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Heft 25.

D a s Bu ch für Alle.

603



mianus Herkuleus, der Mitregent Diokletians, ein festes
Kaſtell erbauen, über deſſen Trümmern ſich später die Ka-
pelle erhob, die den Namen der frommen Jungfrau aus dem
Herzogsſchloſſe am Fuß des Berges trägt. Dem Herzog
Attich oder Eticho, der zu Ehnheim residierte, wurde, wie
die Legende berichtet, von seiner Gemahlin Bereswinde
ein blindes Töchterlein geboren, das der grimme Vater töten
laſſen wollte. Die Mutter rettete es aber, und als der
VBiſchof Ehrhardt das Kind auf den Namen Odilia taufte,
schlug es die Augen auf und ward ſehend. Als es zu einer
ſchóönen Jungfrau herangewachsen war, gestattete der Herzog
ihr die Heimkehr. Sie erregte jedoch von neuem seinen
wilden Zorn, als sie einen ihr vom Vater bestimmten Freier
ausſchlug und erklärte, unvermählt bleiben zu wollen. Odilia
floh über den Rhein, aber der Vater und der auzgeſchlagene
Freier setzten ihr gemeinſam nach und holten sie in einem
Walde bei Freiburg i. Br. ein. Sie wollten ſie eben er-

î greifen, als eine Felswand fich aufthat und Odilia den Ver-
folgern entzog. Vor dieſem Wunder beugte ſich Eticho; er

schenkte der rückkehrenden Tochter die Hohenburg, damit sie
darauf ein Kloster errichte. Weithin verbreitete ſich der
Ruhm ihrer Wunderthätigkeit, die Blinde sehend zu machen
vermöge, und noch heute gilt das Wasser der auf dem Berge
sprudelnden Quelle als heilkräftig für alle Augenleiden. Das
Kloster, desſſen Bau im Jahre 690 vollendet gewesen sein soll,

wurde von 1045 bis 1793 von nicht weniger als 17 Feuers-

brünsten verheert; das letzte Mal wurde es von den fran-
zösſiſchen Revolutionsmännern zerſtört. Hernach ging es in

Privatbeſit über; 1853 aber ließ Dr. Andreas Räß, Biſchof

von Straßburg, die Baulichkeiten ankaufen, die Kirche und

î die versſchiedenen, zum Kloſter gehörigen Kapellen wieder-

. herſtellen und ſchickte die Schwestern von Rheinacker bei

_ Habern zur Bewirtung der Pilger und Reiſenden an die
wiürdig erneuerte Stätte. Seitdem ist St. Odilien ein viel-

besuchter Wallfahrtsort, besonders in der Zeit vom 7. bis

. 15. Juli, der „Oktave“ der heiligen Odilia, und auch die

Zahl der Touriſten, die dieſen herrlichen Punkt aufsuchen,

steigt mit jedem Jahre. Für die Wallfahrer mit beſcheidenen
_ Börsen befindet ſich gleich beim Eingang eine Gaststätte. Die

ubrigen Reisenden kehren in den weißgetünchten, hellen Frem-

denzimmern des Kloſters ein, oder stärken sich in dem ſchat-
tigen Garten, in den uns das Bild auf S. 600 und €01

verſetzt. Die Bedienung besorgen freundliche Kloſterſchweſtern,

und herrlich mundet das Mahl auf diesem ſchönen Punkte |
_ mit ſeiner entzückenden Aussicht über das blühende Land
und die helle Rheinebene bis zu dem ernsten Dunkel des

Schwarzwaldes. Auch Kaiſer Wilhelm Il. und seine Ge-

mahlin betrachteten die ſchöne Vogesenlandſchaft mit Entzücken.

Der Straßburger Biſchof Dr. Frentzen zeigte dem Kaiſerpaar

alle Sehenswürdigkeiten des festlich geschmückten Kloſters :
Kirche, Kreuzkapelle, Odilienkapelle und das Odilienberg-

muſeum, nach desſen Besichtigung ein Imbiß eingenommen
wurde. Nach einem Rundgang um die Kloſterfelſen bis zur
Heidenmauer wurden die Wagen wieder beſtiegen zur Fahrt
nach Obernheim und Rosheim, von wo aus die Rückkehr
nach Straßburg mit der Bahn erfolgte.

Die Friedenskouferenz im Haag.

{(Siehe das Bild auf Seite 604 und die 4 Porträls auf Seite 603 und 604.)

m 18. Mai 1899 iſt im Haag die Friedenskonferenz er-.

