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urteilt war, der büßte allmählich auch die Schwungkraft
des Geiſtes ein, und ſchließlich ſank abermals ein Opfer
der zzcathet in h; Abgrund des Vergessens.
fui, wie häßlich!
pts junge Chemiker war sehr emſig bei ſeinem
Werke, denn er hoffte, heute einen gewiſſen Abſchluß
desselben zu erreichen; was ſich dort in der Retorte
klärte, das ſollte darüber entscheiden, ob eine Aussicht
auf günstigen Erfolg vorhanden sei, oder ob die ganze
mühſelige Analyſe noch einmal ~ zum wievieltenmal
wohl! ~ begonnen werden mußte.
Und nun legte er endlich die Uhr neben ſich und
stützte den Kopf in die Hand. Es galt jetzt nur noch
zu warten ~ zu warten.
Die Gasflamme ſang leise.
George träumte von der Anlage einer großen Farben-
fabrik. Ihre techniſche Leitung würde er natürlich
keinem anderen überlaſſen, aber für den kaufmännischen
Betrieb brauchte er doch eine tüchtige Kraft. Wenn
die Firma Baum & Sohn wirklich liquidieren mußte,
Da 3 B u < f ür Alle.
dann ließ sich allenfalls mit Richard ein Abkommen
treffen, und dann ſollte Guſſy nicht mehr so ſtolz und
kühl an ihm vorübergehen. .
Wie sie sich wohl zu Heddy ſtellen wird?
Das Singen der Gasflamme ging in ein leiſes
zorniges Ziſchen über, und George drehte sie aus.
Er filtrierte dann das Dekokt vorsichtig durch Lackmus-
papier. Es vergingen einige Minuten angeſpannter
Thätigkeit; dann warf George das Lehrbuch, aus dem
er die chemiſchen Formeln zuſammengeſchrieben hatte,
heftig auf den Fußboden. Es war wieder nichts.
Und als der getäuſchte Mann sich nun mutlos hin-
sehte und in das grau hereinfallende Dämmerlicht des
trüben Tages starrte, überkam ihn plötzlich ein heißer
Hunger nach müheloſem Beſitz. :
Mar es nicht thöricht, im häßlichen Wettkampf einem
ewig unsicheren Ziele nachzujagen, während das gött-
lich schöne Recht der Vererbung ihm den Lohn fremder
Arbeit in die ausgeſtreckte Hand legte? In die müßige
Hand, deren einzige Aufgabe es war, die Finger über
Heft 26.
der Gabe zuſammenzukrampfen, oder allerhöchſtens an-
dere, gleich empfängliche Hände wegzuſchlagen.
Von der halbgeöffneten Thür des vorderen Zimmers
fiel ein dunkler Schatten in das Laboratorium. George
hatte in seinem Grübeln überhört, daß jemand leiſe
hereingekommen war und bereits einige Minuten ſchwei-
gend in dem Thürrahmen ſtand.
Es war der Aktuar Gundlach.
Die beiden Männer hatten bisher trot der in Aus-
ſicht ſtehenden nahen Verbindung wenig Verkehr mit-
einander gepflogen. Alter, Charakter und Lebens-
ſtellung waren zu verſchieden, um eine Annäherung
zu begünſtigen, die Großſtadt that das übrige.
Gundlach hatte noch niemals die Wohnung ſeines
zukünftigen Schwiegersohnes betreten, und George war
daher nicht wenig erſtaunt, den Alten so unvermittelt
vor ſich zu ſehen. Aber er begrüßte ihn dennoch freund-
lich und wollte ihn in ſein Wohnzimmer führen.
j Aber der Aktuar machte eine abwehrende Hand-
ewegung.
„Wir ſind hier wohl ungestörter, Herr Doktor,“
sagte er mit seiner leiſen und ruhigen Stimme. „Ich
muß Sie zunächſt wegen meines etwas formloſen Ein-
tretens um Entschuldigung bitten, aber bei den Be-
ziehungen, die zwiſchen uns beiden bestehen, darf ich
wohl um ſo ſicherer auf Ihre Nachsicht rechnen, als
.die aufrichtigſte Teilnahme mich hierher geführt hat. “
„Sie haben also schon erfahren ~" fragte George zer-
ſtreut, und Gundlach warf einen scheuen Blick hinter sich.
