhafteſten Jubel, mit Tücherſchwenken und endloſem „Gut
Heil!“ begrüßt wurde. In der erſten Abteilung des Zuges
folgten sich Herolde, ein starkes Trommler- und Pfeifercorps
von Hamburger Turnsſchülern in ihren rot-weißen Anzügen,
der Festausſchuß, die Fachaussſchüſſe und die ausländischen
Turner in bunter Reihe. Den Glanzpunkt der zweiten Ab-
teilung bildete der Feſtwagen der Germania, von vier durch
alte Germanen geleiteten Pferden gezogen. Mitten auf dem
Generak Toralk,
der Kommandant von Santiago vor der Uebergabe.
Wagen thronte, unter der deutschen Eiche sitend, die Germania.
Nicht geringeren Beifall fand der sechsſpännige Festwagen
der Hammonia. Im Hinterteile eines reich mit Gold, Silber
und Perlmutter verzierten Schiffes thronte auf erhabenem
Sockel Hammonia, das Bundesbanner haltend, zu ihren Füßen
allegoriſche Frauengestalten, die Elbe, Alster und Bille dar-
stellend, zu ihrer Linken der Meeresgott Neptun. Der Vor-
derteil, an dem Attribute der Schiffahrt und des Fiſchfanges
angebracht waren, war mit Schiffsvolk besezt. Vom Maſte
herab wehte ein in einer goldenen Kugel endigender Heimats-
wimpel, welcher von einer Nixe, das Wasser darſtellend, ge-
tragen wurde. Dem Wagen folgte eine Abteilung Hamburger
Bürgermilitär und die populärsten Gestalten des alten Ham-
burg, die mit besonderem Jubel begrüßt wurden. Zwei
weitere Feſtwagen stellten „Handel und Schiffahrt“, sowie
„Kunst und Gewerbe" mit ihren Attributen dar. In der |
Mitte des die Schiſsfahrt darſtellenden Wagens befand ſich
eine getreue Nachbildung des Hamburger Orlogſschiffes „Kaiſer
Leopold I.“ Dieses Schiff, im Jahre 1669 am Teerhof in
Hamburg erbaut und mit 54 Kanonen armiert, wurde von
dem berühmten Hamburgiſchen Kapitän Karpfanger von 1674
bis 1683 befehligt. Sehr hübsch ersonnen und auzsgeführt
war auch der Feſtwagen, der eine Turnerraſt in einer Wald-
ſchenke darstellte. Zwiſchen den Feſtwagen marſchierten ſtrammen
Schrittes die Turner, voran die Ausländer, darauf die deut-
schen Söhne Jahns. Den Beſchluß bildeten die Hamburger
Turnerſchaften. Besonders stark vertreten waren die Sachsen
und besonders lebhaft begrüßt wurden die öſterreichiſchen
Turner. Um 4 Uhr nachmittags traten auf der großen Innen-
fläche des Feſtplabes gegen 7500 Turner zu den allgemeinen
Stabübungen (siehe das untere Bild) an. Zum erstenmal
wurden diese bei einem Turnfeſte in ſolcher Stärke der Be-
sezung ausgeführt. Die Bewegungen der riesigen Schar
wurden durch Fahnen- und elektriſche Glockenzeichen geleitet
und mit staunenswerter Exaktheit ausgeführt. Gegen 5 Uhr
folgten das Turnen der Ausländer, das viele nationale Eigen-
heiten aufwies, und Turnſpiele. Das eigentliche Wettturnen
der deutſchen Turner am Reck, Barren, Pferd und im Weit-
und Hochſpringen begann am Montag Morgen und wurde
am Dienstag fortgeseßt. Am Montag Abend fand das große
Festmahl in der Haupthalle statt; am Mittwoch den 27. er-
folgte die Verteilung der Preiſe an die Sieger, worauf mit
der Absingung des Liedes ,„Deutsſchland, Deutſchland über
103
alles" das Turnfest gesſchloſſen wurde. Hierauf begann der
Fackelzug, der einen großartigen Eindruck machte. Trotz eines
ungeheuren Menſchenandranges verlief alles ohne jede Störung.
