lieft 2
Va8
fluridettstgnkenstück.
f^omgri von js. Oklsl.
l^ottsestu^g.) .- - —— islachdmck ori-dolen.j
Vetter hatte auch keine Damenbe-
W /1M! suche?" erkundigte sich die junge Dame
1/1/1 bei der Wirtin.
F H „?lber, Fräuleinchen — wie kennen
Sie denken, daß ich so was leiden
würde? Keine blasse Idee! Wenn Sie mir nicht
ausdrücklich gesagt hätten, daß Sie seine Base sind
und ihn notwendig sprechen müßten, würde ich es
Ihnen ja auch nicht erlauben, hier auf ihn zu
warten."
„Aber Sie sagten doch vorhin, es wäre wohl
möglich, daß er verliebt ist. Woher, wenn er keine
Damenbesuche empfängt, wollten Sie denn das
wissen?"
„Man hat so seine Anzeichen! Und besonders
in den letzten acht oder zehn Tagen, seitdem er von
der Beerdigung seiner kleinen Verwandten wieder
zurück ist, will mir's gar nicht mehr recht geheuer
mit ihm vorkommen. Er sitzt jeden Abend bis tief
in die Nacht hinein da am Schreibtisch, und fragt
jeden Morgen ganz aufgeregt, ob kein Brief für
ihn gekommen wäre. Außerdem — aber es ist
vielleicht unrecht, daß ich Ihnen das alles so er-
zähle —"
„Was sollte denn Unrechtes daran sein?" fragte
die junge Dame mit einem liebenswürdigen Lächeln,
das alle ihre kleinen weißen, spitzen Vorderzähne
zwischen den roten Lippen aufschimmern ließ. „Vor
mir würde er ohnedies keine Geheimnisse haben,
und dann werde ich's ihm ja auch nicht gleich wie-
der erzählen."
„Ach Gott! Es ist ja auch so harmlos! Er
macht nämlich Gedichte."
„Gedichte? — Hermann? — Mein Vetter Her-
mann? — Haben Sie sie etwa gelesen?"
„Mit meinen eigenen, leibhaftigen Augen, Fräu-
leinchen! Er vergißt nämlich manchmal, den Schlüssel
von seinem Schreibtisch abzuziehen — da, heute
steckt er ja auch wieder in dem Schloß der Roll-
jalousie, wie Sie sehen. Und wenn mir's auch nicht
einfällt, den Geheimnissen meiner Zimmerherren
nachzuspüren, so wollte ich doch die Gelegenheit
benützen, um unter seinen Papieren ein bißchen
Ordnung zu machen. Dabei ist mir denn das Blatt
mit den Versen in die Hände gefallen."
„Und diese Verse waren an ein Mädchen ge-
richtet?"
„Freilich! Und sie waren sehr schön! Leider
habe ich bloß die beiden ersten Zeilen behalten. Die
hießen:
Ich liebe deines Haares schwarze Fluten
Und deiner Kinderaugen reinen Glanz
Ist das nicht sehr poetisch?"
„Außerordentlich! Ich hätte meinem Vetter
solche Talente wahrhaftig nicht zugetraut. — Sie
meinen also, daß er bald nach Haus kommen wird?"
„Ein kleines halbes Stündchen kann wohl noch
darüber vergehen. Wenn Sie vielleicht lieber drüben
in meiner Wohnstube warten wollen, Fräuleinchen
— ich habe nämlich noch etwas Eiliges zu tun."
„Nein — nein, liebe Frau, wenn Sie nichts da-
gegen einzuwenden haben, bleibe ich schon lieber
hier. Aber ich bitte Sie dringend, sich durch mich
nicht länger aufhalten zu lassen. Da liegen ja
Bücher — ich werde mir mit einem von ihnen die
Zeit vertreiben, bis Hermann kommt."
Die Frau war es zufrieden und zog sich zurück.
Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte,
ging auf dem Gesicht des jungen Mädchens eine
seltsame Veränderung vor. Sie preßte die Lippen
zusammen, zwischen ihren dunklen Brauen erschien
ein feines Fältchen, und von den Nasenflügeln zu
den Mundwinkeln herab zogen sich ein paar scharf
eingeschnittene Linien, die einen augenfälligen Zug
von Leidenschaftlichkeit und Grausamkeit in das
hübsche Mädchenantlitz brachten.
Noch zwei oder drei Sekunden lang blieb sie
lauschend stehen, wie um sich zu vergewissern, daß
die Wirtin wirklich in eines der anderen Zimmer
eingetreten sei, dann war sie mit einigen raschen
Schritten an dem Schreibtisch und hatte die unver-
sicherte Rolljalousie in die Höhe geschoben.
Auf der Platte lagen ein paar beschriebene Pa-
piere, und das Licht des sinkenden Tages wav eben
noch stark genug, um dem Mädchen das Lesen zu
gestatten. Eilig irrten ihre Augen über die Blätter
hin; aber sie schien von der Ausbeute ihrer Nach-
forschungen noch nicht ganz befriedigt, da sie nun
auch die einzelnen Schubfächer aufzuziehen und auf
ihren Inhalt zu prüfen begann. Jeden Brief und
i: Vg5 buch füi-Mle .. .
jedes lose Blatt, das ihr in die Hände fiel, überlas
sie, um es dann entweder beiseite zu werfen oder
zum zweiten und dritten Male zu studieren, wie
wenn sie das, was darauf stand, unauslöschlich ihrem
Gedächtnis einprägen wollte.
In der letzten Schublade, die sie öffnete, lag
eine Photographie, das Bild eines jugendlichen
weiblichen Wesens. Ein Laut gleich einem halb
unterdrückten Aufschrei des Zornes kam von den
Lippen des Mädchens, und sie trat mit ihrem Fund
an das Fenster, um die Züge des anmutigen, feinen
Gesichts besser erkennen zu können. Minuten waren
vergangen, ehe sie sich entschloß, das Porträt an
seinen vorigen Platz Zurückzulegen und die Roll-
jalousie wieder über die Schreibtischplatte herabzu-
ziehen. Zwei- oder dreimal ging sie im Zimmer
auf und nieder, wie jemand, der seine aufgeregten
Nerven beruhigen oder mit sich selber über einen
bedeutsamen Entschluß ins reine kommen will. Dann
stellte sie sich vor den zwischen den Fensterpfeilern
angebrachten Spiegel und unterzog ihre eigene Er-
scheinung einer eingehenden Musterung.
Sie hatte sicherlich keine Veranlassung, unzu-
frieden zu sein mit dem, was sie erblickte. Ihre fast
knabenhaft schlanke Gestalt würde sich allerdings
wohl noch anmutiger und eleganter ausgenommen
haben, wenn nicht in ihrer Kleidung so unverkennbar
das Bestreben zu Tage getreten wäre, mit den
billigsten Mitteln den Eindruck des Geputztseins her-
vorzurnfen, und wenn nicht ihre offenbare Vorliebe
für sehr lebhafte bunte Farben einen wenig ge-
läuterten Geschmack bekundet hätte.
Aber wie sie sich jetzt drehte und wendete, wie
sie sich in den Hüften wiegte und wie sie die Arme
erhob, um ihren auffallenden Hut noch koketter auf
dem dunklen Lockenhaar zurechtzurücken, zeigte sie
in jeder Bewegung und Stellung des feingliedrigen
Körpers soviel natürliche Grazie, eine so bewunde-
rungswürdige Biegsamkeit und Elastizität, wie sie
gemeinhin nur Tänzerinnen und Akrobatinnen als
eine angenehme Errungenschaft ihres Berufes zu
eigen wird, und kein Beobachter dieser kleinen Selbst-
bewunderungsszene würde ihrem Gebaren anders
als mit Wohlgefallen, wenn nicht mit Entzücken zu-
gesehen haben.
Die halbe Stunde war vorüber, und die Schatten
der Dämmerung hatten sich schon über das ganze
Zimmer gebreitet, da schlug draußen die Wohnungs-
glocke an und der Klang einer jugendlichen Männer-
stimme wurde vernehmlich. Es war Hermann
Ollendorf, der sich mit der Vermieterin unterhielt
und von ihr über den offenbar unerwarteten Be-
such unterrichtet wurde.