„Meine Tochter brachte die Nachricht heim, aber ihre
Erzählung klang so verwirrt, daß ich mir Gewißheit
verſchaſffen mußte. Worauf beruht denn eigentlich dieſe
Vermutung von dem Tode Ihres Herrn Vaters?“
„Auf einer Reihenfolge logiſcher Schlüsse, “ ent-
gegnete George. „Erſtens: die Firma befindet sich in
bedeutenden Zahlungsſchwierigkeiten.. Zweitens : mein
Vater verſchwindet. Drittens: ein Reisender bringt
die Nachricht, daß er meinen Vater in Kreuzlingen bei
Konstanz gesehen und daß mein Vater vor ihm ſozu-
ſagen die Flucht ergriffen hat. Viertens: heute finde
ich dieſe Zeitungsnotiz. “ .
z George reichte dem Aktuar die Nummer und fuhr,
während jener las, fort: „Hedwig glaubt nicht an eine
Identität, denn sie wirft die Frage auf, was mein
Vater denn dort unten am Bodensee gesucht haben
ſollte. Und es iſt in der That sonderbar –
Haſchiſchraucher in Zulu»land. (S: 626)
Er brach plötzlich ab und ſtrectte unwillkürlich die
Hand aus.
Es mußte eine plötliche Schwäche den Aktuar be-
fallen haben, denn er ließ das Zeitungsblatt zur Erde
niedergleiten und tastete nach einer Stütze.
. Das währte indeſſen nur wenige Sekunden, dann
richtete er sich im Sessel auf und trocknete die Stirn
mit dem Taschentuch. . .
„Ich bin zu raſch gegangen, " sagte er undeutlich,
„aber es iſt ſchon vorüber.
gelegenheit betrifft, so zweifle ich keinen Moment mehr
daran, daß Ihr Vater tot iſt. Die Thatſache, daß er
am Bodensee geſehen worden iſt, ſteht feſt, und die
unsſelige That ſelbſt findet ihre hinreichende Erklärung
über dieſe Sache?“ ;
„Er hat noch keine Kenntnis davon," entgegnete
George, ſich nach der Zeitung bückend; „er iſt heute
wegen Feines Geburtsſcheines nach ~ wie heißt doch
das Nest ~ richtig, nach Ellrode gereist."
in dem drohenden Konkurs. ~ Was denkt Ihr Bruder
Die gebückte Stellung verhinderte den Sprechenden,
seinem Gaſt in das Gesicht zu blicken, aber deſſen Züge
hatten sich blitzschnell in der letzten Sekunde verändert.
Der scheue, furchtſame und fast ſchuldbewußte Ausdruck
war in ein geſpanntes Lauſchen übergegangen, wie es
dem Menſchen eigen iſt, wenn eine längst vergeſſene
Was diese traurige An-
Thatſache plötzlich wieder aus dem Dunkel der Ver-
bargrhtt urn Hand an die Stirne.
„Ellrode, ſagen Sie? Wo liegt das?“ .
„Es muß ein kleines Dorf auf der Lüneburger
Heide sein. Ich habe den Namen niemals früher
nennen hören, aber aus einem Briefe, den mein Vater
an das dortige Pfarramt geschrieben hat, geht hervor,
daß dieses obſkure Nest als Geburtsort meines Bruders
gilt. Damit Sie den Zuſammenhang versſtehen, muß
ich wohl den Bericht meiner Mutter wiedergeben, denn |
Uh jet befand mich bis heute in vollkommener Un-
enntnis.
Der Altuar legte beide Hände auf die Arme des
Sesſels und neigte den Kopf vor. So mochte er bis-
weilen früher über ſchwierigen Akten gesessen haben,
deren verwickelten Inhalt es zu entwirren galt.
î „Erzählen Sie,“ sagte er langſam, „erzählen Sie
ganz genau, wenn ich bitten darf; es kommt vielleicht
1.
auf jedes Wort an.'
