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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 7
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0167
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heft 7 — . . --
Bestrahlt von dem schwankenden Lichtkreis,
lächelte Marianne Frank in unvergänglicher Schön-
heit auf ihr Kind herab, ob auch ihr Körper längst
zerfiel und über ihrem Grabe der Hügel versank.
Mia faltete die Hände. Die Brust wurde ihr
so heiß, so eng. „Mutter —" flüsterte sie. Und
wie sie es flüsterte, brachte dieses Wort eine Fülle
unbekannter Schmerzen über sie. „Mutter — meine
Mutter! O, wo bist du?"
Der Nachtwind brauste stärker durch den Park —
die Kronen der Bäume schüttelten sich unter seinem
Druck. Ein Rauschen und Raunen ging durch die
Mia war vor dem Bilde in die Kniee gesunken.
Die unerträgliche Tränenlast, die sie zu ersticken
drohte, brach sich erlösend Bahn. Sie preßte die
Hände vors Gesicht und weinte, weinte, als wolle
sich ^ihr hochgepriesenes Glück in Tränen auflösen.
Sie wußte nun, daß sie in diesem Hause nicht
bleiben konnte, daß sie sich mit all ihrer Not an
ihres Gatten Herz flüchten mußte, daß zwischen ihn
und sie nun ein tiefer Schatten fiel.
Und immer unerschöpflicher strömten ihre Augen
über, gedachte sie der selbstlosen Liebe derer, die
ihr weniges mit ihr geteilt und vom wenigen noch
gesammelt für sie.
Wie von unsichtbarer Gewalt emporgerissen,
sprang Mia plötzlich in die Höhe, indes ihre Tränen
jäh versiegten. Eine Gedankenverbindung erhellte
wie ein Blitz eine weite, weite Strecke Vergangen-
heit.
Die Erzählung der Gärtuerfrau, darin sie den
Namen Frank zum ersten Male gehört, diese er-
schütternde Erzählung mit ihren überwältigenden
Einzelheiten, davon sie sich im allertiefsten Mitleid
abwandte, stand unter diesem Licht plötzlich vor ihr,
so grell beleuchtet, daß Mia der Atem vor Ent-
setzen stockte.
Nun wußte sie alles. Auch daß ihre sterbende
Mutter den Trauring in die Hand der mitleidigen
Frau gelegt, daß es ihrer Mutter Ehering gewesen,
den sie an dem braunen Finger hatte glänzen sehen.
Was in diesem Moment in ihr auflohte, über
ihr zusammenschlug und ihr Furcht und Scheu aus
der Seele riß — Mia gab sich keine Rechenschaft da-
von. Sie gehorchte der Leidenschaft des Schmerzes.
Aus dem Zimmer der Lüders eilte sie in den
Korridor zurück und weiter durch die Räume bis
ins Wohngemach der Baronin, wo sie an ihrem
Verlobungsabend so glückselig vor ihr gestanden.
Nichts war verändert.
Der Ofenschirm, auf den sich Richard v. Mers-
bach damals bei seiner Beichte so schwer gestützt,
stand nach wie vor an seinem Platze. Ruhig und
unbewegt fiel das Deckenlicht über die Pracht der
Ausstattung.
Die da hineinstürzte in diese Stille, war farblos
vor Erregung, zitterte vor Schmerz und Zorn.
Frau v. Mersbach ließ die Hand sinken. Der
Brief an ihren Sohn floß so schwer aus der Feder,
jedes Wort klebte fest daran, wollte nicht aufs Papier
gleiten. Ein Heer von trüben Gedanken lagerte
um jedes Wort.
„Wir wollen uns später aussprechen," sagte sie
ruhig und erschrak gleichwohl vor der Wandlung in
den Zügen der jungen Frau.
„Das wollen wir nicht." Mia fühlte, daß ihre
Stimme wieder mit Tränen kämpfte, aber sie be-
zwang den Reiz. „Wir wollen gar nichts mehr,
wir beide — Großmutter und Enkelin!"
Sie mußte einen Moment innehalten, sonst wäre
ihr der Atem ausgegangen.
