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Heſl't. e

Omdurman und Chartum am Zuſammenfluſſe
des Weißen und Blauen Nils.

t (Siehe das untere Bild auf Seite 168.)

urch die vernichtende Niederlage der Derwische und die

Einnahme von Omdurman hat das Mahditum einen
Schlag erhalten, von dem es sich schwerlich wird erholen
können. Noch vor dem Termin, den der Sirdar, General
Kitchener Paſcha, sich gesteckt hatte, iſt Omdurman in die
Gewalt des Siegers gefallen (vergl. Heft 6); Lyddithaubitzen
und Maximkanonen haben ihre Schuldigkeit gethan, ſie haben
die Befestigungen der aus den Trümmern Chartums errichteten
Hauptſtadt des Mahdi zerſtört und Schrecken und Vernichtung
in die Derwiſchhorden getragen. Die Scharen des Kalifen
. ſtanden zuletzt bei Kerreri, 18 Kilometer von Omdurman,
und in dieser Stadt selbſt. Sowohl Kerreri wie Omdurman
waren in guten Verteidigungszuſtand geseßt worden. Auch
auf der zwiſchen Omdurman und Chartum liegenden Nilinsel
Tuti war eine Anzahl von Geschüßen aufgestellt, während



das zerſtörte und verfallene Chartum von Truppen und Ge-

ſchüten entblößt war, obgleich dieser Ort wegen seiner höheren
Lage sich beſſer zur Verteidigung geeignet hätte, als Ömdur-
man. Unser unteres Bild auf S. 168 veranschaulicht die
aus der Vogelſchau dargestellte Lage von Chartum und Om-
durman. Im Hintergrunde dehnt sich Omdurman aus, wäh-

rend Chartum auf der vom Weißen und Blauen Nil um-

îloſſenen Landſpite links sichtbar iſt. Chartum, das unter
Ismail Paſcha zur Hauptstadt des ägyptiſchen Sudan und
zum Sit des Generalgouverneurs erhoben worden war, liegt
am Blauen Nil, nahe an dessen Zuſammenfluß mit dem Weißen

Nil, unter 15° 37‘ nördlicher Breite und 8320° 40’ östlicher

Länge von Greenwich in ungefähr 378 Meter Meereshöhe.
Gegen die Anhänger des Mahdi wurde die Stadt durch
Gordon lange tapfer verteidigt, bis ſie am 26. Januar 18865
durch Verrat in die Hände der Mahdiſten fiel, wobei Gordon
selbſt ein tragiſches Ende fand. Die ganze Stadt wurde
ausgeplündert und verheert, und der Mahdi beschloß, gegen-
über am Ufer des Weißen Nils, um den schon von Gordon

befestigten Omdurmanhügel herum eine neue Hauptſtadt ent-

ſtehen zu laſſen. Noch immer aber verdunkelte Chartum das
anwachſende Omdurman; als der Mahdi Achmed gestorben und
îAbdullahi ihm als Kalif gefolgt war, gab dieſer daher im
Auguſt 1886 strengen Befehl, daß alle Bewohner von Chartum
die Stadt binnen drei Tagen verlassen sollten. Dann wurden
die meiſten Häuſer niedergeriſſen und das Material: Fenster,
Thüren, Gebälk, Steine und Ziegel nach Omdurman geschafft
und dort zu Neubauten verwendet. Nur wenig ist von
Chartumübrig geblieben, und diese Reſte stehen zwiſchen Trüm-
merhaufen, den Blauen Nil und die Insel Tuti beherrſchend.
Gegenüber aber iſt die neue Kalifenstadt Omdurman entstan-
den, deren Bewohnerzahl zur Blütezeit (1888) auf 400,000
Köpfe geſchätt wurde. An einem Platz befindet sich das Grab
des Mahdi, dessen ſchneeweiße Gobba oder Grabkuppel aus
dem lehmroten Häuſergewirr hoch emporragt. Gegenüber dieſer
hohen Grabmoſchee erhebt sich eine gewaltige steinerne Um-
wallung, hinter der ſich des Kalifen Palaſt und Harem ver-
bergen. Bei seinem Einzuge in Omdurman ritt General
Kitchener um die Mauer, sowie um das große Haus herum, in
dem Jakub, des Kalifen Sohn, wohnte, und wo einſt der
Desterreicher Slatin Paſcha, der jetzt dem engliſch-ägyptischen
Heere als Führer diente, in Feſſeln lag. Ueberall gewahrte
man eine Miſchung von roher Pracht mit den Spuren blin-
der Panik. Die Bewohner hatten soeben noch den gefürchteten
Kalifen in raſender Flucht durch ihre Straßen sprengen sehen;
it rettet L ſich vor dem Sieger in Angst und Demut
auf den Boden.