Ein geduldiger Spielgefährte.
(Siehe das Bild auf Seite 105.)
D't alljährlich wiederkehrende Flucht der Städter in die
Sommerfriſchen entspricht der einſt von Rousseau als
unumgänglich notwendig verlangten Rückkehr zur Natur.
Wenn die Hochſommerhitze in unseren Städten brütet und
die von Qualnt erfüllte ſchwüle Luft ihren geplagten Bewoh-
nern das Atmen erſchwert, dann ist es ja auch eine wahre
Wonne, die reine Atmosphäre da draußen zu genießen und
zwanglos die Reize des ländlichen Daseins auf sich wirken
zu laſſen. Ganz besonders für dieſe empfänglich zeigen ſich
immer wieder die Kinder, und namentlich iſt es der in der
Stadt nur selten mögliche Verkehr mit allerlei Haustieren,
welche sie auf dem Lande vorfinden, wodurch ihnen große
Freude und manche wohlthuende Anregung zu teil wird.
Das bringt auch das hübſche Gemälde von H. Maguire zur
Anschauung, von dem wir auf S. 105 eine Holzsſchnittnach-
bildung geben. Dicht bei dem Heim, in dem die junge Mutter
mit ihrem Kleinen die Sommerfriſche verbringt, befindet sich
ein Bauernhaus, dessen von einem Holzgatter abgeschloſſener
Hof mit seiner Tierwelt jedesmal das lebhafteſte Intereſſe
des Kindes erregt. Das größte Vergnügen bereitet ihm ein
junges Rind, das kaum erſt den Uebergang vom Kalb zum
Jungvieh vollzogen hat. Es kennt die städtiſchen Beſucher
auch ſchon ganz genau und kommt zutraulich ganz dicht an
das Gatter heran, bis zu deſſen Höhe die Mutter den
Kleinen jedesmal emporhebt. Als geduldiger Spielgefährte
läßt sich das gutmütige Tier von dem Kinde die Ohren
zauſen und die Stellen krauen, wo ihm bald die mächtigen
Hörner herauswachſen werden. Das macht dem Kleinen un-
geheuren Spaß, und die Mutter lächelt zu dem unschuldigen
Spiele ihres Lieblings. Mit überraschender Naturtreue hat
der Pinsel des Malers dies ansprechende Idyll aus der
Sommerfriſche wiedergegeben.
| Trinkgelder.
Cine soziale Betrachtung von Gerh. ten Buer.
; (Nachdruck verboten.)
is vor einer Reihe von Jahren war Amerika
noch vollſtändig ,trinkgeldfrei “. Mit einer
gewisſen Genugthuung, ja mit Stolz wiesen
die Amerikaner stets darauf hin, daß man bei
ihnen einen derartigen Unfug wie das Trinkgeldergeben
nicht kenne. Dies hat sich nun aber in den letzten
Jahren sehr geändert. Man zahlt in der Neuen Welt
jetzt ebenſogut Trinkgelder, wie in Europa, und die
große Ausstellung in Chicago, die einen bedeutenden
Fremdenzufluß von Reiſenden aus Europa brachte, hat
es zum Teil mit verſchuldet, daß auch in der Union
das Trinkgeldwesen (oder sagen wir lieber Trinkgeld-
unwesen) entstanden iſt und beständig zunimmt.
c Mohl hat es dort noch lange nicht den Umfang
angenommen wie bei uns, aber es wird ſicherlich nicht
lange mehr dauern, bis kein Unterſchied mehr besteht.
Das Trinkgeldnehmen iſt ſo angenehm für Tauſende
von Menschen, der Umstand, daß gewisſe Perſönlich-
keiten Trinkgelder erhalten, iſt für die Unternehmer,
die dieſe Perſonen beſchäftigen, ſo vorteilhaft, daß auch
Amerika binnen wenigen Jahren in dieſer Beziehung
mit Europa auf gleichem Fuße ſtehen wird. Es soll.
nun im voraus hier erklärt werden, daß die nach-
folgenden Zeilen keine Polemik für oder gegen das
Trinkgeldwesen, auch nicht gegen seine Auswüchse ent-
halten sollen. Wir beabsichtigen vielmehr nur, dem
Leſer zu zeigen, wie weit das Trinkgeldwesen in Eu-
ropa, insbeſondere in den Großſtädten, gediehen iſt.