„Vergiß nicht —"
„Ich vergesse nichts," flüsterte sie und eine
fliegende Röte jagte über ihr Gesicht. „Ich bin
meiner Eltern Kind und vergesse nichts. Es wäre
noch eine Möglichkeit gewesen, diese Stunde zu ver-
meiden, hättest du Milde walten lassen, wärest du
mit einem guten Worte zu mir gekommen, als ich
das Schreckliche erfuhr; hättest du nur eine Spur —
nur eine Spur von Liebe zu mir gezeigt."
„Wir werden mit diesen Erörterungen warten,
bis Richard kommt," fiel die Baronin finster ein,
die Feder aus der Hand werfend, „bis wir Gemüts-
ruhe genug haben, das Unvermeidliche zu besprechen."
„Das werden wir nicht," sagte Mia mit bebender
Stimme. „Ich will mein Herz freisprechen — und
gehen aus einem Hause, wohin ich nie hätte kommen
sollen. Ich will vor meiner Mutter nichts voraus-
haben in deinen Augen. Ich will meiner Elten:
Unglück ehren, die du verachtet hast. Ich will un-
gekränkt an sie denken können und kein Mittel
scheuen, einmal an ihren vergessenen Gräbern zu
beten. Das will ich — und darum kann ich nicht
hier bleiben."
Frau v. Mersbach erhob sich. Sie wollte Ver-
söhnung suchen. Aber in diesem Augenblick, da aus
Mias Zügen der kindliche Ausdruck verschwunden

--- V35 Luch sü5 MIe D
war, sprang ihr die Ähnlichkeit mit dem verhaßten
Geliebten ihrer Tochter so greifbar in die Augen,
daß sie unwillkürlich, statt vorwärts zu gehen, zurück-
trat.
„Hast du vergessen, daß man Rücksicht nehmen
muß auf seine gesellschaftliche Stellung, auf die
Welt, in der man lebt? Es gibt eine öffentliche
Meinung, deren Stimme man nicht überhören darf
und der man sich um des Anstands halber unter-
ordnen muß. Das merke dir und danach handle!"
Mia hatte nicht darauf gehört. Diese öffentliche
Meinung, vor welcher die Baronin ihren stolzen
Nacken einst tief gebeugt, war ihr völlig gleichgültig.
Vor ihren Geistesaugen stand unverrückbar das Bild
ihrer sterbenden Mutter in dem armseligen Stüb-
chen, wo fremder Leute Mitleid sich ihrer Not er-
barmte.
„Was niemand weiß, das weiß ich!" rief sie wie
außer sich vor flammendem Schmerz. „Ich weiß,
wo meine Mutter an meines Vaters Leiche zu-
sammenbrach, ich weiß, wer ihr Beistand leistete in
ihrem bitteren Elend." Ihre Stimme versank in
tonloses Flüstern. „Denn sie hatte nichts, als was
mitleidige Menschen ihr gaben. Von all dem Reich-
tum hier, der sie hätte retten können, hatte sie nichts.
Für jeden Bissen Nahrung mußte sie demütig dan-
ken. Und ich — ich mußte ihr das Sterben noch
erschweren."
„Du siehst nur die Folgen. Die Ursache —"
„Ich sehe nichts, als was sie durch deine Härte
gelitten hat," fiel Mia mit tränencrstickter Stimme
ein. „Was hatte sie denn so Entsetzliches verbrochen?
Wäre es denn besser gewesen, wenn sie sich ohne
Liebe hätte verschenken lassen, als daß sie unter
ihrem Stande einen Mann wählte, der sie liebte
und auf Händen trug? Wenu du sie nicht mehr
als deine Tochter anerkennen wolltest, verkommen
im Elend durftest du sie nicht lassen. Das war
Sünde, viel größere Sünde als das, was du ihr
vorwerfen kannst. Denn durch deinen Haß sind sie
alle in ein frühes Grab gesunken — mein Vater,
meine Mutter, meine Brüder —"
Es kam über sie wie ein Schwindel. Die Luft
vor ihren Augen bewegte sich tanzend. Sie grisf
nach einem Halt.
