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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 14
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0343
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Z02

V38 Luch fkinLüe

fiest 14

„Frau Brennessel" nannte man sie in der Klinik;
und sie verdankte diesen poetischen Beinamen dem
„Knaben Fritz", dem von ihr zu gelegentlichen Lauf-
burschendiensten verwendeten Sohn des Pförtners.
Wie sie jederzeit ohne viel Federlesens daöei war,
lässige Dienstboten ».handgreiflich" zu Ordnung und
Fleiß anzuhalten, so hatte sie auch dem Jungen
schon öfters wohlverdiente und wohlgezielte Ohr-
feigen versetzt.
Eine kleine, untersetzte Person mit muskulösen
Armen, die rundlichen Hände ebenso gewandt im
vielseitigen Wirtschaftsbetrieb wie sanft am Kran-
kenbett und fest am Operationstisch, das Herz so
weich wie der Verstand scharf. Ein „Frauchen",
in deren unermüdlichen Bienenfleiß und tatkräftigen
Willen sich bequem zwei Durchschnittsmänner hätten
teilen können. Durchaus nicht hübsch mit ihren
energischen, unregelmäßigen Zügen, aber doch eigen-
artig interessant mit den schwarzen feurigen Augen
und mit dem Anflug von Schnurrbart auf der mar-
kanten Oberlippe.
Frau Doktor Brandt war die geschiedene Frau
eines Arztes, eines charakterlosen, brutalen Egoisten,
den sie einst vom Fleck weg geheiratet, blind und
taub — wie viele junge Mädchen heiraten, nur uni
aus der dumpfen Enge ihres Elternhauses heraus-
zukommen —, und bei dem sie gerade so lange aus-
gehalten hatte, wie er gebrauchte, um ihr Vermögen
durchzubringen.
Eine Persönlichkeit und ein Schicksal jedenfalls,
die auf eine schwache, empfindsame Natur schon
auf Grund der wunderbaren Anziehungskraft der
Gegensätze einen starken Eindruck ausüben mußten.
Bis Ende November ging mit Waldemar v. Rot-
tenburg alles seinen guten Gang. Dann, ganz
plötzlich, trat der Umschlag ein, auf den Altdorf
immer mit Bangen gerechnet hatte. Waldemar
blieb plötzlich der Minik fern, tat feinen Kranken-
hausdienst nur höchst lässig und war in seinen Muße-
stunden wieder völlig unkontrollierbar. Dem Pro-
fessor erklärte er, er fühle sich krank, wahrscheinlich
hätte er sich in den letzten Monaten zu sehr ange-
strengt, auch mache das naßkalte Winterwetter seiner
Lunge Beschwerden. Er sah in der Tat schlecht aus,
wollte aber von Untersuchenlassen nichts wissen,
und Altdorf hatte ihn sehr im Verdacht, daß er
die der Anstaltsapotheke entnommenen Medika-
mente zum Fenster hinausschütte.
Eines Morgens, als besonders dunkle Ringe um
seine tiefliegenden Augen lagen, nahm der Pro-
fessor den Rätselvollen wieder beim obersten Rock-
knopf und sagte: „Rottenburg, Sie wissen doch, daß
Sie mir Ihr Ehrenwort gegeben haben, nie wieder
eine Karte anzurühren!" >
Da war es Altdorf, als wenn der Blasse noch
blässer werde, als wenn der schmale, feine Mund
qualvoll zucke. Natürlich aber machte er sofort den
Versuch, die Anspielung als schwere Kränkung zurück-
zuweisen.
Mitte Dezember lagen in dem Pavillon, der
Waldemars besonderer Aufsicht unterstellt war, sieben
bei einem Bauunfall schwer verletzte Arbeiter. Der
Professor hatte in seinem Ordinationszimmer bis
spät in die Nacht hinein gearbeitet an einem Artikel
über eine neue Leberoperation, deren Ausführung
ihm in den letzten Monaten dreimal mit dem Er-
folg vollständiger Heilung gelungen war.