Die Enthüllung

des Denkmals Kaiſer Alexanders II. in Moskau.

E (Siehe das Bild auf Seite 172.)

Ut EM zr. z 3:8
ts. uE von Kreis- . t ler der Recie.
unvergeßliche Verdienste erworben hat, war am 29. April 1818
im Nikolauspalaſt des altehrwürdigen Kremls zu Moskau
geboren und empfing die Taufe in dem anstoßenden Tſchudow-

îlloſter. Hier erhebt ſich nun, auf der beherrſchenden Höhe

des Kremls, gegenüber dem Nikolauspalaſt, das mächtige
Monument Kaiser Alexanders II., das am 28. Auguſt 1898
in feierlicher Weiſe enthüllt wurde. Die Denkmalsanlage
befindet ſich.nahe der ſüdöſtlichen Spitze jenes Dreiecks, das der
Schlösser, Kirchen, Kaſernen und Arsenale umfassende Ge-

_ böäudekomplex des Kremls am linken Moskwaufer im Grund-

riß bildet. Auf drei Seiten zieht sich eine Bogengalerie
aus weißem Sandstein hin. Die Zahl der Säulen zwischen
den Bogen beträgt 152; die Decke der Galerie iſt mit pracht-
vollen Mosaiken aus venetianisſchen Kunſtwerkſstätten geſchmückt,
in welche 33 Mosaikmedaillons mit den Porträts der ruſſiſchen

Herrſcher von Wladimir dem Heiligen bis auf Kaiser Niko-
laus I. eingefügt ſind. Zwiſchen den Seitenflügeln dieser

Gealerie erhebt sich unter einer hohen Turmkuppel auf einem
_ HGranitſockel das 6,5 Meter hohe Bronzeſtandbild des Zaren,
ein Werk von Profeſſor Opekuſchin. Alexander II. iſt in
_ Generalszuniform mit Krone und Zarenmantel dargestellt; die
_ Hinte hält das Scepter, während die Rechte segnend aus-
î gheſtreckt iſt. Das Dach des Kuppelbaues, das auf vier Bronze-

äulen ruht, iſt mit Kupfer und Emailplatten gedeckt. Am
_ gJInnenrand befindet sich eine Inſchrift, welche die Daten der

_ Geburt, der Krönung und des Todes angiebt, während am
_ HJuße des Denkmals, das aus freiwilligen Spenden erbaut

wurde, die Widmung ſteht: „Dem Kaiser Alexander II. durch
<doie Liebe des Volkes errichtet.“

, Das russiſche Herrſcherpaar
_ war am 27. Auguſt nachmittags in Moskau eingetroffen.

Am Vormittag des 28. wurde in Gegenwart des Kaiſers

und der Kaiserin, des Großfürſten Sergius und seiner Ge-
_ mahlin, der Königin Olga von Griechenland, des griechischen



Has Buch für Alle.

Kronprinzen und seiner Gemahlin, der Herzogin von Sachsen-
Koburg und Gotha und anderer Mitglieder des Kaiserhauſes,
der Würdenträger des Staates und des Hofes sowie der zur
Denkmalsweihe nach Moskau entsandten Äbordnungen in der
Himmelfahrtskathedrale des Kremls, der Krönungsstätte des
Zaren, ein feierliches Tedeum abgehalten. Um 2 Uhr nach-
mittags erfolgte die Enthüllung des Denkmals, bei der sich
auch die Kaiſer Wilhelm II. und Franz Joseph hatten ver-
treten laſſen, nicht nur aus pietätvoller Erinnerung an den
entscheidenden Anteil, den einst Alexander Il. an dem Zu-
ſtandekommen des Dreikaiſerbündniſses gehabt hatte, sondern
auch zur Bekundung der gegenwärtigen herzlichen Beziehungen
der drei Kaiſerreiche. Unser Bild auf S. 172 stellt die Än-
kunft des Kaisers Nikolaus Il. bei dem Denkmal dar, an

dem drei Jahre lang gearbeitet worden iſt. Als die Geiſt-

lichkeit das Gebet zum Gedächtnis des verewigten Kaisers
ſprach, fiel die ganze Festverſammlung auf die Kniee. Beim
Fallen der Hülle präſentierten die Truppen auf das Kom-
mando des Kaisers, gleichzeitig wurde ein Ehrensalut von
320 Schuß abgegeben. Nachdem die Hülle gefallen war, sette
der Kaiser ſich an die Spitze der Truppen, die darauf vor
dem Denkmal unter begeisterten Hochrufen des Publikums
vorüberzogen. Am Abend fand ein Prunkmahl im Hofe des
Großen Kremlpalaſtes statt. : ;