Die Leute, die in der Provinz, besonders auf dem
flachen Lande wohnen, haben in Wirllichkeit keine
Ahnung davon, welche Fortschritte das Trinkgeldweſen
von Tag zu Tag in der Großſtadt macht, und welchen
Umfang dieſes moderne Uebel bereits angenommen hat.
Die natürliche Folge davon iſt, daß sehr viele Reiſende,
welche zeitweilig Aufenthalt in Großſtädten nehmen,
ſich bei der vorherigen Aufstellung ihres Reiseetats
gewaltig irren, obgleich die Fremden in einer Stadt
noch lange nicht so viel Trinkgelder zu zahlen haben,
wie der Einheimiſche, der in den besten Lokalen be-
kannt iſt und eine gewisse moralische Verpflichtung zur
Zahlung von Trinlkgeldern. hat. :
Die meiſten Reisenden, die großſtädtiſche Verhältnisse
noch nicht kannten, müſsſen die Erfahrung machen, daß
ihr Geld früher zu Ende geht, als sie gedacht haben.
Die häufigste Ursache für das Eintreten dieſes Um-
ſtandes iſt eben die, daß jene, als sie einen Ueber-
schlag der Reiſekoſten machten, die Trinkgelder nicht
in Betracht zogen. Es hat daher praktiſchen Wert
insbesondere für Leute, die nach Großſtädten zu reiſen
beabsichtigen, wenn wir sie nachſtehend darüber auf-
klären, welche Trinkgelderansprüche an einen gutsituierten
Menſchen in einer Großſtadt heutzutage geſtellt werden.
Es mag noch vorher bemerkt werden, daß die Verhält-
mit einigen Schaffnern auf den Weg nach dem Bahn-
wärterhaus. Hier fanden sie die ohnmächtige Frau.
Als Anna ſich einigermaßen ermuntert hatte, dachte
sie aufs neue an Karl. Sie wies ſchluchzend mit der
Hand in der Richtung nach Sodenheim und stammelte:
„Dort – mein Mann = unterwegs !“
Der Zugführer winkte den Schaffnern, beiseite zu
treten und ſagte leiſe zu ihnen: „Der Bahnwärter hat
wahrſcheinlich vor dem Kommen des Zuges vorſchrifts-
mäßig die Strecke revidiert und iſt in dem fürchter-
lichen Wetter verunglückt. Laufe einer von euch zum
Zuge zurück und sage, er solle unter allen Umständen
halten. Zwei bleiben hier und zwei kommen mit mir,
den Bahnwärter zu ſquchen !“
Der Regen hatte nachgelaſſen, das Gewitter war
im Abziehen begriffen, aber der Weg, den der Zug-
führer mit den beiden Schaffnern aufwärts nahm, war
troßdem noch sehr ſchlimm. Nach einer halben Stunde
fanden die Beamten die Strecke geſperrt durch einen
Erdrutſch. Ciner der vom Berg herabſtürzenden Bäche
hatte ſeitwärts sein Bett durchbrochen und Geröll-
maſſen, Sträucher und Bäume zu einer Barrikade auf
dem Schienengeleis aufgehäuft. Im Schlamm eckte
nE zum Leib der Bahnwärter Börner.
wußtlos. .
Hätte nicht Anna das sonderbare Signal gegeben,
indem ſie sfür den Gatten die Lichter am Signalmaſt
aufzog, ſo wäre der Zug auf die Barrikade aufgefahren
und ohne Zweifel entgleiſt. Auch Börner wäre ver-
loren gewesen. c
Als die Beamten den Verunglückten aus dem Schlamm
und Geröll, in dem ſein Unterkörper ſteckte, heraus-
zogen, kam er mit einem Schmerzensruf zum Bewußt-
ſein. Sein linker Oberſchenkel war gebrochen.