Und dann, als George seinen Bericht beendigt hatte,
blieb er noch eine Weile nachdenklich siten und durch-
pihlie mit den langen Fingern die dünnen grauen
haare. te wisſen, George, “ sagte er endlich und ge-
brauchte damit zum erstenmal die vertraulichere An-
]
urteilt war, der büßte allmählich auch die Schwungkraft
des Geiſtes ein, und ſchließlich ſank abermals ein Opfer
der zzcathet in h; Abgrund des Vergessens.
fui, wie häßlich!
pts junge Chemiker war sehr emſig bei ſeinem
Werke, denn er hoffte, heute einen gewiſſen Abſchluß
desselben zu erreichen; was ſich dort in der Retorte
klärte, das ſollte darüber entscheiden, ob eine Aussicht
auf günstigen Erfolg vorhanden sei, oder ob die ganze
mühſelige Analyſe noch einmal ~ zum wievieltenmal
wohl! ~ begonnen werden mußte.
Und nun legte er endlich die Uhr neben ſich und
stützte den Kopf in die Hand. Es galt jetzt nur noch
zu warten ~ zu warten.
Die Gasflamme ſang leise.
George träumte von der Anlage einer großen Farben-
fabrik. Ihre techniſche Leitung würde er natürlich
keinem anderen überlaſſen, aber für den kaufmännischen
Betrieb brauchte er doch eine tüchtige Kraft. Wenn
die Firma Baum & Sohn wirklich liquidieren mußte,
Da 3 B u < f ür Alle.
dann ließ sich allenfalls mit Richard ein Abkommen
treffen, und dann ſollte Guſſy nicht mehr so ſtolz und
kühl an ihm vorübergehen. .
Wie sie sich wohl zu Heddy ſtellen wird?
Das Singen der Gasflamme ging in ein leiſes
zorniges Ziſchen über, und George drehte sie aus.
Er filtrierte dann das Dekokt vorsichtig durch Lackmus-
papier. Es vergingen einige Minuten angeſpannter
Thätigkeit; dann warf George das Lehrbuch, aus dem
er die chemiſchen Formeln zuſammengeſchrieben hatte,
heftig auf den Fußboden. Es war wieder nichts.
Und als der getäuſchte Mann sich nun mutlos hin-
sehte und in das grau hereinfallende Dämmerlicht des
trüben Tages starrte, überkam ihn plötzlich ein heißer
Hunger nach müheloſem Beſitz. :
Mar es nicht thöricht, im häßlichen Wettkampf einem
ewig unsicheren Ziele nachzujagen, während das gött-
lich schöne Recht der Vererbung ihm den Lohn fremder
Arbeit in die ausgeſtreckte Hand legte? In die müßige
Hand, deren einzige Aufgabe es war, die Finger über
Heft 26.
der Gabe zuſammenzukrampfen, oder allerhöchſtens an-
dere, gleich empfängliche Hände wegzuſchlagen.
Von der halbgeöffneten Thür des vorderen Zimmers
fiel ein dunkler Schatten in das Laboratorium. George
hatte in seinem Grübeln überhört, daß jemand leiſe
hereingekommen war und bereits einige Minuten ſchwei-
gend in dem Thürrahmen ſtand.
Es war der Aktuar Gundlach.
Die beiden Männer hatten bisher trot der in Aus-
ſicht ſtehenden nahen Verbindung wenig Verkehr mit-
einander gepflogen. Alter, Charakter und Lebens-
ſtellung waren zu verſchieden, um eine Annäherung
zu begünſtigen, die Großſtadt that das übrige.
Gundlach hatte noch niemals die Wohnung ſeines
zukünftigen Schwiegersohnes betreten, und George war
daher nicht wenig erſtaunt, den Alten so unvermittelt
vor ſich zu ſehen. Aber er begrüßte ihn dennoch freund-
lich und wollte ihn in ſein Wohnzimmer führen.
j Aber der Aktuar machte eine abwehrende Hand-
ewegung.
„Wir ſind hier wohl ungestörter, Herr Doktor,“
sagte er mit seiner leiſen und ruhigen Stimme. „Ich
muß Sie zunächſt wegen meines etwas formloſen Ein-
tretens um Entschuldigung bitten, aber bei den Be-
ziehungen, die zwiſchen uns beiden bestehen, darf ich
wohl um ſo ſicherer auf Ihre Nachsicht rechnen, als
.die aufrichtigſte Teilnahme mich hierher geführt hat. “
„Sie haben also schon erfahren ~" fragte George zer-
ſtreut, und Gundlach warf einen scheuen Blick hinter sich.