Als er vom Schreibtisch aufstand, fielen ihm die
bedauernswerten Sieben unten im Pavillon V wie-
der ein, und es fiel ihm auch ein, daß Waldemar-
Heute die Wache hatte.
Altdorf nahm den Hut und trat aus dem Haupt-
gebäude des Krankenhauses auf deu weiten, garten-
artig angelegten Hof hinaus, zu dessen beiden Seiten
sich in schier endloser Flucht die einstöckigen, lang-
gestreckten Baracken dehnten.
Überall hinter den Milchglasscheiben matter
Lichtschein, nur ganz am Ende die quer vorgelegte
Leichenkammer völlig in Dunkel gehüllt.
Des Professors Körper war so gestählt, daß er
für den Wechsel zwischen den fünfzehn Grad Wärme,
die sein Zimmer hatte, und den dreizehn Grad Kälte,
die hier draußen herrschten, eines schützenden Über-
rockes nicht bedurfte. Ja, er empfand den Unter-
schied so wenig, daß er ruhig ein Weilchen stillstehen
und in Muße den Himmel betrachten konnte, an dem
der Wintervollmond inmitten unzähliger funkelnder
Sterne wie eine große elektrische Bogenlampe
schwebte, silbernes, blau-flüssiges Licht auf die
Schieferdächer der Baracken gießend und über den
Rauhreif der Rasenflächen und Gesträuche einen
Zauber von Glanz und Flimmer ausstreucnd.
Behutsam öffnete Altdorf die Tür zum Pa-
villon, ging den breiten Flur zwischen den Bade-
stuben und den Zimmern der Pflegerinnen entlang
und betrat die Krankenhalle.
Stille, überall tiefe Stille. Der Stuhl dicht am
Eingang, auf dem die wachehaltende Schwester zu

sitzen pflegte, leer. Suchend ließ der Professor
seinen Blick die beiden langen Reihen weißer Betten
entlangschweifen, über die die grünbeschirmte Nacht-
lampe ein friedliches, gleichsam versöhnliches Däm-
merlicht ansgoß, und die doch so viel von mensch-
licher Not und irdischem Jammer bargen. Aha,
da stand die Schwester ja an der Leidensstatt eines
der Sieben.
Altdorf schritt rasch hinüber, wechselte mit der
Pflegerin flüsternd einige Worte und beugte sich
über den Kranken.
Der lag regungslos in den vielen Verbänden, die
seine zerschmetterten Glieder umschlossen; die Augen
standen starr in dem eingefallenen Gesicht, in das die
grausame Härte des Lebens ihre Runenschrift ein-
gezeichnet hatte. Der Puls kaum noch fühlbar, der
Atem nach jedem matten Stoß lange aussetzend.
Der Professor gab eine Kochsalzeinspritzung.
Aber die Mühe war umsonst. Das Herz des Mannes
stand still und nahm seine Arbeit nicht wieder auf.
Es war nur noch nötig, die Lider über die starren
Augäpfel herabzudrücken.
Die Pflegerin holte leise eine Rollwand herbei
und stellte sie um das Sterbelager. Den Patienten
in den Nachbarbetten wurde so der Anblick des
Toten erspart, falls sie am Morgen wach wurden,
ehe die Wärter den Mann hinausgetragen hatten.
„Weshalb haben Sie Doktor ü. Rottenburg nicht
gerufen?" fragte Altdorf die Schwester, während
er mit ihr in den Mittelgang trat.
„Ich habe angeklopft bei ihm, er hat aber nicht
aufgemacht," war die Antwort.
„Schläft er so fest?"
„Nein. Ich sollte nur sehen, meinte er, daß ich
allein fertig würde."
„So - so!"
Der Professor, nickte flüchtig, schritt rasch aus
der Halle in den breiten Flur und legte die Hand
auf die Klinke des Arztewartezimmers. Die Tür-
war verschlossen.
