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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 7
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0166
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148- n
v. Helling vor Maries Einsegnung mir übergab, war,
wie ich später erfuhr, von ihr selbst behufs Geheimhal-
tung der Abstammung unleserlich gemacht, indem sie
die Namen der Eltern mit Tinte übergoß. Aber die
Unterschrift war erkennbar. Ich schrieb damals an
das betreffende Pfarramt und erbat eine Abschrift
des Taufscheins — ohne Erfolg, da einige Jahre
zuvor ein Teil der Kirchenbücher durch Feuer zer-
stört worden war. So ging jeder Ausweis verloren,
und es blieb mir nichts übrig, als den Konfirmations-
akt auf Grund des vorhandenen Zeugnisses vorzu-
nehmen, wozu ich berechtigt war. — Dieses Papier,
Frau Baroniu, lag unter meinen versiegelten Amts-
geheimnissen, darum konnte mein Sohn es nicht
an sich nehmen, und deshalb erhielten Sie von
ihm nur den Konfirmationsschein, welcher ja man-
gels eines Taufzeugnisses zur Trauung genügt."
Pastor Seller zog seine Brieftasche hervor, wel-
cher er ein versiegeltes Päckchen entnahm.
„Ich habe auf Fräulein v. Hellings Wunsch diese
Paviere durchgelesen, bevor ich sie versiegelte. Hier
ist der Taufschein Maries, auf welchem die Namen
der Eltern durch Tintenflecke unleserlich gemacht
sind. Hier der Trauschein von Joseph Frank und
Marianne v. Mersbach. Und hier eine Niederschrift
des alten Fräuleins, wie sich die Sachen zutrugen,
und unter welchen Umständen sie das Kind in Emp-
fang nahm. Nehmen Sie Einsicht. Und damit habe
ich meine Pflicht erfüllt."
Frau v. Mersbach hielt das Päckchen regungslos
in der Hand. Ihre Finger waren steif und kalt, sie
hatten nicht Beweglichkeit genug, das Siegel zu
lösen.
O, sie wußte ja, daß nichts darin zu lesen stand
als Wahrheit, allerbitterste Wahrheit!
Ihr Sohn hatte seine Nichte geheiratet — mit
doppelten Banden hatte das Schicksal sie beide an
Franks Tochter gefesselt.
Und dieser Enkelin und Schwiegertochter, die ihr
von Anfang an ein Gefühl der Abneigung eingeflößt,
in deren Antlitz ihr wiederholt eine Ähnlichkeit auf-
gestoßen war, die jetzt greifbar wurde, nun sie wußte,
daß es die Züge des schönen Forstgehilfen waren,
der ihrer Tochter Herz berückt — dieser Enkelin und
Schwiegertochter brachte sie nichts entgegen als den
Wunsch, sie nie gesehen, nie etwas von ihrem Da-
sein gehört zu haben. Wenn es aber einmal so
weit gekommen war, daß ein Fremder die Hand
in diesem Geheimnis hatte, so mochte völlig Klar-
heit geschaffen werden.
„Ich werde an meinen Sohn schreiben. Sprechen
Sie mit Mia. Dazu aber verpflichte ich Sie aus-
drücklich, ihr jede Hoffnung zu nehmen, daß unser
Urteil über ihren Vater je ein anderes sein könne,
als Sie eben jetzt von mir gehört habend"
Ihre Stimme, so fest sie klang, dnrchbebte gleich-
wohl eine tiefe seelische Erschütterung, welche Pastor
Seller antrieb, ihr die Hand zu reichen.
„Machen Sie Frieden mit sich, Frau Baronin,
versuchen Sie es, die schöne Frucht Ihres Leides
in Maries Besitz zu erblicken, der zehnfach Haß und
Zorn aufwiegt. Wollte Gott, Ihr Herz hätte ge-
sprochen, wie es der Wunsch meines Alters war. —
Machen Sie Frieden mit Ihrem Gewissen, das nicht
ruhig ist. Offnen Sie Mariannes Tochter Ihre
Arme. Warten Sie nicht darauf, daß das Schicksal
Ihnen diesen Wunsch von einem blutenden Herzen
reißt."