„Eine Base?" hörte ihn das gespannt lauschende
junge Mädchen im Tonfall des höchsten Befremdens
sagen. „Das muß wohl ein Irrtum sein, Frau
Eckert! Sie hätten die Dame nicht in meinem
Zimmer allein lassen sollen."
„Dummkopf!" murmelte die Wartende mit einem
unmutigen Zurückwerfen des Kopfes, und ihre kleinen
nervigen Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten.
Im übrigen aber blieb sie regungslos inmitten des
Zimmers stehen — auch dann noch, als die Tür
aufging, und Hermann Ollendorf auf der Schwelle
erschien.
Trotz der ungewissen Beleuchtung erkannte er
sie auf den ersten Blick. Aber es war sicherlich nicht
Freude, was er bei seiner Entdeckung empfand,
denn indem er hastig die Tür hinter sich ins Schloß
drückte und ein paar Schritte auf sie zu machte,
sagte er statt der Begrüßung: „Du bist es, Violetta!
Habe ich dir nicht verboten, zu mir in meine Woh-
nung zu kommen?"
Ein leises Auflachen kam ihm als Antwort zurück.
„Ein freundlicher Willkomm — das muß wahr sein!
Nachdem wir uns so lange nicht mehr gesehen haben,
hatte ich ihn mir wahrhaftig etwas herzlicher vor-
gestellt."
„Aber da mußtest dir doch denken können, daß
mir diese Überrumpelung unangenehm sein würde.
Meine Wirtin ist eine Frau von strengen Grund-
sätzen, und wenn sie argwöhnt, daß —"
„Daß ich nicht deine Base bin, so wird sie dir
vielleicht kündigen. Das wäre allerdings ein schreck-
liches Unglück! Bist du ihr denn so viel Geld
schuldig?"
„Du solltest dir deine Spöttereien sparen, Vio-
letta! Mir ist jetzt wirklich nicht danach zu Sinn.
Ich hatte dir doch geschrieben, daß ich in diesen
Wochen keine Zeit für dich hätte. Hast du meinen
Brief nicht erhalten?"
„O ja — ich habe ihn erhalten, und eben auf
diesen Brief hin bin ich gekommen, denn ich weiß,
was dergleichen bedeutet. Es sollte der Anfang
vom Ende sein — nicht wahr, mein Lieber?"
Er blieb ihr die Antwort schuldig und stellte sich
schweigend ans Fenster, seiner Besucherin den Rücken
zuwendend.
- ..- 35
Violetta wartete eine kleine Weile, dann sagte
sie scheinbar ruhig: „Möchtest du nicht Licht machen,
Hermann? Ich liebe es, die Gesichter der Leute
zu sehen, mit denen ich rede."
Mit sichtlichem Widerstreben kam er ihrem Ver-
langen nach und entzündete die bereits auf dem
Tische stehende Lampe. Aber er vermied es noch
immer, zu ihr hinüberzublicken.
„Willst du mich nicht wenigstens ansehen?"
fragte sie wieder. „Was habe ich denn so Unver-
zeihliches verbrochen, daß ich dessen nicht mehr wert
bin? Oder ist es dein schlechtes Gewissen, das dich
daran hindert?"
Nun schaute er auf. „Mein Gewissen ist nie-
mals ruhiger gewesen als jetzt, wo ich mich ent-
schlossen habe, ein anderes Leben anzufangen."
„In der Tat? Ich wünsche dir Glück dazu.
Aber darf man vielleicht auch erfahren, wie dies andere
Leben aussehen soll? Du wirst doch wohl zugeben,
daß ich ein wenig daran interessiert bin."
„Es wird das Leben eines ordentlichen und
arbeitsamen Menschen sein, Violetta — eines Men-
schen, der seine Ziele fest im Auge behält und sich
auf seinem Wege durch nichts mehr beirren läßt."