„Was soll denn das heißen? Rottenburg, warum
schließen Sie sich denn ein?" Das alles halblaut
hervorgestoßen, aber bei der absoluten Stille rings-
umher durch das dünne Holz deutlich vernehmbar.
Eine Weile kein Laut. Dann drinnen im Zim-
mer das Rücken eines Stuhls, Klirren von Glas,
Papierrascheln, leise Schritte.
Altdorf atmete auf. Eine Sekunde später ward
der Schlüssel herumgedreht, die Tür geöffnet: Wal-
demar erschien im Rahmen, leichenfahl, mit wirrem
Haar und starrte seinen Chef aus erschreckten, geister-
haften Augen an.
Der Professor trat ein, ohne den Hut abzu-
uehmen. Mit einem raschen Blick überflog er das
kleine Stübchen, das an Mobiliar nur einen Tisch,
zwei Stühle, ein Ruhebett und einen Fächerschrank
mit allerhand Glasgerätschaften aufwies. Stirn-
runzelnd, als Hütte er Verdächtiges erspäht, schritt
er auf den Tisch zu, schob die darauf stehende
Wasserflasche und das offenbar eben erst benützte
Schreibzeug — die Feder war noch tintenfeucht —
beiseite und nahm die dort m aller Eile schlecht genug
versteckte schmale, mit dem Signum der Haus-
apotheke und der Totenkopfetikette versehene Medi-
kamentenflasche in die Hand. Er las die eingebrannte
Aufschrift: „Cyankalium" und steckte die Flasche zu
sich, ohne ein Wort zu sagen. Dann hob er die
Zeitung auf, die augenscheinlich, um etwas zu ver-
decken, mitten auf der Tischplatte lag, ein weißes
Rechteck auf einem grünen Rechteck, und fand dar-
unter, was er vermutet: Briefe. Zwei bereits im
Umschlag, davon der eine an ihn selbst adressiert,
ein dritter noch nicht fertig.
Altdorf gab sich gar nicht die Mühe, das an ihn
gerichtete Schreiben in die Hand zu nehmen. Er
wußte schon genug. Die Hände in die Taschen
vergrabend, wandte er sich zu Waldemar um und
fragte in schneidendem Ton: „Also wieder gespielt?"
Der Gefragte antwortete nicht. Auf seinem
blassen Gesicht war der Ausdruck des Schreckens wie-
der dem Ausdruck der dumpfen Gleichgültigkeit ge-
wichen. Nur etwas wie Scham schien sich noch in den
müde zu Boden starrenden Augen widerzuspiegeln.
Der Professor fließ den Atem durch die Lippen,
pustend, als wäre ihm die Luft im Zimmer zu dick.
„Keine Antwort ist auch eine Antwort." Durch die
im Schein des elektrischen Glühlichts hell funkelnden
Brillengläser blitzte er den Selbstmordkandidaten
verächtlich an. „Sein Ehrenwort brechen — pfui
Deibel!" Mit einer unwirschen Bewegung ergriff
er den an ihn adressierten Brief und riß ihn in
Fetzen. „Da haben Sie meine Meinung. Soviel
halt' ich von Ihnen, daß Ihr Abschiedsgruß" — er
sprach das Wort mit ironischer Betonung aus —
„mir nicht einmal des Lesens wert ist." Eine Weile
starrte er, die Lippen zusammenpressend, auf die
Tischplatte. Dann fuhr er wieder voll beißenden
Hohnes fort: „Wußten Sie keinen passenderen Ort,

Ihren Schluß zu machen, als das Krankenhaus?
Sie dachten wohl, auf einen mehr oder weniger
kommt's hier nicht an? Da drinnen in der Halle
liegt übrigens schon einer, dem das Leben vielleicht
hätte erhalten werden können, wenn Sie Ihre Pflicht
taten. — Oder wollten Sie mir etwa zum Zweck
pathologischer Anatomie Ihren Leichnam zum Ge-
schenk machen? — Danke verbindlichst."
Voll schneidender Geringschätzung lachte er auf.
