eſt of.
Da s Buch für Alle.
Als der Wagen das Thor paſſiert hatte und nun
auf der gut gebauten Landſtraße dahinrollte, konnte
Savary es nicht unterlaſſen, ſein Mütchen an der ver-
haßten Modiſtin zu kühlen. :
„Das Exekutionskommando wird doch in Bicétre
bereit ſtehen?“ fragte er Duroc. „Der erſte Konſul
hat beſtimmt, daß die Erſchießung sofort stattfinden
ſoll. Mit Meuchelmördern muß man keine Umſtände
machen. In einer halben Stunde iſt alles vorüber!“
Duroc antwortete nicht, und die verkleidete Frau
in der Ecke ſchüttelte ſich in lautloſem Schluchzen; faſt
hätte man glauben können, ein konvulsiviſches Lachen
erſchüttere ihren Körper.
Savary wendete ſich jetzt direkt an die Frau, die
noch immer das Geſicht verbarg und ſagte in feierlichem
Tone: „Wenn Sie noch etwas auf dieſer Welt zu
ordnen haben, Bürger, dann thun Sie es bald, es
dürſte in kurzer Zeit zu ſpät sein!“
„Aber Savary!“ miſchte ſich jetzt Duroc ein, „wie
kannst du ein armes Weib so ängſtigen!“ Dann wen-
dete er ſich zu der Gefangenen und ſagte: „Bürgerin,
wir wiſſen, daß Sie die Modiſtin Despeaux ſind, die
ſich verkleidet zu Madame begeben hat, obgleich dies
der erſte Konſul ſtreng unterſagte. Sie sind auf seinen
VBefehl verhaftet und werden nach Bicetre gebracht.
Dort werden Sie wohl einige Wochen gefangen gehalten
werden, aber dann wird man Sie laufen laſſen, und
weiter wird Ihnen nichts geſchehen. Wir sind in
_ wenigen Minuten in Bicetre !“
„Dann wird es wohl Zeit sein, an unſer Früh-
î Mtück zu denken!“ ſagte der „Jncroyable“, befreite sein
Geſicht von den Hüllen, die es verbargen und lächelte
Savary freundlich an.
Savary aber saß wie verſteinert. Er blickte in das
Geſicht —~ ſeiner eigenen Frau.
Erſt das Gelächter Durocs weckte ihn aus ſeiner
Erſtarrung. Savary war außer ſich über ſeine Bla-
mage, aber da er ein notoriſcher Pantoffelheld war,
wagte er ſeiner Frau gegenüber nur einige matte Vor-
würfe. :
Ü au Savary beantwortete dieſelben einfach damit,
daß sie erklärte: „Madame liebt es, mit den Damen
ihrer Umgebung kleine Theaterſtücke aufzuführen, und
zu einem ſolchen, das heißt zu einer Probe, hatte ich
mich koſtümiert. Plötzlich höre ich Hilferufe der Diener-
schaft, ſehe Männer in das Zimmer der Kaiſerin ein-
dringen und verberge mich instinktiv hinter einem Vor-
hange. Dort ziehſt du mich hervor und verhafteſt
mich. Um dich vor den Gendarmen nicht zu blamieren,
schwieg ich. Als ich aber erſt im Wagen ſsaß, wollte
ich dich einmal prüfen und beobachten !“ ;
: „Der erſte Konſul, “ sagte Savary ſeufzend, „wird
gaujgßer ſich ſein !“
„Nein !“ erklärte Duroc, „er wird fürchterlich lachen,
wie er es immer thut, wenn einer seiner Leute über-
tölpelt wird. Er iſt ein wenig ſchadenfroh, der gute
Bonaparte! Ich werde es übernehmen, ihn über deinen
Jehlgriff zu unterrichten, lieber Savaryl“.
„Und diese Beſtie, die Despeaux?“ fragte Savary
t Fr..e gar nicht in den Tuilerien, ſie war ge-
warte! my wußte nun, daß sein Auftrag gegen die
îDegpeaux der Gemahlin des erſten Konſuls verraten
worden war, und daß die Damen ihm einen Streich
hpieu hatten. Er ſchwieg, obgleich er außer ſich vor
orn war.
Der Wagen machte vor Bicétre Kehrt und fuhr
nach Paris zurück.
Napoleon lachte in Wirklichkeit faſt eine halbe
Stunde lang über den „Reinfall“ Savarys, dann aber |
überlegte er, daß das „Komplott der Weiber“ nicht
nur gegen Savary, sondern auch gegen den ersten
Konqul gerichtet war. .., ;
Die Frauen durften den Sieg nicht behalten! Bona-
parte rief einen Gendarmerieofſizier herbei und befahl
ihm, die Modiſtin Despeaux in ihrem Atelier sofort
zu verhaften und nach Bicetre zu bringen, weil sie
gegen den ausdrücklichen Befehl in den Tuilerien ge-
> weſen ſei und mit Madame Geſchäfte gemacht habe.