Der Tod der Kaiſerin Eliſabeth von Oelſterreich.

4 (Siehe das Porträt und die 5 Bilder auf Seite 157, 173, 176 und 177.)

E furchtbarer Schicksalsschlag hat das Haus Habsburg,
hat den allverehrten Kaiſer Franz Joseph I. unmittelbar
vor seinem fünfzigjährigen Regierungsjubiläum getroffen.
Seine Gemahlin, die Kaiſerin Eliſabeth, iſt am I1. Sep-
tember 1898 in Genf von einem italieniſchen Anarchiſten

Namens Luccheni ermordet worden, und noch immer bildet .

dies tragiſche Ende den Gegenstand, mit dem sich die öffent-
liche Meinung der ganzen gesitteten Welt fast ausschließlich
beſchäftigt. Die Kaiserin, deren Bildnis wir auf S. 157
unseren Lesern vorführen, entstammt der herzoglichen Linie der
Wittelsbacher. Sie ward am 24. Dezember 1837, am Weih-
nachtsabend, zu Schloß Poſſenhofen am Starnbergersſee, als
zweite Tochter des Herzogs Maximilian in Bayern und seiner
Gemahlin Ludovica geboren. Am 24. April 1854 wurde die
„Roſe aus Bayernland“ mit dem damals vierundzwanzig-
jährigen Kaiser Franz Joſeph vermählt. Eigentlich war für
ihn die ältere Schwester, die nachmalige Herzogin von Alengon,

bestimmt gewesen; durch einen Zufall erblickte er jedoch die

jüngere zuerſt, und dieser Zufall war entscheidend für die
Wahl des Kaiſers. Den großartigen Vermählungsfestlich-
keiten, bei denen die Wiener die durch seltene Schönheit aus-
gezeichnete Kaiſerin jubelnd begrüßten, folgten 1854 Reisen
des glücklichen Kaiſerpaares durch alle Provinzen. Das erſte
schwere Leid traf die Kaiserin Eliſabeth, als ihre erſtgeborene
Tochter Sophie im frühesten Kindesalter starb. 1856 wurde
Erzherzogin Gisela, spätere Gemahlin des Prinzen Leopold

von Bayern, 1858 Kronprinz Rudolf geboren; 1868 kam die |

jüngste Tochter Marie Valerie, die Gemahlin des Erzherzogs

Franz Salvator, zur Welt. Zu Beginn der sechziger Jahre

mußte die Kaiſerin zur Wiederherſtellung ihrer durch Krank-
heit erschütterten Gesundheit zuerſt Madeira und hierauf
Korfu aufsuchen, von wo sie im Mai 1862 völlig genesen
heimkehrte. In der zweiten Hälfte der ſechziger Jahre
wendete die Kaiſerin ihr besonderes Intereſſe dem un-
gariſchen Volke, seiner Sprache und Litteratur und den

| übrigen Erscheinungen seiner nationalen Kultur zu. Wie

sehr sie sich dort alle Herzen gewonnen hatte, bewies der

Jubel, mit dem sie begrüßt wurde, als sie in der Blüte ihrer |

Jahre bei der ungariſchen Krönung am 8. Juni 1867 in der
nationalen Tracht der ungariſchen Königin erſchien. Aufs

neue erſchüttert zeigte ſich die Geſundheit der Kaiserin zuerſt

in den siebziger Jahren; sie entzog sich fortan möglichst dem
Zwang der Repräſentation und wählte Aufenthaltsorte, wo
sie dem geräuſchvollen Leben entrückt war. Der große hiſto-
Ut: R' te Ueciet'vt lü'bigctst"=ekt
Apt Slüfacth F gentlud in der Oeffentlichkeit und vor
der geſamten Bevölkerung erſchien. Das tragiſche Ereignis
des Jahres 1889, der Tod des Kronprinzen Rudolf, wurde