_ Ü 1 öffnet worden, zu der im Auguſt 1898 Kaiser Nikolaus Il.
von Rußland perſönlich durch ſeinen Miniſter des Auswärtigen,

_ Grafen Murawienw, die Anregung gegeben hatte. 26 Staaten

haben 98 amtliche Delegierte (abgesehen von den diplo-

matiſchen Sekretären, Hilfsarbeitern und Dolmetſchern) zu
dieser Konferenz entſandt, welche eine der umfangreichsten

und glänzendsten Diplomatenverſammlungen ist, die jemals

M attfanden. Der Wiener Kongreß von 1814 und der Berliner

Kongreß von 1878, die sich zunächſt zur Vergleichung auf-
drängen, waren nur europäiſche Verſammlungen, während
im Haag ein wirklicher Weltkongreß zuſammentrat, auf dem
nicht bloß Europa, ſondern auch Amerika und Aſien ver-

treten ſind. Wir bringen auf S. 604 eine Anfſicht des

Palaſtes, den Königin Wilhelmina für die Sitzungen der
Konferenz hat herrichten laſſen. Als eine wirkliche Stätte
des Friedens liegt das königliche Luſtſchloß „Haus im Buſch"
(Het IHuis ten Bosch), umringt von vielhundertjährigen
Eichen und Buchen, abseits vom Getriebe der Reſidenz im
„Haagſchen Buſch“, einem parkähnlich angelegten und dem
Berliner Tiergarten ähnlichen Gehölze südlich vom Haager
zoologischen Garten. Nahe der Nordoſtecke dieses Parkes er-
hebt sich, eine halbe Stunde vom Haag, jener im Jahre 1647
von der Prinzeſſin Amalie von Solms, Witwe des Prinzen
Friedrich Heinrich von Oranien, zum Andenken ihres Gemahls
errichtete Landſißk. J. v. Campen, dem Amſterdam das herr-
liche Rathaus, jetzt königliches Schloß, verdankt, baute es
im Verein mit seinem Kollegen Pieter Poſt. In der Mitte
des Gebäudes liegt als deſſen Glanzpunkt der Oraniensaal,
ein achteckiger, hoher Kuppelraum mit großen Gemälden aus
Rubens’ Schule, Scenen aus dem Leben des Prinzen Friedrich

î Heinrich darſtellend. Das Licht fällt zum Teil von oben
ein; die Wände ſind 15 Meter hoch. Dieser Prachtsaal

wurde für die Geſamtſitzungen der Konferenz bestimmt und

dementſprechend eingerichtet; andere Räume des Schlosses

standen den Kommisſionen zur Abhaltung von Sitzungen zur
Verfügung. ~ Um 2 Uhr nachmittags fand am 18. Mai
in dem Oraniensaal die erſte Sitzung der Friedenskonferenz
statt, die rein formeller Natur war und nur 25 Minuten
dauerte. Zum erſten Präſidenten wurde gewählt der ruſſiſche
Botschafter in London, Baron Georg v. Staal (siehe das
obenstehende Porträt), zugleich der Hauptvertreter Rußlands
auf der Konferenz. Herr v. Staal, der bereits im 75. Lebens-
jahre steht, hat an der Moskauer Universität studiert. 1845
trat er in das asſiatiſche Departement des Ministeriums des
Aeußern ein, 1850 wurde er zu der ruſsſiſchen Vertretung

nach Konstantinopel geſandt, 1857 Sekretär der ruſſiſchen



Vertretung in Bukareſt, 1859 erſter Sekretär der ruſſischen
Geſsandtſchaft in Athen, 1862 erſter Sekretär in Konstantinopel,

1871 Gesandter in Stuttgart, 1888 in München und ſseit
1884 Botſchafter in London, wo er ebenso beliebt wie ge-
achtet ist. Kaiser Nikolaus hat ihm aus Anlaß des griechiſchen
Osterfeſtes den Wladimirorden 1. Klasse verliehen, und der
Erlaß, den der Zar dabei an ihn richtete, zeichnet ſich durch
Wärme der anerkennenden Sprache aus. ~ Der leitende Ver-
treter des Deutschen Reiches iſt Georg Herbert Graf zu
Münſter-Ledenburg, kaiſerlicher Botſchafter in Paris und
hannoverſcher Großgrundbesißger. Der Graf ist am 23. De-
zember 1820 zu London geboren; er trat als Erblandmarſchall
in die erſte Kammer des Königreichs Hannover, ging 1856
als außerordentlicher Gesandter König Georgs V. an den
ruſſiſchen Kaiſerhof und kehrte erst 1864 aus St. Petersburg
zurück. Im November 1867 wurde er als erbliches Mitglied
in das preußiſche Abgeordnetenhaus berufen und ſaß von