„O — das ist mir zu hoch! Du darfst nicht ver-
gessen, daß ich nur ein einfaches Mädchen bin und
keine höhere Töchterschule besucht habe. Im Zirkus-
wagen lernt man es nicht, mit so hochtrabenden
Redensarten um sich zu werfeu."
„Aber man lernt dafür wohl manches andere,
was einem jungen Mädchen besser verborgen bliebe."
„Willst du mir eineu Vorwurf daraus machen?
Es will mir scheinen, als ob dir's früher ganz recht
so gewesen wäre."
„Früher — früher! Ich sage dir doch, daß ich
meine Vergangenheit von mir abgetan und ein
neues Leben begonnen habe."
„In dem für mich kein Platz mehr ist — nicht
wahr? Es wäre viel hübscher, wenn du wenigstens
den Mut hättest, ganz aufrichtig zu sein."
„Ich hatte gehofft, daß du mir diese Aussprache
ersparen, daß du mich auch ohne das verstehen
würdest."
„Das wäre ja allerdings ungleich bequemer und
angenehmer für dich gewesen. Aber so einfach sind
solche Dinge denn doch nicht abzumachen. Man
kann einem Mädchen nicht heute mit tausend Eiden
schwören, es zu heiraten, um ihm dann morgen den
Laufpaß zu geben. Mir wenigstens darf man so
nicht mitspielen — mir nicht!"
Nur um ein Geringes hatte sie ihre Stimme
erhoben, aber es war ein Klang von stählerner Härte
darin, etwas von jener ruhigen Bestimmtheit, die
überzeugender für eine unbeugsame Entschlossenheit
spricht, als die stärksten Drohungen.
So mußten ihre Worte auch aus deu jungen
Techniker gewirkt haben, denn er bemühte sich, einen
anderen, freundlich beschwichtigenden Ton anzu-
schlagen. „Laß uns vernünftig miteinander reden,
Violetta! Ich bin dir gewiß von Herzen dankbar
für alle Liebe, die du mir erwiesen hast, und wenn
es sich um weiter nichts handelte als darum, dir
ein Opfer zu bringen, würde ich mich in der Er-
innerung an das, was zwischen uns gewesen ist,
sicherlich nicht einen Augenblick besinnen. Aber es
ist meine ganze Zukunft, die hier auf dem Spiele
steht, und daß ich mein Leben lang unglücklich sein
sollte, nur weil ich mich einmal — getäuscht habe,
das wirst du doch nicht von mir verlangen?"
„Und ich? — Daß ich mein Leben lang unglücklich
sein soll, hat natürlich nichts zu bedeuten."
„Du wirst nicht unglücklich sein, Violetta! Wenn
man jung und schön und liebenswürdig ist, wie du,
findet man leicht einen Ersatz. Und du kannst nur
einen guten Tausch dabei machen. Denn was hätte
ich dir zu bieten gehabt? Ich bin ein armer Teufel,
und ein Leben, wie du dir's wünschest, hätte ich dir
wohl niemals verschaffen können."
„Weißt du mit einem Male so genau, was ich
mir wünsche? Habe ich dir's vielleicht gesagt?"
„Dessen bedurfte es nicht. Hast du vergessen,
unter welchen Umständen wir uns kennen gelernt
haben — und wie oft ich dich vergebens gebeten
habe, deine unersättliche Vergnügungssucht zu zügeln,
weil ich mich in Schulden stürzen mußte, um ihr
Genüge zu tun?"
„Es ist sehr ritterlich, mir das jetzt zum Vor-
wurf zu machen. Außerdem ist es eine Unwahrheit.
Hättest du mir nicht immer von deinem reichen
Onkel gesprochen, der dich unterstützt und dessen
Millionen du eines Tages erben wirst, so würde es
mir nicht eingefallen sein, Opfer von dir anzu-
nehmen."