für sie ein niederſchmetternder Schlag, von dem sie ſich nicht

mehr ganz zu erholen vermochte; hinzu kam dann 1897 noch
das furchtbare Ende ihrer Schweſter, der Herzogin von
Alengon, die in. Paris den Flammentod fand. Zulett hatte

die Kaiſerin eine Kur in Nauheim gebraucht, die ihr aus-

gezeichnet bekommen war, so daß sie das Bad am 29. Au-
guſt 1898 wieder verlaſſen konnte, um ſich nach Territet am
Genfersee zu begeben. Von hier hatte sie den kurzen Aus-
flug nach Genf unternommen, der ihr so verhängnisvoll
werden sollte. + Auf S. 176 oben bringen wir eine
Ansicht des Hotels Beau-Rivage in Genf, wo die Kaiserin
abgestiegen war, und in dem ſie auch ihren letten Seufzer
ausgehaucht hat. Das ſtattliche Gebäude erhebt sich am

Quai des Paquis, der dort in den See mit einer ſchönen,

breiten, von einer steinernen Säulenbaluſtrade eingefaßten
Parkanlage vorſpringt. Neben dem Hotel steht das große
Monument Brunswik, welches die Stadt Genf dem Her-
zog Karl Il. von Braunschweig (+ 1873) zum Dank dafür
errichtete, daß er sie zur Erbin von 20 Millionen Franken
eingeſeßt hat. Die Verlängerung des Quai des Paquis heißt
Quai du Montblanc, den unser oberes Bild auf S. 173 darſtellt.
Die Kaiserin hatte gegen dreiviertel 1 Uhr das Hotel Beau-
Rivage verlassen,, um sich zur Landungsstelle der Dampfer
zu begeben und eine Luſtfahrt auf dem Genfer See zu unter-
nehmen. Die Ansicht zeigt vor der Montblancbrücke im
Hintergrunde den Landungssteg, an dem der Dampfer
„Génève“"“ angelegt hatte, und über den die auf den Tod
verwundete Kaiserin noch geschritten iſt. Die Stelle auf
dem Quai, wo sie von der Mordwafsfe Lucchenis getroffen
wurde, iſt durch ein Zeichen kenntlich gemacht. ~ Am Vor-
mittage des 14. September fand die Ueberführung der Leiche



171

vom Hotel Beau-Rivage nach dem Bahnhofe statt. Nach

8 Uhr verließ der Zug das Hotel (siehe das untere Bild auf
S. 173). An der Spitze befand ſich eine Abteilung Gen-
darmen in Gala unter dem Kommando eines Kapitäns.
Hierauf folgte der von vier Pferden gezogene Leichenwagen,
der unter Blumen, Palmen und Kränzen faſt verschwand.
Dann zwei Wagen mit Kränzen, der Hofstaat der Kaiſerin
in ſechs Wagen und nach einer zweiten Abteilung Gendarmen
die Wagen des Bundesrates. + Am Abend des 15. traf
der Sonderzug mit der Leiche der Kaiſerin in Wien ein und
wurde nach der Hofburgkapelle überführt, wo Kaiser Franz
Joſeph und die nächsten Leidtragenden der ersten Einſegnung
beiwohnten. Am Nachmittag des 17. wurden die ſterblichen
Reſte der hohen Frau von der Hofburg zur letzten Ruhe in
die Kapuzinergruft geleitet. Um 4 Uhr kündigte das Geläute
aller Glocken den Abgang des Trauerzuges von der Hofburg
an. Er nahm seinen Weg über den inneren Burgplatz, den
Michaeler- und Joſephsplatz, durch die Augustinerstraße und
bog sodann in die Tegetthofstraße gegen den Neuen oder
Mehlmarkt ein, wo in der Gruft unler der unscheinbaren
Kapuzinerkirche die Mitglieder des Kaiserhauſes beigesett
werden. Unser Bild auf S. 177 veranschaulicht den Augen-
blick, da der von acht Rappen gezogene, schwarz drapierte
Leichenwagen den Albrechtsbrunnen, Ecke der Augustinerſtraße
und Auguſtinerbastei, paſſierte, um in die Tegetthofſtraße

einzubiegen. ~ Das untere Bild auf S. 176 zeigt die Pfote.

der Kapuzinerkirche, durch welche der Sarg in das Innere
getragen wurde. Vor dem Altar wurde durch den Kardinal
Fürſt-Erzbiſchof Dr. Gruſcha der Trauersſegen gesprochen,
und hierauf erfolgte die Ueberführung in die Gruft, wohin
nur der greiſe Kaiſer Franz Joſeph mit den Schwieger-
sſöhnen und den nächsten männlichen Verwandten der toten

Kaiserin das Geleite gaben.