1867 bis 1873 für Goslar im Reichstag, wo er ſich der

Reichspartei ansſchloß. Ende Juni 1873 ging er als Bot-

schafter nach London; 1885 vertauſchte er diesen Poſten mit

Paris. — Als Beiräte in juriſtiſchen Fragen hat die deutſche
Reichsregierung dem Grafen Münster zwei gewiegte Autori-
täten auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts zur Seite ge-
geben: Die Professoren Dr. Karl Freiherr v. Stengel und
Dr. Philipp Horn. .. Prof eſſor Pr. Karl Freiherr
v. Stengel ist vor allem ein vorzüglicher Kenner des
deutschen und preußiſchen Verwaltungsrechts, sowie der
öffentlich-rechtlichen Verhältnisse in den deutſchen Schut-
gebieten. Am 26. Juli 1840 zu Peulendorf im Bezirksamt
Bamberg geboren, studierte er die Rechte in München und
ging, 1871 zum kaiserlichen Landgerichtsrat in Mülhauſen





Baron v. Hiaal,
Vertreter Rußlands und Präſipent auf der Friedenskonferenz im Haag.

ernannt, nach den Reichslanden, wo er zehn Jahre lang
wirkte, seit 1879 als Landgerichtsrat in Straßburg. 1881
als ordentlicher Profeſſor nach Breslau berufen, wandte er
sich 1890 wieder der engeren Heimat zu, zunächſt als ordent-
licher Profeſſor in Würzburg und ſeit 1895 als Universitäts-
lehrer in München. Viel von ſich reden gemacht hat seine
vor kurzem erſchienene kleine Schrift „Der ewige Friede“.
Gleichfalls ein geborener Bayer iſt der Lehrer des Staats-
rechts an der Königsberger Universität, Geheimer Juſtizrat,
Profeſſor Dr. Philipp Zorn. Am 13. Januar 1850
zu Bayreuth geboren, beſuchte er die Hochſchulen zu München
und Leipzig und habilitierte ſich dann in München. Er
wirkte von 1875 bis 1877 als Profeſſor in Bern und folgte
hierauf einem Ruf nach Königsberg. Von 1880 bis 1888
gab er das zweibändige Werk „Das Staatsrecht des deutſchen
Reiches" und 1894 eine eingehende Untersuchung über „Die
ſtaatsrechtliche Stellung des preußiſchen Geſamtminiſteriums"
heraus. Zudem ist er ein ganz hervorragender Kenner des

Völkerrechts. – Die Porträts dieser drei deutſchen Delegierten

finden unsere Leſer auf S. 604. Zu militäriſch-techniſchen
Beiräten auf der Konferenz wurden ernannt: Oberst Groß
v. Schwarzhoff, Kommandeur des 94. Infanterieregiments,
und Hauptmann Siegel, Marine-Attaché bei der deutſchen
Botſchaft in Paris. : ;

Ein Brhiffsverkauf.

Erzählung von Wilhelm v. Berk.

' ie Nachricht, daß . Eide Lundſtedt seinen
I „Merkur“ verkauft habe, erregte in den an Vor-

(Nachdruck verboten.)
gängen ähnlicher Art stets lebhaft interessierten
Reederkreiſen der mittelgroßen norddeutſchen

Seehandelsstadt ein gewisses begreifliches Erſtaunen.

Nicht als ob der „Merkur“ eines jener Schiffe gewesen

wäre, die ſich nur ſchwer an den Mann bringen lassen,

denn das ſtattliche Vollſchiff konnte troß ſeiner langen



Dienstzeit noch immer als gut ſseetüchtig auch für die
große Fahrt gelten; aber der Reeder Lundſtedt hatte doch
häufig genug erklärt, er würde ſich von diesem Schiffe
nicht gern trennen, da es in den Anfangsperioden seines
Unternehmens durch die zahlreichen glücklichen und ein-
träglichen Reiſen zu der gegenwärtigen Blüte seiner
Reederei viel beigetragen habe. Nun überraſchte es,
daß er plötzlich anderen Sinnes geworden war. Was
ſteckt dahinter? fragte man ſich. Die Reederei Lunn-
ſtedt stand, nach ihrem Betriebe zu urteilen, auf festen
Füßen und auch im allgemeinen war die Geschäfts-
lage des Jahres günstig. Geldmangel konnte es also
wohl kaum gewesen Jein.

Der Verkauf war so raſch abgeſchloſſen worden, daß
von unbeteiligter Seite keine Wahrnehmungen darüber
gemacht werden konnten. Vor anderthalb Monaten
f! ct ur Jir.etrr Jutauteikenen
Lundstedt noch verſchiedene Schiffe, ſo daß deſſen
Reedereigeſchäft durch den Verkauf des einen keine
fühlbare Schwächung erlitt; und der etwaige Ausfall
wurde reichlich durch einen Viermaſter neueſter Kon-
ſtruktion aufgewogen, den er vor längerer Zeit bei
einer bekannten deutſchen Werft in Bau gegeben hatte
und der demnächſt vom Stapel laufen ſollte.