„Das ist wieder eine von deinen gewohnten Ver-
drehungen, Violetta! Du allein bist cs gewesen,
die immer und immer wieder auf diesen Onkel
zurückkam, von dem ich am liebsten schon längst keinen
Pfennig mehr angenommen hätte. Und was die
Va8
fluridettstgnkenstück.
f^omgri von js. Oklsl.
l^ottsestu^g.) .- - —— islachdmck ori-dolen.j
Vetter hatte auch keine Damenbe-
W /1M! suche?" erkundigte sich die junge Dame
1/1/1 bei der Wirtin.
F H „?lber, Fräuleinchen — wie kennen
Sie denken, daß ich so was leiden
würde? Keine blasse Idee! Wenn Sie mir nicht
ausdrücklich gesagt hätten, daß Sie seine Base sind
und ihn notwendig sprechen müßten, würde ich es
Ihnen ja auch nicht erlauben, hier auf ihn zu
warten."
„Aber Sie sagten doch vorhin, es wäre wohl
möglich, daß er verliebt ist. Woher, wenn er keine
Damenbesuche empfängt, wollten Sie denn das
wissen?"
„Man hat so seine Anzeichen! Und besonders
in den letzten acht oder zehn Tagen, seitdem er von
der Beerdigung seiner kleinen Verwandten wieder
zurück ist, will mir's gar nicht mehr recht geheuer
mit ihm vorkommen. Er sitzt jeden Abend bis tief
in die Nacht hinein da am Schreibtisch, und fragt
jeden Morgen ganz aufgeregt, ob kein Brief für
ihn gekommen wäre. Außerdem — aber es ist
vielleicht unrecht, daß ich Ihnen das alles so er-
zähle —"
„Was sollte denn Unrechtes daran sein?" fragte
die junge Dame mit einem liebenswürdigen Lächeln,
das alle ihre kleinen weißen, spitzen Vorderzähne
zwischen den roten Lippen aufschimmern ließ. „Vor
mir würde er ohnedies keine Geheimnisse haben,
und dann werde ich's ihm ja auch nicht gleich wie-
der erzählen."
„Ach Gott! Es ist ja auch so harmlos! Er
macht nämlich Gedichte."
„Gedichte? — Hermann? — Mein Vetter Her-
mann? — Haben Sie sie etwa gelesen?"
„Mit meinen eigenen, leibhaftigen Augen, Fräu-
leinchen! Er vergißt nämlich manchmal, den Schlüssel
von seinem Schreibtisch abzuziehen — da, heute
steckt er ja auch wieder in dem Schloß der Roll-
jalousie, wie Sie sehen. Und wenn mir's auch nicht
einfällt, den Geheimnissen meiner Zimmerherren
nachzuspüren, so wollte ich doch die Gelegenheit
benützen, um unter seinen Papieren ein bißchen
Ordnung zu machen. Dabei ist mir denn das Blatt
mit den Versen in die Hände gefallen."
„Und diese Verse waren an ein Mädchen ge-
richtet?"
„Freilich! Und sie waren sehr schön! Leider
habe ich bloß die beiden ersten Zeilen behalten. Die
hießen:
Ich liebe deines Haares schwarze Fluten
Und deiner Kinderaugen reinen Glanz
Ist das nicht sehr poetisch?"
„Außerordentlich! Ich hätte meinem Vetter
solche Talente wahrhaftig nicht zugetraut. — Sie
meinen also, daß er bald nach Haus kommen wird?"
„Ein kleines halbes Stündchen kann wohl noch
darüber vergehen. Wenn Sie vielleicht lieber drüben
in meiner Wohnstube warten wollen, Fräuleinchen
— ich habe nämlich noch etwas Eiliges zu tun."
„Nein — nein, liebe Frau, wenn Sie nichts da-
gegen einzuwenden haben, bleibe ich schon lieber
hier. Aber ich bitte Sie dringend, sich durch mich
nicht länger aufhalten zu lassen. Da liegen ja
Bücher — ich werde mir mit einem von ihnen die
Zeit vertreiben, bis Hermann kommt."
Die Frau war es zufrieden und zog sich zurück.
Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte,
ging auf dem Gesicht des jungen Mädchens eine
seltsame Veränderung vor. Sie preßte die Lippen
zusammen, zwischen ihren dunklen Brauen erschien
ein feines Fältchen, und von den Nasenflügeln zu
den Mundwinkeln herab zogen sich ein paar scharf
eingeschnittene Linien, die einen augenfälligen Zug
von Leidenschaftlichkeit und Grausamkeit in das
hübsche Mädchenantlitz brachten.
Noch zwei oder drei Sekunden lang blieb sie
lauschend stehen, wie um sich zu vergewissern, daß
die Wirtin wirklich in eines der anderen Zimmer
eingetreten sei, dann war sie mit einigen raschen
Schritten an dem Schreibtisch und hatte die unver-
sicherte Rolljalousie in die Höhe geschoben.
Auf der Platte lagen ein paar beschriebene Pa-
piere, und das Licht des sinkenden Tages wav eben
noch stark genug, um dem Mädchen das Lesen zu
gestatten. Eilig irrten ihre Augen über die Blätter
hin; aber sie schien von der Ausbeute ihrer Nach-
forschungen noch nicht ganz befriedigt, da sie nun
auch die einzelnen Schubfächer aufzuziehen und auf
ihren Inhalt zu prüfen begann. Jeden Brief und
i: Vg5 buch füi-Mle .. .
jedes lose Blatt, das ihr in die Hände fiel, überlas
sie, um es dann entweder beiseite zu werfen oder
zum zweiten und dritten Male zu studieren, wie
wenn sie das, was darauf stand, unauslöschlich ihrem
Gedächtnis einprägen wollte.
In der letzten Schublade, die sie öffnete, lag
eine Photographie, das Bild eines jugendlichen
weiblichen Wesens. Ein Laut gleich einem halb
unterdrückten Aufschrei des Zornes kam von den
Lippen des Mädchens, und sie trat mit ihrem Fund
an das Fenster, um die Züge des anmutigen, feinen
Gesichts besser erkennen zu können. Minuten waren
vergangen, ehe sie sich entschloß, das Porträt an
seinen vorigen Platz Zurückzulegen und die Roll-
jalousie wieder über die Schreibtischplatte herabzu-
ziehen. Zwei- oder dreimal ging sie im Zimmer
auf und nieder, wie jemand, der seine aufgeregten
Nerven beruhigen oder mit sich selber über einen
bedeutsamen Entschluß ins reine kommen will. Dann
stellte sie sich vor den zwischen den Fensterpfeilern
angebrachten Spiegel und unterzog ihre eigene Er-
scheinung einer eingehenden Musterung.
Sie hatte sicherlich keine Veranlassung, unzu-
frieden zu sein mit dem, was sie erblickte. Ihre fast
knabenhaft schlanke Gestalt würde sich allerdings
wohl noch anmutiger und eleganter ausgenommen
haben, wenn nicht in ihrer Kleidung so unverkennbar
das Bestreben zu Tage getreten wäre, mit den
billigsten Mitteln den Eindruck des Geputztseins her-
vorzurnfen, und wenn nicht ihre offenbare Vorliebe
für sehr lebhafte bunte Farben einen wenig ge-
läuterten Geschmack bekundet hätte.
Aber wie sie sich jetzt drehte und wendete, wie
sie sich in den Hüften wiegte und wie sie die Arme
erhob, um ihren auffallenden Hut noch koketter auf
dem dunklen Lockenhaar zurechtzurücken, zeigte sie
in jeder Bewegung und Stellung des feingliedrigen
Körpers soviel natürliche Grazie, eine so bewunde-
rungswürdige Biegsamkeit und Elastizität, wie sie
gemeinhin nur Tänzerinnen und Akrobatinnen als
eine angenehme Errungenschaft ihres Berufes zu
eigen wird, und kein Beobachter dieser kleinen Selbst-
bewunderungsszene würde ihrem Gebaren anders
als mit Wohlgefallen, wenn nicht mit Entzücken zu-
gesehen haben.
Die halbe Stunde war vorüber, und die Schatten
der Dämmerung hatten sich schon über das ganze
Zimmer gebreitet, da schlug draußen die Wohnungs-
glocke an und der Klang einer jugendlichen Männer-
stimme wurde vernehmlich. Es war Hermann
Ollendorf, der sich mit der Vermieterin unterhielt
und von ihr über den offenbar unerwarteten Be-
such unterrichtet wurde.