Jetzt lag ihre Hand auf derselben Stelle, wo
Richard Mersbachs Hand geruht, als Alexandra
Luises Küsse noch auf seinen Lippen und in seinem
Herzen brannten, und er, ihre Ehre vor Verdacht
zu schützen, Mias Unerfahrenheit mißbrauchte.
Dieselbe Erinnerung weckte ein bitteres Lächeln
um die Lippen der Freifrau. Was hatte die Liebe
ihrer Kinder ihr selbst und diesem Hause für Unheil
geschaffen!
„Ich warne dich noch einmal," sagte sie, die
Blässe der jungen Frau nicht ohne Besorgnis be-
trachtend, „ich bitte dich, es nicht bis zum Äußersten
zu treiben. Du hast den Faden zwischen uns jetzt
gespannt bis zur Möglichkeit, sieh zu, daß er nicht
reißt. Du sprichst immer von deinen Pflichten als
Tochter — hast du denn keine Pflichten als Frau?
Ist Richards Wille dir nicht das wichtigste bei allem,
was du tust? Und wagst du zu behaupten, daß
er das billigt, was du getan hast und noch tun
willst?"
„Ich will mich an Richards Herz werfen und ihn
zum Richter anrufen über das Schicksal meiner
Mutter. Ich will ihm sagen, daß nichts, auch sein
Wille nicht, mich zwingen kann, meinen Vater zu
verachten. Ich will ihn bitten, mich dennoch lieb
zu behalten; schreiben will ich ihm, daß ich ihn
erwarte in unserem lieben, kleinen Hause. Und
wenn er kommt, werde ich erlöst sein von aller
Angst, die ich hier nicht loswerden kann."
„Schwärmerin!" sagte Frau v. Mersbach bitter,
wenn auch mit einem Anflug von Unruhe. „Man
hat im Manöver mehr zu tun, als die Männer nach
Hause zu schicken, weil die Fronen es wünschen."
„So gehe ich zu ihm!" rief Mia mit leidenschaft-
licher Hast. „Hier kann ich nicht länger bleiben.
Du willst mich ja auch nicht hier behalten, weil du
mich lieb hast, sondern nur der Leute wegen. Du
denkst nur an andere, nicht an micb. Und diese
anderen, deren Meinung du so fürchtest, sind mir
so gleichgültig, so gleichgültig —"
„So geh!" sagte die Baronin hart, ihre Geduld
bis zur Neige erschöpft fühlend. „Mein Haus ist
keine Zwangsanstalt für widerspenstige Kinder. Geh!
Entfremde dir Richards Herz! Er ist ein besserer
Sohn, als deine Mutter eine Tochter war. B:st du
so töricht, ihn zwischen uns zu stellen, so zeigst du ihm
selbst den Weg, den sein Pflichtgefühl gehen muß."
Mia hörte die letzten Worte nicht mehr. Wie
gejagt eilte sie auf den Korridor hinaus und durch
die hellerleuchteten Räume zurück in ihr Zimmer.
Die Jungfer saß schlaftrunken in ihrer Kammer
am Tisch und las, als die Klingel der jungen Baronin
ertönte.

140
Den Befehl zum Auskleiden erwartend, blieb
sie verwundert auf der Schwelle stehen.
Mia stand unter dem Kronleuchter, das Kurs-
buch, welches Mersbach ihr mitgegeben, in der Hand.
„Wir fahren morgen früh mit dem Sechsuhrzug
nach Hause zurück. Ich habe wichtige Nachrichten
erhalten und schon Abschied genommen." Ihre
Stimme zitterte noch immer — wie die Hand, welche
das Buch hielt.
„Jetzt in der Nacht packen, Frau Baronin?"
„Sofort! Wenn Sie nicht allein fertig werden,
helfe ich gern."
„O nein! Ich will nur erst den Wagen bestellen
lassen."
Mia nickte.