„Meine Tochter brachte die Nachricht heim, aber ihre
Erzählung klang so verwirrt, daß ich mir Gewißheit
verſchaſffen mußte. Worauf beruht denn eigentlich dieſe
Vermutung von dem Tode Ihres Herrn Vaters?“
„Auf einer Reihenfolge logiſcher Schlüsse, “ ent-
gegnete George. „Erſtens: die Firma befindet sich in
bedeutenden Zahlungsſchwierigkeiten.. Zweitens : mein
Vater verſchwindet. Drittens: ein Reisender bringt
die Nachricht, daß er meinen Vater in Kreuzlingen bei
Konstanz gesehen und daß mein Vater vor ihm ſozu-
ſagen die Flucht ergriffen hat. Viertens: heute finde
ich dieſe Zeitungsnotiz. “ .
z George reichte dem Aktuar die Nummer und fuhr,
während jener las, fort: „Hedwig glaubt nicht an eine
Identität, denn sie wirft die Frage auf, was mein
Vater denn dort unten am Bodensee gesucht haben
ſollte. Und es iſt in der That sonderbar –
Haſchiſchraucher in Zulu»land. (S: 626)
Er brach plötzlich ab und ſtrectte unwillkürlich die
Hand aus.
Es mußte eine plötliche Schwäche den Aktuar be-
fallen haben, denn er ließ das Zeitungsblatt zur Erde
niedergleiten und tastete nach einer Stütze.
. Das währte indeſſen nur wenige Sekunden, dann
richtete er sich im Sessel auf und trocknete die Stirn
mit dem Taschentuch. . .
„Ich bin zu raſch gegangen, " sagte er undeutlich,
„aber es iſt ſchon vorüber.
gelegenheit betrifft, so zweifle ich keinen Moment mehr
daran, daß Ihr Vater tot iſt. Die Thatſache, daß er
am Bodensee geſehen worden iſt, ſteht feſt, und die
unsſelige That ſelbſt findet ihre hinreichende Erklärung
über dieſe Sache?“ ;
„Er hat noch keine Kenntnis davon," entgegnete
George, ſich nach der Zeitung bückend; „er iſt heute
wegen Feines Geburtsſcheines nach ~ wie heißt doch
das Nest ~ richtig, nach Ellrode gereist."
in dem drohenden Konkurs. ~ Was denkt Ihr Bruder
Die gebückte Stellung verhinderte den Sprechenden,
seinem Gaſt in das Gesicht zu blicken, aber deſſen Züge
hatten sich blitzschnell in der letzten Sekunde verändert.
Der scheue, furchtſame und fast ſchuldbewußte Ausdruck
war in ein geſpanntes Lauſchen übergegangen, wie es
dem Menſchen eigen iſt, wenn eine längst vergeſſene
Was diese traurige An-
Thatſache plötzlich wieder aus dem Dunkel der Ver-
bargrhtt urn Hand an die Stirne.
„Ellrode, ſagen Sie? Wo liegt das?“ .
„Es muß ein kleines Dorf auf der Lüneburger
Heide sein. Ich habe den Namen niemals früher
nennen hören, aber aus einem Briefe, den mein Vater
an das dortige Pfarramt geschrieben hat, geht hervor,
daß dieses obſkure Nest als Geburtsort meines Bruders
gilt. Damit Sie den Zuſammenhang versſtehen, muß
ich wohl den Bericht meiner Mutter wiedergeben, denn |
Uh jet befand mich bis heute in vollkommener Un-
enntnis.
Der Altuar legte beide Hände auf die Arme des
Sesſels und neigte den Kopf vor. So mochte er bis-
weilen früher über ſchwierigen Akten gesessen haben,
deren verwickelten Inhalt es zu entwirren galt.
î „Erzählen Sie,“ sagte er langſam, „erzählen Sie
ganz genau, wenn ich bitten darf; es kommt vielleicht
1.
auf jedes Wort an.'
Und dann, als George seinen Bericht beendigt hatte,
blieb er noch eine Weile nachdenklich siten und durch-
pihlie mit den langen Fingern die dünnen grauen
haare. te wisſen, George, “ sagte er endlich und ge-
brauchte damit zum erstenmal die vertraulichere An-
]