Einer der Schaffner zog ſeinen Mantel aus, Karl
wurde auf dieſen gelegt und zum Wärterhaus zurück-
getragen.
Nach dieſer Schreckensnacht kamen für Karl und
îYAlnna, die nach Berghauſen gebracht worden waren,
noch trübe Tage. Karl lag im Krankenhauſe und die
Disziplinarunterſuchung war gegen ihn von der Direk-
tion eingeleitet worden, weil er ſeinen Poſten ohne
Urlaub verlaſſen hatte. Mit Rücksicht darauf, daß
.. seine Frau den Zug, wenn auch ohne Absicht, gerettet
hatte, und daß er durch sſein Verunglücken ſchon ſchwer
genug beſtraft war, wurde ihm ſtatt der Dienſtent-
laſſung nur ein ſtrenger Verweis erteilt und er außer-
dem verſeßzt. Er iſt jezt Weichensſteller im Bahnhof
VBerghauſen und hofft durch pünktliche Pflichterfüllung
das Vertrauen ſeiner Vorgeſetzten wiedergewinnen zu
können.
Frau Anna hat ihn liebevoll gepflegt, als er aus
dem Krankenhauſe kam, aber ein leichtes Hinken be-
hält Karl Börner sein Leben lang als Erinnerung an
jene ſchreckliche Nacht. :
Er war be-
Die Ilebergabe von Santiago.
(Siehe das nebenſtehende Porträt.)
M" 22. April 1898 fand die Kriegserklärung der Union
an Spanien statt, und am 27. Juli hat die ſpaniſche
Regierung durch Vermittelung des franzöſiſchen Botſchafters
_ Cambon in Waſhington dem Präsidenten Mae Kinley ihre
Bereitwilligkeit, den Krieg zu beendigen und den Frieden
abzuſchließen, erklären laſſen. Das dieſer Wendung vor-
_ hergegangene kriegeriſche Hauptereignis war die Kapitu-
lation von Santiago, die am 14. Juli unterzeichnet wurde.
Ihre Bedingungen wurden vereinbart durch eine Kommission,
welche aus zwei Spaniern, einem Engländer und zwei Ameri-
kanern beſtand. Auf spanischer Seite hatte das Oberkom-
mando der Kommandant von Santiago und ſtellvertretende
Gouverneur der Provinz Santiago, General Toral (siehe das
nebenstehende Porträt), auf den dieſe Aemter durch die ſchwere
Verwundung seines Vorgängers, des Generals Linares, dem
ein Arm amputiert werden mußte, übergegangen waren. Er
bestimmte zu Kommissaren den General Tolon und ſeinen
Chef des Generalſtabes, sſowie den langjährigen englischen
î Vizekonſul in Santiago, Mr. Robert Mason, während die
Generale Wheeler und Lawton vom Generalstab des Generals
Shafter ernannt wurden. Außer der belagerten Stadt
wurde durch die Kapitulation der ganze öſtliche Teil der
Insel Cuba, begrenzt durch eine von Acerraderos an der
Südküste und westlich von Santiago über Palma nach
Sagua de Tonamo an der Nordküste gezogene Linie, den
Amerikanern ausgeliefer. Im übrigen einigte man ſich
dahin, daß die Garnison von Santiago als kriegsgefangen
zu betrachten sei und ihre Waffen abzugeben habe, jedoch
von den Amerikanern in ihre Heimat befördert werden ſolle.
Am 117. Juli wurde die Uebergabe der Stadt durch General
Toral an General Shaftter feierlich vollzogen. Letzterer und
die anmerikaniſchen Diviſions- und Brigadekommandeure
kamen mit ihren Stäben in Begleitung einer Kavallerie-
eskorte an. General Toral und sein Stab waren von hundert
ausgewählten Mannſchaften begleitet. Von beiden Seiten
ertönten Fanfaren , dann überreichte General Toral seinen
Säbel dem amerikaniſchen Befehlshaber, der ihm denselben
zurückgab und ihm die Hand ſchüttelte. Die amerikanischen
Truppen waren vor den Versſchanzungen in Reihen aufgeſtellt,
um die Zeremonie mit ansehen zu können. General Shafter
und sein Gefolge ritten hierauf in Begleitung des Generals
Da s Buch für Alle.