Er hatte mit eindringlichstem, heiligem Eifer ge-
sprochen, als sähe er über diese Stunde hinaus in
verhangene Fernen. Zweimal streckte er seine Hand
aus.
„Ich bedarf einer seelsorgerischen Tätigkeit nicht
mehr," sagte die Baronin mit verherbter Bitterkeit,
„der Sie sich einst rücksichtslos entzogen. Ihre da-
maligen Gründe erkenne ich nicht an, sie sind an-
maßend und selbstsüchtig, von Treue und Milde
weit entfernt. Wir haben einander wohl nichts
mehr zu sagen auf dieser Erde!"
Er warf einen langen, traurigen Blick auf ihr
farbloses Gesicht, das um Jahre gealtert schien in
dieser flüchtigen Stunde, dann neigte er langsam das
Haupt — und ging hinaus.
fünfiehkite5 Kapitel.-- . -
Als Pastor Seller die Treppe zum oberen Stock-
werk hinanstieg, traf er die Jungfer der jungen
Baronin im Korridor.
„Ich habe mit der Frau Rittmeister zu sprechen.
Wollen Sie mich zu ihr führen!"
Immer schwerer wurde sein Gang, je mehr er
sich der Tür näherte, hinter welcher die Jungfer ver-
schwand. Nicht was er zu verkünden hatte, belastete
ihn, die Sorge war's, wie es ausgenommen werden
würde, die Ungewißheit, ob das Herz des Kindes
dieselbe Geringschätzung gegen Herkunft und Eltern
empfand, wie sie ihm noch im Ohre klang.
Er kannte das Menschenherz, in das so leicht

— Das Luch füll Mle I
ein Hochmutskorn geweht wird, dessen taube Ähren
so schnell in Blüte schießen. Er wußte, wie viel
rascher ein Herz sich verhärtet, als erweicht. Er
kannte die Tiefen, bis zu welchen Undank und
Selbstsucht sich versteigen.
Vor der Jungfer her eilte Mia ihm entgegen.
„Das ist aber lieb!" Sie faßte seine Hand und zog
ihn ins Zimmer und an ihre Seite.
Ihre Gedanken waren so voll Fragen, daß sie
den Anfang nicht gleich fand.
Dafür fragte Seller, einen prüfenden Blick in
ihre leuchtenden Augen werfend: „Du bist glücklich,
mein Kind?"
Sie umschloß seine Rechte mit beiden Händen
und drückte sie heftig. „Was soll ich denn nur sagen,
um es zu beschreiben! Das klingt ja alles viel zu
dürftig. Ein ganzes Füllhorn von Glück ist über
mich ausgeschüttet worden, lieber Herr Pastor, weil
ich meinen Mann so liebe und —" ihre Stimme
ward immer weicher und inniger, „weil er mich
so liebt — immer geliebt hat."
Pastor Seller nickte. Er dachte an seinen Sohn,
der dieses jungen Weibes Verlust nicht verschmerzen,
noch überwinden konnte, und ein Vorwurf gegen
die Bestimmung des alten Fräuleins beschlich ihn,
Mia seiner Obhut zu entziehen und in die Welt
hinauszusenden.
„In einem deiner Briefe," sagte er, ohne den
forschenden Blick von ihr zu wenden, „hast du mir
eine Frage vorgelegt, deren Beantwortung ich mir
vorbehielt."
„Ja," sagte sie mit heiterer Aufmerksamkeit.
„Ehrlich, ich halt's vergessen! Nun bin ich ja Mia
Mersbach. Richard sagt, ich solle mich nicht um
meine Herkunft kümmern, ihm sei's einerlei, wenn
ich nur seine Mia sei."
Seller strich ihr über das lockige Haar. „So
manches, was wir nicht nötig zu haben glauben,
wird uns aufgedrängt. Ich hoffe, du gehörst zu
denen, die sich an den Ernst des Lebens heran-
führen lassen, ohne vom inneren Werte einzubüßen.
Der innere Wert aber eines Menschen, mein Kind,
ist der Maßstab, danach er gemessen werden soll,
wie sein Bewußtsein der einzige Besitz ist, der ihm
nicht entrissen werden kann. Hat also ein Mensch
gutes Bewußtsein und inneren Wert, der die harte
Probe äußerer Entbehrung siegreich bestand, dann
hat ein solcher Mensch — mögen die Verhältnisse
sonst liegen, wie sie wollen — Anwartschaft, von
dir und mir und allen sonst geachtet, vielleicht auch
geliebt zu werden."