Zwei Stunden ſpäter ſaßk Frau Despeaux im Ge-
läugtus. . Ycrhaftang erregte großes Aufsehen in Paris, “
ſo schildert ein damaliger Chronist die Verhältnisse,
„und viele Freundinnen Joſephines beſuchten die arme
Märtyrerin in ihrem Gefängnis. Ü
Bonaparte aber beluſtigte ſich höchlichſt über die
große Teilnahme, die der „Haubenverderberin“ erwiesen
wurde.
Nach vierzehn Tagen wurde die Despeaux entlassen
und wurde ſofort wieder ~ die Lieferantin Joſephines.
Letztere machte weiter Schulden, auch als Kaiserin,
trotzdem ihr in dieſer Stellung Millionen zur Ver-
fügung ſtanden. Noch als geſchiedene Frau Napoleons
wund nach dem Sturze desſelben hatte ſie Schulden,
.. *) Hiſtoriſch.
welche nach der Einnahme von Paris durch die Ver-
bündeten von Kaiſer Alexander von Rußland für sie
bezahlt wurden.
Der Zwiſcheufall auf der Präſidententribüue bei
dem Renuen in Autenuil.
(Siehe das Bild auf Seite 656.)
m 4. Juni iſt es auf dem Rennplay zu Auteuil bei Paris
zu einem gewaltigen Skandal gekommen, den das elegante
und aristokratiſche Stammpublikum der Rennplätze, durchweg
Royaliſten und Gegner der vom Kaſsationshofe besſchloſſenen
Reviſion des Dreyfus-Prozesſſes, gegen das Oberhaupt der
franzöſiſchen Republik angestiftet hatte. Präsident Loubet
traf an jenem Sonntage um 2?/4 Uhr nachmittags in offenem
Landauer auf dem Rennplatze ein. Unterwegs wurde sein
Wagen von der längs des Weges stehenden Menge beifällig
begrüßt. Kaum aber bestieg Loubet die offizielle Tribüne,
als aus verſchiedenen dort harrenden Gruppen die Rufe: „Hoch
die Armee! — Nieder mit Loubet! –~ Panama!“ ersſchollen.
Das ganze vieltauſendköpfige Publikum des Rennplatzes schien
mit einemmal in zwei Heerlager geteilt. Auf der einen
Seite brüllte man „Hoch!“", auf der anderen: „Nieder mit
Loubet!" Peoliziſten stürzten herbei, um die Anſtifter des
unerwarteten Zwiſchenfalls zu verhaften, und es entstand ein
ungeheurer Tumult. Inzwischen hatte der Präſident die
Tribüne erstiegen und sich in den Kreis der dort bereits
versammelten Minister und ihrer Damen begeben. Plötlich
erſtirmte der Baron Christiani, der Sohn eines Generals
aus den Tagen des Kaiserreiches, die Tribüne und ſuchte bis
zum Präsidenten vorzudringen. In der linken Hand hielt
er ſeinen Cylinder, während seine Rechte einen Spazierstock
ſchwang, mit dem er nach dem Präſidenten ſchlug (ſiehe unser
Bild auf S 656). Ein Hieb ſtreifte den Cylinder Loubets,
aber ſchon im nächsten Augenblick gelang es der Umgebung
des Präsidenten, Chriſtiani zurückzudrängen und den Polizei-
beamten zu übergeben, wobei er in dem Handgemenge blutig
geschlagen wurde. Auch andere Ariſtokraten, die alle eine
weiße Neike im Knopfloch trugen, und zahlreiche andere Per-
ſonen wurden verhaftet. Dreißig Gardisten rückten an und
verstärkten die Wache der Präſidententribüne, auf der ſich
um Loubet außer den Ministern die Generale Zurlinden
und Bailloud sowie Frau Loubet und die Gattinnen der
Minister ſcharten. Loubet blieb von allen am ruhigsten und
bedauerte an dem Vorfall hauptſächlich den schlechten Ein-
druck, den er auf die vielen anwesenden Fremden machen
müſſe. Der Tumult dauerte fort, bis endlich zwei Schwadronen
Kavallerie eintrafen, die man telephoniſch herbeigerufen
hatte. Als Loubet um 41!/e Uhr den Rennplatz verließ,
erneuerte ſich der Skandal. Der Wagen des Präſidenten
wurde mit Eiern beworfen, die mehrere seiner Begleiter
trafen und beschmußten. Im ganzen wurden in Auteuil
1:35 Verhaftungen vorgenommen und aufrecht erhalten. Von
den Verhofteten iſt Baron Chriſtiani vom Zuchtpolizeigerichts-
hof am 183. Juni zu vierjähriger Kerkerſtrafe verurteilt wor-
den. Der Vorfall hat indirekt den Rücktritt des Ministeriums
Dupuy zur Folge gehabt. Um nämlich für das Rennen
um den „Grand-Prix“ in Longchamp am folgenden Sonn-
tag die Wiederholung einer monarchiſtiſchen Ausſchreitung
unmöglich zu machen, hatte Miniſterpräſident Dupuy als
Minister des Innern eine gewaltige Truppenmacht aufgeboten
und Polizeianordnungen getroffen, die weit über das Ziel
hinausſchoſſen. Es kam allerdings eine große Kundgebung
zu Gunsten Loubets und der Republik zu stande, allein zu-
gleich wurde von allen Seiten über Mißgriffe und allzu große
Schärfe der Polizei geklagt. In der Kammer brachten am
12. Juni Vaillant und andere Sozialisten die Angelegenheit
zur Sprache; die von der Regierung abgelehnte Tagesordnung
Ruau ward von ſeiten der Kammer angenommen, worauf
nach Schluß der Sitzung das Kabinett dem Präſidenten sein
Entlassungsgeſuch überreichte, das angenommen wurde.