Toral in die Stadt, um sie formell in Beſit zu nehmen.
Vor dem Palaſt des Gouverneurs wurde die feierliche Üeber-
gabe vollzogen. Genau um die Mittagsstunde wurde in
Gegenwart von 10,000 Mann die amerikaniſche Flagge auf
dem Palaſte gehißt. Die Infanterie und Kavallerie präsen-
tierten, und jeder Amerikaner entblößte sein Haupt. Das
ſpaniſche Königsbanner senkte sich, und die Sterne und Strei-
fen der Unionsflagge entfalteten ſich im Winde, während
das Muſikcorps des amerikanischen 9. JInfanterieregiments
„The Star-spangled Banner“ ſspielte. Aus den Laufgräben
ertönten Salutschüſſe und ersſcholl ein vieltauſendstimmiges
Hurra! Die Sieger grüßten ihre Fahne.
Das IR. deutſche Turnfeſt in Hamburg.
(Siehe die 2 Bilder auf Seite 101.)
N" Abend des 23. Juli 1898 fand in der großen Feſt-
halle am Heiligengeistfeld in Hamburg die Eröffnungs-
feier des IX. deutschen Turnfestes statt, zu dem nahezu
25,000 Turner sich eingefunden hatten. Am Vormittag des
24. rückten von allen Seiten die Turnerſcharen mit ihren
Fahnen und mit Musikkapellen an der Spitze nach dem
Sammelplatze vor dem Steinthor, um sich zu dem großen
JFestzuge durch die Stadt (siehe das obere Bild auf S. 104)
zu ordnen. Punkt 12 Uhr ſetzte sich die Spitze des Zuges
in Bewegung. Drei berittene Fanfarenbläsſer auf prächtigen
Roſssen eröfsneten den imposanten Zug, der überall mit dem
lebhafteſten Jubel, mit Tücherſchwenken und endloſem „Gut
Heil!“ begrüßt wurde. In der erſten Abteilung des Zuges
folgten sich Herolde, ein starkes Trommler- und Pfeifercorps
von Hamburger Turnsſchülern in ihren rot-weißen Anzügen,
der Festausſchuß, die Fachaussſchüſſe und die ausländischen
Turner in bunter Reihe. Den Glanzpunkt der zweiten Ab-
teilung bildete der Feſtwagen der Germania, von vier durch
alte Germanen geleiteten Pferden gezogen. Mitten auf dem
Generak Toralk,
der Kommandant von Santiago vor der Uebergabe.
Wagen thronte, unter der deutschen Eiche sitend, die Germania.
Nicht geringeren Beifall fand der sechsſpännige Festwagen
der Hammonia. Im Hinterteile eines reich mit Gold, Silber
und Perlmutter verzierten Schiffes thronte auf erhabenem
Sockel Hammonia, das Bundesbanner haltend, zu ihren Füßen
allegoriſche Frauengestalten, die Elbe, Alster und Bille dar-
stellend, zu ihrer Linken der Meeresgott Neptun. Der Vor-
derteil, an dem Attribute der Schiffahrt und des Fiſchfanges
angebracht waren, war mit Schiffsvolk besezt. Vom Maſte
herab wehte ein in einer goldenen Kugel endigender Heimats-
wimpel, welcher von einer Nixe, das Wasser darſtellend, ge-
tragen wurde. Dem Wagen folgte eine Abteilung Hamburger
Bürgermilitär und die populärsten Gestalten des alten Ham-
burg, die mit besonderem Jubel begrüßt wurden. Zwei
weitere Feſtwagen stellten „Handel und Schiffahrt“, sowie
„Kunst und Gewerbe" mit ihren Attributen dar. In der |
Mitte des die Schiſsfahrt darſtellenden Wagens befand ſich
eine getreue Nachbildung des Hamburger Orlogſschiffes „Kaiſer
Leopold I.“ Dieses Schiff, im Jahre 1669 am Teerhof in
Hamburg erbaut und mit 54 Kanonen armiert, wurde von
dem berühmten Hamburgiſchen Kapitän Karpfanger von 1674
bis 1683 befehligt. Sehr hübsch ersonnen und auzsgeführt
war auch der Feſtwagen, der eine Turnerraſt in einer Wald-