Er hatte seine Hand sinken lassen. Die Erinnerung
an die Unglückliche, deren Tochter jetzt mit schuld-
loser Erwartung zu ihm aufsah, überwältigte ihn.
„Mein Kind, wo ein Grab geschaufelt wird, ist
ein Meuschenherz zur Ruhe gegangen. Jeder Hügel
deckt ein gerüttelt Maß von Leiden. Nicht immer
packen sie uns unversehens an, wir gehen ihnen oft
freiwillig entgegen. Aber mehr als leiden kann
kein Mensch für eine Schuld."
„Von meinen Eltern wollten Sie sprechen,"
sagte Mia schüchtern, als er bewegt schwieg.
„Ich spreche von ihnen, mein Kind."
Sie schrak zusammen und wußte nicht warum.
„Ich spreche von denen, die dir das Leben gaben.
Ich spreche von der, die dich bis zum letzten Atem-
zug geliebt hat und deren letzte Erdensorge du
warst — von deiner Mutter spreche ich, Marie, die
in selbsterwählter Not aus dem Leben schied —
von deinem Vater, den ein Unfall vor ihr und vor
deiner Geburt dahinraffte."
„Meine Mutter — mein Vater!" rief Mia mit
bebender Stimme. „Wer sind sie? Ich kann's ja
nicht erraten."
Pastor Seller neigte sich tiefer zu ihren glühen-
den Wangen. „Du kennst die Geschichte dieses
Hauses — ?"
Da schrie sie auf und sprang empor.
„Es ist die Geschichte deiner Eltern," sagte er
leise. „Marianne v. Mersbach ist deine Mutter,
der Forstbeamte Joseph Frank dein Vater."
Sie drückte die Hände vor ihr Gesicht. Es rang
in ihr. Sie wollte sprechen, etwas in ihrer Brust
aber nahm ihr den Atem.
Seller erhob sich und trat zu ihr.
Sie wich zurück. Jetzt kam's über ihre Lippen
wie ein Schrei: „Nein — nein! Ich will's nicht —"
„Du willst deine Eltern nicht anerkennen?" fragte
er mit tiefem Schmerz. „Du auch nicht?"
Sie achtete nicht auf seine Worte. Ihre Ge-
danken weilten bei dem Bild, das hatte verbrannt
werden sollen, bei jenem Bilde, das mit Sehn-
suchtszauber sich in ihr Herz versenkt, das ihr im
Traume erschienen war und wundersam fragend
auf sie niedergeschaut hatte.
Ihre Finger zitterten, als sie auf Seller zu-
stürzte und seinen Arm umklammerte. „Meine
Mutter — meine Mutter! Ich kann's nicht er-

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tragen! — Sie ist hinausgestoßett worden — und
ich — ich bin eingezogen.. Ich habe es Richard
gesagt, es war etwas um mich in oiesem Hause —
mir oft so nahe-O, mein Gott, mein Gott,
was soll ich tun? Was kann ich tun, das ungeschehen
zu machen, was geschah? Sie sind beide tot —
und ich weiß nicht einmal ihre (Näber zu finden."
Er schloß sie in seine Arme. Eine Fülle von
Freude und Dankbarkeit über ihr kindliches Gefühl
überwog seine schmerzlichen Erinnerungen. „Ma-
riannes Tochter!" murmelte er und küßte ihre Stirn.
Sie konnte es nicht so schnell erfassen, was mit
dieser Stunde über sie hereinbrach. Was kümmerte
sie das Urteil der Welt! Für sie gab's nur einen
Richter in dieser Sache — und der war fern, stand ihr
nicht zur Seite im Kampfe gegen die, welche ihre
Mutter in die zerschellende Brandung des Lebens
getrieben, weil sie das Wort Vergebung nicht kannte.
Und gegen diese Frau mit dem kalten, steinernen
Herzen bäumte sich ihre heiße Jugendkraft ungestüm
auf.