Nur Mut!
(Siehe das Bild auf Seite 657.)
N“ einſt König Friedrich Wilhelm IV. den erſten Eisen-
bahnzug in seinem Lande dahinrollen sah, brach er in
die Worte aus: „Diesen Karren hält keine Macht der Welt
mehr auf!" Seinem Sinne nach läßt ſich dieser Ausspruch
auch auf die wahrhaft erſtaunliche Entwickelung anwenden, die
der Fahrradſport in den leßten Jahren vor unseren Augen
genommen hat. Das Symbol des zu Ende gehenden Jahr-
hunderts, das ja nach einem bekannten Ausspruche „im
Zeichen des Verkehrs" steht, hat man nicht unzutreffend das
geflügelte Rad genannt, das in seinem Siegeslaufe immer
weiter vordringt. :
„Und weil es stets moderner wird,
Hat jeder bald sein Rädchen,
Die Menſchheit radelt unbeirrt,
Egal, ob Mann, ob Mädchen.
Es radelt, was da Beine hat, ;
In Feld und Wald, in Dorf und Stadt,
Und niemand wird's mehr tadeln,
Daß auch die Weiblein radeln."
Eine launige Jlluſtration zu dieſen Verſen giebt unser
hübſches Bild auf S. 657. Auf einer längeren Radlertour
haben drei Städter, ein Herr und zwei junge Damen, vor
dem Wirtshauſe eines Dorfes Halt gemacht, um ihren Durſt
zu löschen und nach der flotten Fahrt auf sonniger Land-
straße etwas zu raſten. Während Rosel, die dralle Kellnerin,
die Gäste bedient, betrachtet ſie neugierig und verlangend |
die Stahlrosſſe, ſo daß der junge Mann ſich nicht enthalten
kann, ihr den Vorſchlag zu machen, sie möge das Radeln
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doch auch einmal verſuchen. Couragiert, wie die Rosel iſt,
läßt ſie ſich das nicht zweimal sagen. Entschlossen ſchwingt
ſie ſich auf das Rad, und kaum bedarf es seines Zuſpruches:
„Nur Mut!“ Von dem jungen Herrn geſtützt und geleitet,
beginnt sie tapfer die Pedale zu treten und ſtrahlt vor Ver-
gnügen darüber, daß die Sache so leicht geht. Die beiden
Radlerinnen ſchauen lächelnd zu, und der Wirt, der mit
über dem Bäuchlein gefalteten Händen unter der Thür ſteht,
betrachtet staunend Roſels ersten Versuch. Nur die beiden
Hühner flüchten entsetzt zur Seite, und der kleine Spitz, der
ſich die Sache nicht erklären kann, beginnt laut zu bellen.
Der Humeoriſt Julius Stettenheim hat in der That recht,
wenn er behauptet: „Das weibliche Geſchlecht iſt noch nicht
dem männlichen gleichgestellt, aber die Kameradlerſchaft
iſt erreicht.' ; .
Dir Ratlzenfarm.
Cine amerikaniſche Reiſeerinnerung. Von Robert Kralk.
(Nachdruck verboten.)
: uf einer Reiſe durch Texas mußte ich, um die
| Ciſenbahnlinie zu wechſeln, die Poſt benuteenn.