„Eine Base?" hörte ihn das gespannt lauschende
junge Mädchen im Tonfall des höchsten Befremdens
sagen. „Das muß wohl ein Irrtum sein, Frau
Eckert! Sie hätten die Dame nicht in meinem
Zimmer allein lassen sollen."
„Dummkopf!" murmelte die Wartende mit einem
unmutigen Zurückwerfen des Kopfes, und ihre kleinen
nervigen Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten.
Im übrigen aber blieb sie regungslos inmitten des
Zimmers stehen — auch dann noch, als die Tür
aufging, und Hermann Ollendorf auf der Schwelle
erschien.
Trotz der ungewissen Beleuchtung erkannte er
sie auf den ersten Blick. Aber es war sicherlich nicht
Freude, was er bei seiner Entdeckung empfand,
denn indem er hastig die Tür hinter sich ins Schloß
drückte und ein paar Schritte auf sie zu machte,
sagte er statt der Begrüßung: „Du bist es, Violetta!
Habe ich dir nicht verboten, zu mir in meine Woh-
nung zu kommen?"
Ein leises Auflachen kam ihm als Antwort zurück.
„Ein freundlicher Willkomm — das muß wahr sein!
Nachdem wir uns so lange nicht mehr gesehen haben,
hatte ich ihn mir wahrhaftig etwas herzlicher vor-
gestellt."
„Aber da mußtest dir doch denken können, daß
mir diese Überrumpelung unangenehm sein würde.
Meine Wirtin ist eine Frau von strengen Grund-
sätzen, und wenn sie argwöhnt, daß —"
„Daß ich nicht deine Base bin, so wird sie dir
vielleicht kündigen. Das wäre allerdings ein schreck-
liches Unglück! Bist du ihr denn so viel Geld
schuldig?"
„Du solltest dir deine Spöttereien sparen, Vio-
letta! Mir ist jetzt wirklich nicht danach zu Sinn.
Ich hatte dir doch geschrieben, daß ich in diesen
Wochen keine Zeit für dich hätte. Hast du meinen
Brief nicht erhalten?"
„O ja — ich habe ihn erhalten, und eben auf
diesen Brief hin bin ich gekommen, denn ich weiß,
was dergleichen bedeutet. Es sollte der Anfang
vom Ende sein — nicht wahr, mein Lieber?"
Er blieb ihr die Antwort schuldig und stellte sich
schweigend ans Fenster, seiner Besucherin den Rücken
zuwendend.
- ..- 35
Violetta wartete eine kleine Weile, dann sagte
sie scheinbar ruhig: „Möchtest du nicht Licht machen,
Hermann? Ich liebe es, die Gesichter der Leute
zu sehen, mit denen ich rede."
Mit sichtlichem Widerstreben kam er ihrem Ver-
langen nach und entzündete die bereits auf dem
Tische stehende Lampe. Aber er vermied es noch
immer, zu ihr hinüberzublicken.
„Willst du mich nicht wenigstens ansehen?"
fragte sie wieder. „Was habe ich denn so Unver-
zeihliches verbrochen, daß ich dessen nicht mehr wert
bin? Oder ist es dein schlechtes Gewissen, das dich
daran hindert?"
Nun schaute er auf. „Mein Gewissen ist nie-
mals ruhiger gewesen als jetzt, wo ich mich ent-
schlossen habe, ein anderes Leben anzufangen."
„In der Tat? Ich wünsche dir Glück dazu.
Aber darf man vielleicht auch erfahren, wie dies andere
Leben aussehen soll? Du wirst doch wohl zugeben,
daß ich ein wenig daran interessiert bin."
„Es wird das Leben eines ordentlichen und
arbeitsamen Menschen sein, Violetta — eines Men-
schen, der seine Ziele fest im Auge behält und sich
auf seinem Wege durch nichts mehr beirren läßt."