„Ich konnte sie nicht lieben," stieß sie leiden-
schaftlich hervor. „Und auch sie liebt mich nicht.
Meine Mutter und mein Vater standen dazwischen.
Was soll nun werden? Mein Freund, mein lieber
väterlicher Freund, was soll nun werden?"
Er dachte an die Weisung, welche die Baronin
ihm mit auf den Weg gegeben. „Deine Großmutter
hat auch gelitten," sagte er langsam und drängte
die harten Worte von der Zunge. „Umsomehr, als
sie das Urteil der Welt fürchtete."
Von neuem umklammerte sie seinen Arm. „Ich
frage nicht danach, was sie gelitten hat. Ich fühle
es ja, sie haßt meinen Vater heute noch wie damals.
Und ich — ich habe ihre Hand geküßt, dieselbe Hand,
die damals nach der Tür wies. — O Gott," ries
sie, die gefalteten Hände an die Lippen drückend,
„wie danke ich dir, daß Richard zu der Zeit nicht
hier war, daß er's nicht miterlebt, nicht mitangesehen
hat, wie meine Mutter auf den Knieen lag vor —
ihr, daß ich ihn noch lieben kann, wie ich ihn liebe!
Dafür danke ich dir, mein Gott! Dafür danke ich dir!"
Seller sah sie voll tiefen Erbarmens an. Wo
war nun das Füllhorn ihres Glückes mit seiner
bedingungslosen Seligkeit? Wo ihr kinderfroher
Glaube an die Güte der Menschen?
„Ich gehe nun," sagte er mit mildem Ernst.
„Denn ich kann dir nicht helfen. Es gibt Einen droben
im Himmel, der dich beraten wird, wenn du ihn
darum bittest. Es war der Wille deiner Tante
Helling, die kein verwandtschaftliches Band an dich
fesselte, es war der Wunsch des alten Fräuleins,
daß ich dir die Wahrheit enthüllte — sonst wäre
es nicht geschehen."
Er nahm ihre Rechte in die seine.
„Schaffe Klarheit in dir, mein teures Kind, und
laß den Zorn nicht über dich herrschen."
Sie erwiderte nichts. Sie sah ihm starr nach,
wie er zur Tür schritt. Sie rief ihn auch nicht
zurück, als er hinausging.
Ihr war's, als trüge sie Lasten auf ihren Schul-
tern, die er nicht von ihr nehmen konnte.
Die Tür fiel ins Schloß. Da fuhr sie zu-
sammen. —
Uber dem Park ging die Sonne nieder. Ein
Himmelsbrand ging von ihr aus. Aber hinter dem
flammenden Vorhang lauerte die Nacht.
Aus weiter Ferne klang Räderrollen durch die
Stille.
Nun ward Mia sich ihrer selbst wieder bewußt.
Seller war fort. Sie war allein.
Ein qualvoller Seufzer des Vcrlassenseins hob
ihre Brust.
Sie stürzte zum Fenster, ihn zurückzurufen, aber
über den herbstlichen Gipfeln der Bäume erlosch
das Geräusch.
Was nun?
Wohin sie blickte, stand diese Frage drohend vor
ihr, und ihrem neunzehnjährigen Herzen, dem sich
die Abgründe dieses Lebens zum ersten Male auf-
taten, schwindelte vor der Antwort, die es darauf
zu geben hatte Ursache und Wirkung voneinander
zu trennen und auf den tiefen Schatten also auch
einiges Licht fallen zu lassen, vermochte ihre Jugend
nicht.
Sie sah nur die umnachtete Stelle, wo der Todes-
engel alle Not eines Mutterherzens auslöschte, in-
dem er es zum Stillstand brachte.
Aber das Bild war ja ihr Eigentum. Zu ihm
zog es sie mit unwiderstehlicher Gewalt. Sie riß
die Tür auf und eilte über den Korridor in Frau
Lüders' Zimmer, ihr von Herzen zu danken, daß
sie das Bild ihrer Mutter lieb genug gehabt, um
es vor Vernichtung zu bewahren.
Das Gemach war leer und finster.
Sie trat in die Schlafkammer und entzündete
die Kerze auf dem Nachttisch. Dann ein Griff —
und die Hülle des Bildes flog zur Seite.
 
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