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Da s Buch für Alke.
Bilder von der Agandaeiſenbahn: Der Voifluß in der N
Laternen spiegelte sich im Schlamm wieder. Baum
erreichte in wenigen Schritten den Spittelmarkt, ſteckte
das Schreiben in einen Briefkaſten und sah auf seine Uhr.
Es war ſechs Uhr vorüber.
Drüben vor dem Polizeigebäude fuhr juſt der „grüne
Wagen“ vor und entledigte ſich seines traurigen In-
halts. Baum stand ganz in der Nähe und Jah die
verwahrloſten Gestalten derer, die ſich gegen das Geſet
vergangen hatten, oder die in dem Verdacht einer Ge-
segesübertretung ſtanden, langſam und gebückt hinter-
einander in den umgitterten Hof ſchleichen – es war
î auch ein g.auhaariger Mann dabei in beſſerer Kleidung
und mit einem Geſicht, dem man kein Verbrechen zu-
trauen mochte. .;
Dann ertönte plötzlich ein Schrei von der Ger-
traudtenbrücke her. Die Menſchen liefen zuſammen,
und es wurde davon geredet, daß sich einer ins Waſſer
gestürzt habe. Andere behaupteten, es sei ein Weib
vghtt welchen Gründen der Selbstmord geschehen
sei, davon sprach keiner. Sie wußten, daß es nur zwei
Gründe geben konnte ~ Schuld oder Leid, und der
ſchwarze Waſſerſpiegel, in dem das Licht der Laternen
verſank, verriet nicht mehr, welcher von dieſen beiden
Geistern seine Hand auf ein Menſchenleben gelegt hatte.
Nach wenigen Minuten hatte die Menge ſich wieder
hctlaufen auch Julius Baum war mit ihr verſchwun-
en. U
Fünftes Kapitel.
Draußen in der Tiergartenvilla herrſchte eine große
Verwirrung. Julius Baum war am Abend nicht zu-
ccruückgekehrt.
Er hatte allerdings bei dem Verlassen der Wohnung
zu Liſette geſagt, man möge nicht mit dem Eſſen auf
ihn warten, und es war ja auch ſchon vorgekommen,
daß sich in solchen Fällen seine Rückkehr bis weit in
den Abend hinein verzögerte, aber als es acht Uhr
wurde, begann Frau Mary troyt ihrer kühlen Yankee-
natur doch eine gewiſſe Unruhe zu versſpüren.
Sie begab sich ſelbſt hinunter in das Erdgeſchoß,
um bei Richard Erkundigungen einzuziehen, und dieser
machte ein sehr beſtürztes Gesicht, als er erfuhr, daß
lit Vater ji mittags zwölf Uhr nicht zum Vorſchein
gekommen ſei. | :
„Du weißt doch, Mama, “ sagte er, „daß Vater
ganz regelmäßig entweder vormittags oder nachmittags
einige Stunden auf dem Comptoir zubringt, und da |
er heute überhaupt nicht im Geſchäft gewesen iſt, so
nahm ich an, daß er sich nicht ganz wohl fühle. Mein
Gott, die augenblickliche Geſchäftslage kann einem ſchon
Kopfschmerz verurſachen. “
_ Frau Mary hatte ſchon von den finanziellen Schwie-
tg ue t nent auf pie leiht uicht aller.
ſie, George würde vielleicht Auskunft geben können.
Bei Nennung dieses Namens blickte Guſſy, die
bisher ſchweigend dabei geseſſen hatte, finster auf und
sagte: „Ich glaube nicht, daß Papa bei George gewesen
iſt. Eine ſolche Thorheit überläßt er Jüngeren, die
denn auch dafür geſtraft werden. “
Das Wort war dunkel und wurde in der allgemeinen
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ähe des Voi-Wahnhofes. (S. 577)
Sorge nicht beachtet. Dagegen wurde Liſette jetzt her-
beigerufen, und es ſtellte sich bei genauerem Examen
heraus, daß ein fremder Herr bei dem Kaufmann ge-
lau war der Richtige, gnädige Frau, “ beteuerte
das aufgeregte Mädchen. „Wie ein rechter Ekel sah
er aus, und die Flecken von ſeinen ſchwarzen Tatzen
tönnen Sie noch auf dem gnädigen Herrn seinem Seſſel
h.. hätte nach der Schilderung von Liſette glauben
können, daß der Teufel in Person den alten Baum
geholt habe, aber ſchließlich war die Lage doch zu
ernſthaſt, um Scherze darüber zu machen.
. Um zehn Uhr wurde auf die Polizei geschickt, und
dieſe zog natürlich den Tagesrapport über Unglücksfälle
zu Rat. Die Auskunft, welche in die Villa zurück-
gelangte, lautete recht tröſtlich. Sie besagte nämlich,
ein Unfall könne dem Herrn wohl nicht paſſiert ſein,
denn die Namen aller im Laufe des Tages verunglückten
Perſonen wären bekannt. Ein Individuum ſsei ins
Wasser gegangen, und man hätte die Leiche noch nicht
ſ§utvest aber das solle ein Frauenzimmer gewesen
ein.