„O — das ist mir zu hoch! Du darfst nicht ver-
gessen, daß ich nur ein einfaches Mädchen bin und
keine höhere Töchterschule besucht habe. Im Zirkus-
wagen lernt man es nicht, mit so hochtrabenden
Redensarten um sich zu werfeu."
„Aber man lernt dafür wohl manches andere,
was einem jungen Mädchen besser verborgen bliebe."
„Willst du mir eineu Vorwurf daraus machen?
Es will mir scheinen, als ob dir's früher ganz recht
so gewesen wäre."
„Früher — früher! Ich sage dir doch, daß ich
meine Vergangenheit von mir abgetan und ein
neues Leben begonnen habe."
„In dem für mich kein Platz mehr ist — nicht
wahr? Es wäre viel hübscher, wenn du wenigstens
den Mut hättest, ganz aufrichtig zu sein."
„Ich hatte gehofft, daß du mir diese Aussprache
ersparen, daß du mich auch ohne das verstehen
würdest."
„Das wäre ja allerdings ungleich bequemer und
angenehmer für dich gewesen. Aber so einfach sind
solche Dinge denn doch nicht abzumachen. Man
kann einem Mädchen nicht heute mit tausend Eiden
schwören, es zu heiraten, um ihm dann morgen den
Laufpaß zu geben. Mir wenigstens darf man so
nicht mitspielen — mir nicht!"
Nur um ein Geringes hatte sie ihre Stimme
erhoben, aber es war ein Klang von stählerner Härte
darin, etwas von jener ruhigen Bestimmtheit, die
überzeugender für eine unbeugsame Entschlossenheit
spricht, als die stärksten Drohungen.
So mußten ihre Worte auch aus deu jungen
Techniker gewirkt haben, denn er bemühte sich, einen
anderen, freundlich beschwichtigenden Ton anzu-
schlagen. „Laß uns vernünftig miteinander reden,
Violetta! Ich bin dir gewiß von Herzen dankbar
für alle Liebe, die du mir erwiesen hast, und wenn
es sich um weiter nichts handelte als darum, dir
ein Opfer zu bringen, würde ich mich in der Er-
innerung an das, was zwischen uns gewesen ist,
sicherlich nicht einen Augenblick besinnen. Aber es
ist meine ganze Zukunft, die hier auf dem Spiele
steht, und daß ich mein Leben lang unglücklich sein
sollte, nur weil ich mich einmal — getäuscht habe,
das wirst du doch nicht von mir verlangen?"
„Und ich? — Daß ich mein Leben lang unglücklich
sein soll, hat natürlich nichts zu bedeuten."
„Du wirst nicht unglücklich sein, Violetta! Wenn
man jung und schön und liebenswürdig ist, wie du,
findet man leicht einen Ersatz. Und du kannst nur
einen guten Tausch dabei machen. Denn was hätte
ich dir zu bieten gehabt? Ich bin ein armer Teufel,
und ein Leben, wie du dir's wünschest, hätte ich dir
wohl niemals verschaffen können."
„Weißt du mit einem Male so genau, was ich
mir wünsche? Habe ich dir's vielleicht gesagt?"
„Dessen bedurfte es nicht. Hast du vergessen,
unter welchen Umständen wir uns kennen gelernt
haben — und wie oft ich dich vergebens gebeten
habe, deine unersättliche Vergnügungssucht zu zügeln,
weil ich mich in Schulden stürzen mußte, um ihr
Genüge zu tun?"
„Es ist sehr ritterlich, mir das jetzt zum Vor-
wurf zu machen. Außerdem ist es eine Unwahrheit.
Hättest du mir nicht immer von deinem reichen
Onkel gesprochen, der dich unterstützt und dessen
Millionen du eines Tages erben wirst, so würde es
mir nicht eingefallen sein, Opfer von dir anzu-
nehmen."
„Das ist wieder eine von deinen gewohnten Ver-
drehungen, Violetta! Du allein bist cs gewesen,
die immer und immer wieder auf diesen Onkel
zurückkam, von dem ich am liebsten schon längst keinen
Pfennig mehr angenommen hätte. Und was die