Fürs eigene Blut.
Novelle von W old e mar Urban.

; 1

enn man durch die Meerenge von Mesſſinna
fährt, ſo fällt einem auf der Seite des ita-
Y lieniſchen Feſilandes ein mäßig hoher Felsen

mit einem uralten Kastell ins Auge. Diese
Burg iſt etwa tauſend oder noch mehr Jahre alt,
und gebaut, um die Küſte gegen seeräuberiſche Ueber-
fälle zu ſchüten, wie sie zur Zeit der Sarazenen und
Normannen an dieſen Küſten nichts Ungewöhnliches
waren. Heute aber ſteht die alte Feſtung epheuumrankt
in traurigem Verfall da und ſchaut maleriſch und ſtim-
mungsvoll in die alte Sagenlandſchaft hinein.

In der Thalſohle, die ſich unterhalb dieſes Felſsens
zum Meere hinzieht, gleichſam im Schutz der. alten
Burg, liegt eine kleine, stille Stadt mit altersgrauean
Häuſerchen, die in ihrer Baufälligkeit einen faſt ängſt-
lichen Cindruck machen. Ganz im Gegensatz zu den
anderen italieniſchen Städten, die von früh bis abends

(Nachdruck verboten.)

von lautem Geſchrei und Lärmen widerhallen, liegt

diche Stadt ſtill und tot da, wie verlaſſen und ver-
zaubert.

y Das ist Scylla, eine Dertlichkeit, von der ſchon der
alte Homer in der Odysſee erzählt und auf der er ein
wildes, gefräßiges Meerungeheuer hauſen läßt. Von
dem fürchterlichen Strudel der Charybdis, der sich am
gegenüberliegenden, ſizilianiſchen Ufer befunden haben
soll, iſt freilich nichts mehr übrig. Vielleicht hat sich
im Laufe der Jahrtauſende die Strömung geändert,
was ja keineswegs unwahrscheinlich iſt. Jedenfalls
iſt aber das alte Scylla auch heute noch eine unheim-
liche Dertlichkeit, und wer jemals in einer wilden
Sciroccoſturmnacht auf der Feſte von Scylla gestan-
den und das hohle Rollen und Donnern der Bran-

dung gehört hat, die ſich an dem Felſen bricht, der

wird begreifen, daß man zu Zeiten, in denen der
Mensch den Naturerſcheinungen noch hilfloſer gegen.
überſtand, diese Dertlichkeit mit Ungeheuern und Ge-
fahren aller Art umgeben hat. Auch heute noch ſchließen

sich die Einwohner von Scylla — zumeiſt arme Fiſcher

und Weinbauern = vorsichtig in ihre Häuſerchen ein,
wenn ver Scirocco über das Meer fegt und die Wogen
brüllend und donnernd an den Bunrgfelſen zerſchmettert;
auch heute noch ſind die Einwohner von Scylla aber-
gläubiſch. Durch ihre Erzählungen ſpuken die Fiſch-
menſchen und Meerungeheuer, die tief unter dem
Spiegel der Wellen mit starken Ketten an die Felſen
gefeſſelt ſind, noch heute leben die Einwohner von Scylla
in banger Furcht vor den Schrecken der ſie umgebenden
Natur, die ſie nicht begreifen und ergründen können.

Ende der siebziger Jahre wohnte in einem der klei-
nen Häuſerchen, die gleich unterhalb der Feſtung am
Meeresufer ſtehen, ein Mann Namens Mario Varriccea.
Er konnte um dieſe Zeit etwa drei- bis vierunddreißig
Jahre alt ſein, hatte ſich aber, wie das in Unteritalien
häufig vorkommt, sehr früh verheiratet. Er war da-
mals erſt vierundzwanzig Jahre alt gewesen, ſeine
Frau noch nicht achtzehn. Sie hieß Lurita und war,
als sie ſich verheiratete, eine in der ganzen Gegend
berühmte Schönheit gewesen, eines jener ſammetzarten,
braunen und zierlichen Geſchöpfchen, wie ſie nur Unter-
 
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