ſchenke darstellte. Zwiſchen den Feſtwagen marſchierten ſtrammen
Schrittes die Turner, voran die Ausländer, darauf die deut-
schen Söhne Jahns. Den Beſchluß bildeten die Hamburger
Turnerſchaften. Besonders stark vertreten waren die Sachsen
und besonders lebhaft begrüßt wurden die öſterreichiſchen
Turner. Um 4 Uhr nachmittags traten auf der großen Innen-
fläche des Feſtplabes gegen 7500 Turner zu den allgemeinen
Stabübungen (siehe das untere Bild) an. Zum erstenmal
wurden diese bei einem Turnfeſte in ſolcher Stärke der Be-
sezung ausgeführt. Die Bewegungen der riesigen Schar
wurden durch Fahnen- und elektriſche Glockenzeichen geleitet
und mit staunenswerter Exaktheit ausgeführt. Gegen 5 Uhr
folgten das Turnen der Ausländer, das viele nationale Eigen-
heiten aufwies, und Turnſpiele. Das eigentliche Wettturnen
der deutſchen Turner am Reck, Barren, Pferd und im Weit-
und Hochſpringen begann am Montag Morgen und wurde
am Dienstag fortgeseßt. Am Montag Abend fand das große
Festmahl in der Haupthalle statt; am Mittwoch den 27. er-
folgte die Verteilung der Preiſe an die Sieger, worauf mit
der Absingung des Liedes ,„Deutsſchland, Deutſchland über
103
alles" das Turnfest gesſchloſſen wurde. Hierauf begann der
Fackelzug, der einen großartigen Eindruck machte. Trotz eines
ungeheuren Menſchenandranges verlief alles ohne jede Störung.
Ein geduldiger Spielgefährte.
(Siehe das Bild auf Seite 105.)
D't alljährlich wiederkehrende Flucht der Städter in die
Sommerfriſchen entspricht der einſt von Rousseau als
unumgänglich notwendig verlangten Rückkehr zur Natur.
Wenn die Hochſommerhitze in unseren Städten brütet und
die von Qualnt erfüllte ſchwüle Luft ihren geplagten Bewoh-
nern das Atmen erſchwert, dann ist es ja auch eine wahre
Wonne, die reine Atmosphäre da draußen zu genießen und
zwanglos die Reize des ländlichen Daseins auf sich wirken
zu laſſen. Ganz besonders für dieſe empfänglich zeigen ſich
immer wieder die Kinder, und namentlich iſt es der in der
Stadt nur selten mögliche Verkehr mit allerlei Haustieren,
welche sie auf dem Lande vorfinden, wodurch ihnen große
Freude und manche wohlthuende Anregung zu teil wird.
Das bringt auch das hübſche Gemälde von H. Maguire zur
Anschauung, von dem wir auf S. 105 eine Holzsſchnittnach-
bildung geben. Dicht bei dem Heim, in dem die junge Mutter
mit ihrem Kleinen die Sommerfriſche verbringt, befindet sich
ein Bauernhaus, dessen von einem Holzgatter abgeschloſſener
Hof mit seiner Tierwelt jedesmal das lebhafteſte Intereſſe
des Kindes erregt. Das größte Vergnügen bereitet ihm ein
junges Rind, das kaum erſt den Uebergang vom Kalb zum
Jungvieh vollzogen hat. Es kennt die städtiſchen Beſucher
auch ſchon ganz genau und kommt zutraulich ganz dicht an
das Gatter heran, bis zu deſſen Höhe die Mutter den
Kleinen jedesmal emporhebt. Als geduldiger Spielgefährte
läßt sich das gutmütige Tier von dem Kinde die Ohren
zauſen und die Stellen krauen, wo ihm bald die mächtigen
Hörner herauswachſen werden. Das macht dem Kleinen un-
geheuren Spaß, und die Mutter lächelt zu dem unschuldigen
Spiele ihres Lieblings. Mit überraschender Naturtreue hat
der Pinsel des Malers dies ansprechende Idyll aus der
Sommerfriſche wiedergegeben.
| Trinkgelder.