Als die Jungfer das Zimmer verlassen, ging Mia
ruhelos auf und nieder. In Gedanken war sie schon
zu Hause und ließ sich von der Gärtnerfrau noch
einmal alle Einzelheiten der Tragödie erzählen,
welche sich vor deren Augen abgespielt. Den Ring
wollte sie ihr abkaufen und wie ein heiliges Ver-
mächtnis verehren. Und dann wurde alles dem
Geliebten geschrieben, ganz genau — und knnter
jede Träne, die aufs Papier fiel, das eine sehn-
suchtsvolle Wort: „Komm!" —
Schwerfällig und grau kroch die Morgendämme-
ruug über die weichende Nacht. Schlaftrunken stieg
der Frühwind aus feinem Wolkenbett und hauchte
schwankend über die träumenden Wipfel. Wo er
sie rüttelte, sanken Nadeln und Blätter ins Moos,
ließen Eichen und Buchen ihre reifen Früchte nieder-
gleiten.
Hinter dem Winde, geheimnisvoll leise, schlich
die Morgenröte den Horizont hinauf. Sie weitete
ihr enges Gewand, daß es wie brennende Ozeane
den Himmel überschwemmte, mit lohenden Fackeln
die Dämmerung zerriß.
Da tropfte das Frühgeichmeide auf das er-
wachende Grün, in die geöffneten Kelche. Empor-
getragen von frisch gestimmtem Vogelsang, stieg,
die Sonnenkrone auf dem Haupt, der junge Tag
herauf.
Mia fröstelte, als sie in den kühlen Morgen hin-
austrat, den Wagen bestieg und die Chaussee hinab-
rollte, zwischen deren Baumreihen leichte Nebel
bodenwärts verschwebten.
Uber Wiesen und Stoppeln sang die Lerche.
Scharen hungriger Krähen flogen krächzend vom
Walde herüber. Bellend trieb der Hund die läu-
tende Herde auf die Weide.
Mia, die sonst dieses morgenfrohe Leben mit
kindlicher Freude in sich aufnahm, hatte heute keinen
Blick für daS, 'was sie umgab. Sie dachte auch
nicht daran, daß das Schloß, dessen Umrisse hinter
ihr im Dunst verschwommen, ihres Gatten recht-
mäßiges Eigentum war, und daß ein Tag kommen
mußte, wo sie an seiner Seite davon Besitz nahm.
Nur immer vorwärts strebte ihre Ungeduld, den
Zug nicht zu versäumen, ihr Sehnen, daheim zu
sein.
Endlich war die Residenz, der Bahnhof er-
reicht. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ
die junge Frau das Fenster ihres Abteils nieder-
gleiten.
Kapitel.-^ —
Ein heißer, staubiger Herbsttag ging zur Rüste,
als die Garnisonstadt in Sicht kam.
Es war das erste Mal, daß die junge Frau statt
Mitleid Ungeduld empfand, als sie ihre Jungfer
blaß und von Kopfschmerzen gepeinigt ihr gegen-
übersitzen sah. Noch faßte sie es nicht, daß ihrem
Schmerz nicht alle nachtrauerten, daß Menschen
gleichgültig an sich vorüberziehen sehen, was Herzen
bricht und Leben in den Tod jagt.
Ihr eigener Wagen war von Mersbach mit ins
Manöver genommen, so fuhr sie in einer Droschke
durch die halbdunklen Straßen des Städtchens zu
ihrer weit außerhalb gelegeuen Villa.
Das Dienstpersonal war beurlaubt, alle Fenster
verhangen, die Eingangstür verschlossen. Dazu die
stöhncude Jungfer, welche nach Ruhe lechzte, statt
hilfreiche Hand zu bieten.
Es war ein trostloser Einzug.
Mia läutete an der Glocke des Vorgärtchens, bis
das Gärtnerpaar erschien und vor Staunen fast
erstarrte, als es dis junge Frau Baronin erblickte.
Einen flüchtigen Gruß auf den Lippen, eilte
Mia ins Haus, indes die Jungfer auf ihren Befehl
sofort das Bett aufsuchte. So war sie allein in
den sonst so geliebten, traulichen Räumen.
Ihr war's recht so.
Nun stand sic in ihrem Zimmer, wo Mersbach
den letzten zärtlichen Abschied von ihr genommen —
und nun in seinem Wohngemach, wo jeder Gegen-
stand, wo alles sie an das erinnerte, was ihr das
Höchste auf Erden war: seine Liebe.
Wie sollte sie nur die richtigen Worte finden,
 
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