H Auf dem sehr ſchlechten Wege zwiſchen Hender-
son und Athens brach die Wagenachſe, und
nun standen wir beide, der Kutſcher und ich als der
einzige Paſſagier, bei einbrechender Nacht hilflos in
einer menſchenverlaſſenen Wildnis da. So glaubte ich
für mein Teil wenigstens, denn seit dem Mittag hatte
ich noch nichts anderes geſehen, als links und rechts
vom Wege Urwald oder undurchdringlichen Buſch, keine
Ansiedelung, keine Hütte, keinen Menſchen. So war
es auch noch jet, und der Poſtillon, der ſich ver-
drießlich in den Haaren kratte und den Wagen be:
trachtete, machte ganz den Eindruck, als wüßte er auch
keinen Rat. Bis zur Nachtſtation, wo die Poſtpferde
gewechſelt wurden, waren es noch zwei Stunden.
„Ja, Sir, die Achſe iſt gebrochen, das iſt ein
Faktum, “ sagte der Mann endlich nachdenllich.
kann die Poſt nicht im Stich laſſen. Es hilft nichts,
da müſſen Sie wohl nach der Katzenfarm hinüberlagufen
~ 's iſt nur zehn Minuten. Erzählen Sie dort, was
paſſiert iſt, die auf der Farm haben alles Nötige. Zu
Bill, dem Poſtillon, sollen ſie kommen, und wenn die
Nigger in einer halben Stunde nicht hier ſind, dann
ſoll ſie.. .!
Ein wenig frommer Wunſch ſchloß den Saz.
Also nur zehn Minuten entfernt war eine Farm.
Ich sah im Mondſchein den ſchmalen Fußpfad, der ſich
von der Straße abzweigte. Von der ſtundenlangen
Fahrt in dem elenden, federloſen Wagen durchſchüttelt
und gemartert, war mir die Aussicht, die Reiſe unter-
brechen und die Gaſstfreundſchaft des Farmers für diese
Nacht beanſpruchen zu können, gar nicht unangenehm.
Bill wollte, als ich das ausſp...ch, mein Gepäck auf :
der nächſten Poſiſtation abgeben; auch das Billet blieb
dort, und ich konnte dann morgen früh mit der nächſten
Poſt weiterfahren.
„Iſt nicht nötig, daß Sie etwas mitnehmen,“ fügte
er hinzu, als ich aus meinem Koffer einige Wäſche
auspacken wollte, „kriegen alles dort, die machen ſich
sogar ihre Kleider selber. Der Kayenfarmer iſt auch
ein Deutſcher wie Sie. Er iſt gerade va, kalkuliere
ich, wird sich freuen, einen Landsmann zu treffen.“
_ Ith machte mich auf den Weg, und als ich nach
einigen Minuten aus dem Buſchwerk auf eine Blöße
trat, ſah ich einen Mann gebückt ſtehen, der anſchei-
| nend eine Falle aufstellte. Auf meinen Anruf blickte
er empor, und ich erkannte im Mondlicht einen Neger.
„Nein, gar nicht mehr weit,“ entgegnete er auf
meine Frage nach der Farm, „nur noch einige hundert
Schritte, dann ſehen Sie die Lichter ſchon ſchimmern.
Mein Herr wird ſich ungemein freuen, wenn Sie ihm
die Ehre zu teil werden laſſen, Sie beherbergen zu
itfen.
du Der Neger ſprach ein so reines und gewähltes Eng-
liſch, wie man es kaum bei einem Amerikaner findet,
am allerwenigsten aber bei dieser Raſſe, die ſich ene.
ganz beſonderen Jargons bedient. ; .
„Sie ſind von der Katenfarm?“" fragte ich weiter.
„Zu dienen, mein Herr.“
Ich setzte ihm auseinander, daß der Poſtillon Hilfe
gebrauche.
„Gehen Sie nur voraus, Sie können ſich nicht ver-
irren. Ich bin gleich hier fertig und ſchlage dann
einen bedeutend kürzeren Weg ein, den ich aber dem
| Gentleman nicht zumuten möchte, weil er durch einen
Bach führt. Ich bin vor Ihnen auf der Farm und
werde dafür sorgen, daß dem Poſtillon ſofort Hilfe
zu teil wird, wie ich auch Ihre Ankunft zu melden mir
erlauben werde.“ ,
Fürwahr, wenn alle auf der Katzenfarm ſolch eine
Sprache führten, mußte es dort ſehr gewählt zugehen.
„Ihr Herr iſt ein Deutscher?" Ich hatte mich un-
beabsichtigt des Deutſchen bedient.
Wie eine Feder ſchnellte der Neger auf.
sein auch Deutſchländer?“ rief er mit ſtrahlendem Ge-
ſicht. „Ich gleichfaltigſt Deutschland sprechen thun,
„Jh
„Ah, du