Bei alledem harrte noch eine Frage der Beant-
wortung, die Frage nach dem Erwerber des „Merkur“,
die jedoch Lundstedt vorläufig insofern offen ließ, als
er ſeinen Bekannten und Geſchäftsfreunden gegenüber
unerſchütterlich bei ſeiner Behauptung blieb, von dem
Käufer nichts weiter zu wiſſen, als den Namen; und
selbst sein vertrauteſter Freund, der Schiffsmakler Bentje
hiucichfen, mußte sich mit dieſem Beſcheid zufrieden

eben.
G Er that es auch dem Anscheine nach, innerlich jedoch

empfand er dieſe übertriebene und ihm gegenüber geen.

ttt éerſajige Furugheltuns vg Recert. an qu
in dem Benehmen seines Freundes gegen ihn und
ſeinen Sohn, die ihm vordem nicht oder weniger auf-

gefallen waren, die ihn aber jezt zu dem Schluſſe

drängten, daß Lundstedt das warme Freundſchaftsver-
hältnis zwiſchen ihren beiden Kindern, das den Schiſfs-

| makler mit den freundlichſten Hoffnungen auf en.

engeres Bündnis erfüllte, nicht mehr so gern sähe wie
früher. Er wußte sich die Urſache dieser Entfremdung
nicht zu erklären + an ihm lag jedenfalls die Schuld
nicht, so verſuchte er sich zu tröſten, während er zu-
gleich über die Person des neuen Eigentümers des

„Merkur“ eifrig nachgrübelte. Wer und was konnte

| dieſer Timothy P. Brayd, so nannte ſich derſelbe,

eigentlich ſein? Die internationalen Liſten ſelbſtändiger
Reedereien wieſen keine Firma dieses Namens auf.

„Wieviel mag dieſer Brayd wohl bezahlt haben?“ :

brummte Hinrichſen vor ſich hin, über seinen mit Pee
pieren bedeckten Schreibtiſch nach dem Fenster ſtarrend.

| „Auch darüber will sich Lundstedt nicht auslaſſen ~

und, zum Kuckuck, hat er es denn nötig gehabt, das
Schiff wegzugeben ?“ : . :
Das Comptoir des Schiffsmaklers beſtand aus der

| Schreibſtube für die jungen Leute und dem Zimmer

des Chefs. Was dieſen ſelbſt betraf, ſo gehörte er zu
jenen Menſchen, die ihr Glück ihrem praktiſchen Blicke
und angeborenen Thätigkeitsſinne verdanken. Hin-
richſen, zur Zeit einer der besten Schiffsmakler der Stadt,
Pettrtler Muehe autwarüger Pechatcien ehe hun
niemals zu beklagen gehabt, daß er ſeinem Seemanngs-
berufe untreu geworden, und aus dem Matroſenlogis

in das kleine Schiſfsmaklergeſchäft eines entfernten .

Verwandten eingetreten war. Er hatte ſich raſch und
geschickt in seine neue Thätigkeit hineingefunden, zu
der er ſich bei ſeiner hübſchen Handſchrift und seiner
kaufmännischen Begabung trefflich eignete. So brachte
er nach und nach das Geſchäft in die Höhe, knüpfte
neue Verbindungen an und wurde zuletzt deſſen eigent-
licher Leiter. Auch die zur See zugebrachten Jahre,
eine bis zum Vollmatroſen gediehene ſeemänniſche Lauf-
bahn, kamen ihm nunmehr durch die erworbenen prak-
tiſchen Erfahrungen vorzüglich zu statten; und als ſein
Verwandter ſtarb, übernahm er das Geschäft und führte
es unter eigener Firma fort. Das alte Comptoir wurde
verlaſſen; die Räumlichkeiten genügten ſchon lange nicht
mehr; er kaufte ein günstig gelegenes Haus an der
Hafenſeite an und richtete ſich in deſſen Parterre-
räumen ein. ;

An das Fenſter tretend, ſchaute er auf die ziemlich
verödete Straße in den regneriſchen Tag hinaus, in
Gedanken fortwährend bei dem verkauften „Merkur“.
Draußen begann es raſch zu dunkeln, der November-
abend verſchlang den letzten Reſt des ſpärlichen Tages-
lichtes. Hinrichſen zeigte auch äußerlich den Mann
von unbeugſamer Energie; kaum über Mittelgröße,
aber kräftig gebaut, entſchloſſene, etwas derbe Züge
in dem geſundfarbenen Gesicht mit Backenbart und
dünnem Schnurrbart, ſcharke graue Augen und eine

breite, gefurchte Stirn. In dem ſtarken Haupthaar

ließen sich nur einzelne weiße Fäden entdecken ~ er
 
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