Auch bei George war telephoniſch angefragt wor-
den, aber er wußte ebenfalls nichts.
Es folgte eine sehr lange und bange Nacht, wäh-
rend der weder im Erdgeſchoß noch im ersten Stock ein
Auge geſchloſſen wurde. Man horchte unwillkürlich
darauf, ob nicht eine ſchwere, unbekannte Hand ſich
Füße.
Heſt 24.
plötzlich auf den Knopf der Schelle legen, ob nicht mur-
melnde Stimmen laut werden würden und ſstampfende
Aber es kam nichts dergleichen, und erst am folgen-
den Morgen brachte der Poſtbote einen Stadtbrief.
„Den hätten Sie ooch ſchon jeſtern abend kriegen
können, “ sagte er zu Liſette, „aber der Abſender iſt
im Duſel jeweſen und hat ihn in den Kaſten for die
Privatpoſt jeſchmiſſsen.“
Das Schreiben kam von Julius Baum und war
an Frau Mary gerichtet. :
Mit hastigen, unsicheren Schriftzügen und in einer
dunklen, verwirrten Form bat der Kaufmann, es möge
seinem Verbleiben nicht nachgeforſcht werden. Er hoffe,
bald zu den Seinigen zurückkehren zu können, wenn
aber dennoch ein Hindernis eintreten sollte, dann bitte
er um ein freundliches Angedenken.
Die Unterschrift dieſes seltſamen, auf ſchmutzigem
und zerknittertem Papier geſchriebenen Briefes verlief
in einige unſichere Schnörkel, die ein beredtes Zeug-
nis von der Erregung des Verfaſſers ablegten. Noch
deutlicher ſprach hierfür die Thatſache, daß Baum das
Schreiben zwar mit einer Reichspoſtmarke versehen,
dennoch aber es in einen Briefkaſten der Paketfahrt-
gesellſchaft gesteckt hatte. Wenn das einem Berliner
Kaufmann passierte, dann mußte er vollſtändig den
Kopf verloren haben. |
Dieser ſeltſame Brief trug natürlich nur dazu bei,
die bereits hochgeſpannte Aufregung noch zu ſteigern.
| Er brachte zwar die Gewißheit, daß Baum weder das
Opfer eines Verbrechens, noch eines Unfalls geworden
war, aber er ließ zweifelhast, ob der alte Mann im
Angesicht einer bevorſtehenden Geſchäftskriſis nicht den-
noch vielleicht Hand an ſich ſelbſt gelegt hatte.
Freilich, die Toten kehren nicht wieder zurück, und
Baum hatte in ſeinem Schreiben doch die Hoffnung
einer baldigen Rückkehr ausgesprochen, aber das lonnte
schließlich ein leerer Troſt sein, zumal die Sch'ußwort:
von der Möglichkeit des gegenteiligen Falles jprachen
und ſonach das Gegenteil von dem Eingang enthielten.
Frau Mary, die am nächsten beteiligt war und
ihren Gaiten wohl am besten kennen mußte, sagte gar
nichtz. Das konnte in ihrer verſchloſſenen Natur
liegen, oder sie wußte irgend etwas, was ſie nicht
verraten wollte.
bereits ſchwarze Kleidung wegen des Ablebens ihres
Vaters; ob sie den Gatten für tot oder verſchollen hielt,
war aus keinem ihrer ſpärlichen Worte zu entnehmen.
Gussy dagegen sprach in einem Familienrat, zu dem
auch George zugezogen wurde, ſehr beſtimmt ihre An-
sicht dahin aus, daß der alte Mann verreist sei, um
mit seinen Geſchäftsfreunden und Gläubigern wegen
der am 1. April bevorſtehenden Zahlungen zu unter-
handeln. „Was blieb ihm denn anderes übrig?“ sagte
sie mit einem zornigen Seitenblick auf ihren Schwager.
„Näherliegende Hilfe gab es nicht, da mußte er ſich
ſchon an fremde Menſchen wendenn.
Richard widerſprach. „Wenn Papa wirklich in
Geſchäftssachen verreiſen wollte, “ sagte er, „dann lag
abſolut keine Veranlaſſung vor, die Sache geheimzu-
halten. Und was hat er denn ſchließlich mitgenommen?
Von seinen Sachen fehlt nur Hut, Ueberzieher und
Schirm, alſo nur dasjenige, was man für einen Gang
Gruppe von Miſſionaren, Raßnbeamten und Kulis an dem gegenwärtigen Endpunkte der Wahn. (S. 577) .
Einen äußeren Ausdruck vermochte
sie ihrer Trauer nicht mehr zu geben, denn sie trug