Cine soziale Betrachtung von Gerh. ten Buer.
; (Nachdruck verboten.)
is vor einer Reihe von Jahren war Amerika
noch vollſtändig ,trinkgeldfrei “. Mit einer
gewisſen Genugthuung, ja mit Stolz wiesen
die Amerikaner stets darauf hin, daß man bei
ihnen einen derartigen Unfug wie das Trinkgeldergeben
nicht kenne. Dies hat sich nun aber in den letzten
Jahren sehr geändert. Man zahlt in der Neuen Welt
jetzt ebenſogut Trinkgelder, wie in Europa, und die
große Ausstellung in Chicago, die einen bedeutenden
Fremdenzufluß von Reiſenden aus Europa brachte, hat
es zum Teil mit verſchuldet, daß auch in der Union
das Trinkgeldwesen (oder sagen wir lieber Trinkgeld-
unwesen) entstanden iſt und beständig zunimmt.
c Mohl hat es dort noch lange nicht den Umfang
angenommen wie bei uns, aber es wird ſicherlich nicht
lange mehr dauern, bis kein Unterſchied mehr besteht.
Das Trinkgeldnehmen iſt ſo angenehm für Tauſende
von Menschen, der Umstand, daß gewisſe Perſönlich-
keiten Trinkgelder erhalten, iſt für die Unternehmer,
die dieſe Perſonen beſchäftigen, ſo vorteilhaft, daß auch
Amerika binnen wenigen Jahren in dieſer Beziehung
mit Europa auf gleichem Fuße ſtehen wird. Es soll.
nun im voraus hier erklärt werden, daß die nach-
folgenden Zeilen keine Polemik für oder gegen das
Trinkgeldwesen, auch nicht gegen seine Auswüchse ent-
halten sollen. Wir beabsichtigen vielmehr nur, dem
Leſer zu zeigen, wie weit das Trinkgeldwesen in Eu-
ropa, insbeſondere in den Großſtädten, gediehen iſt.
Die Leute, die in der Provinz, besonders auf dem
flachen Lande wohnen, haben in Wirllichkeit keine
Ahnung davon, welche Fortschritte das Trinkgeldweſen
von Tag zu Tag in der Großſtadt macht, und welchen
Umfang dieſes moderne Uebel bereits angenommen hat.
Die natürliche Folge davon iſt, daß sehr viele Reiſende,
welche zeitweilig Aufenthalt in Großſtädten nehmen,
ſich bei der vorherigen Aufstellung ihres Reiseetats
gewaltig irren, obgleich die Fremden in einer Stadt
noch lange nicht so viel Trinkgelder zu zahlen haben,
wie der Einheimiſche, der in den besten Lokalen be-
kannt iſt und eine gewisse moralische Verpflichtung zur
Zahlung von Trinlkgeldern. hat. :
Die meiſten Reisenden, die großſtädtiſche Verhältnisse
noch nicht kannten, müſsſen die Erfahrung machen, daß
ihr Geld früher zu Ende geht, als sie gedacht haben.
Die häufigste Ursache für das Eintreten dieſes Um-
ſtandes iſt eben die, daß jene, als sie einen Ueber-
schlag der Reiſekoſten machten, die Trinkgelder nicht
in Betracht zogen. Es hat daher praktiſchen Wert
insbesondere für Leute, die nach Großſtädten zu reiſen
beabsichtigen, wenn wir sie nachſtehend darüber auf-
klären, welche Trinkgelderansprüche an einen gutsituierten
Menſchen in einer Großſtadt heutzutage geſtellt werden.
Es mag noch vorher bemerkt werden, daß die Verhält-