Plötzlich aher, mitten im Lachen, brach er verstum-
mend ab und sah mit finsterer Miene zu Boden.
Waldemar hatte ihn mit einem so verzwei elten,
so jammervollen Blick gestreift, wie ihn mancher
Schwerkranke kurz vor der Operation aussandte.
Und dieser Blick aus Waldemars Augen hatte ihn
— wie das Aufflammen eines Blitzes war's ihm
gewesen — an jenen qualvoll flehenden Blick er-
innert, den Julia im Musiksalon des Liebensteiner
Hotels auf den Afrikaner gerichtet, als dieser der
kleinen Vilma v. Schlieben mit übertriebenen
Schmeichelworten die Hand geküßt.
Wieder sah Altdorf seinen Assistenten an, zaghaft
beinahe. Noch nie war ihm die Ähnlichkeit zwischen
den beiden Geschwistern so aufgefallen wie gerade
jetzt. Und ihm war, als würde er mit jedem harten
Wort, das er noch spräche, nicht Waldemar allein,
sondern auch Julia treffen — Julia, die, wenn
auch von anderer Art, so doch desselben Blutes war,
Juliq, die er immer noch mit der Vollkraft seines
unverbrauchten Herzens liebte, die er lieben würde,
solange sein Atem ging, und die zu erringen er
wieder leise hoffte seit dem Tage, an dem er von
Borgstedts erneuter Abreise nach Afrika erfahren.
Eine Weile stand er schweigend da. Dann, mit
einem tiefen Atemzug, reckte er sich gerade und
fragte in völlig verändertem, beinahe mitleidsvollem
Ton: „Um wieviel handelt es sich diesmal?"
Waldemar antwortete nicht sofort. Erst als der
Professor seine Frage dringender wiederholt hatte,
gab er dumpf und gleichgültig, wie vorher, zurück:
„Zweitausend Mark."
„Die Sie sich noch heute früh um acht aus meiner
Wohnung holen können."
Waldemar schüttelte den Kopf. „Es hat doch
keinen Zweck mehr." Unsäglich müde kam es heraus.
Der Professor nahm den Hut ab und strich sich
mit der Hand über die Stirn. Es war wohl wirk-
lich so, daß alles Helfenwollen keinen Zweck hatte
bei diesem Schwächling. Und trotzdem — es ging
nicht anders, er mußte ihm helfen, mußte noch
einmal den Versuch einer Rettung machen. Die
Stimme in seiner Brust verlangte gebieterisch: „Tu,
was du kannst — seiner Schwester zuliebe!"
„Faseln Sic nicht!" fuhr er den Verzagten an.
„Solange Ihr Vater lebt — es wird ja keine Ewig-
keit mehr dauern — ersparen Sie ihm das Furcht-
barste, was ihn auf Erden noch treffen könnte, lassen
Sie ihm den Glauben, daß Sie auf dem Wege
sind, doch noch ein brauchbarer Mensch zu werden."
Waldemar zuckte die Achseln, ganz wenig nur,
kaum merklich. „Sie sind viel zu gut. Es gibt
nicht viele solche Menschen," sagte er leise. „Aber es
hat alles keinen Zweck. Wozu also? Oder doch . . .
das eine" — seine müden Augen leuchteten plötzlich
auf —„wenn Sie —" Er brach wieder ab und fuhr
sich nervös an die Schläfe.
„Was wollen Sie sagen?"
Waldemar stöhnte. Dann brachte er's heraus.
„Wenn Sie die zweitausend Mark bezahlen wollten,
damit man mir nicht ins Grab den Vorwurf der
Ehrlosigkeit nachwerfen könnte —"
Der Professor erwiderte nichts, aber in den
Taschen, in die er sie wieder versenkt, ballten sich
seine Hände zu Fäusten. Wie ein Ungewitter hätte
er auf den Schwächling losfahren, ihn packen und
schütteln mögen. Vielleicht sprang dann, im letzten
Augenblick, doch noch ein Funken von Widerstands-
kraft in dieser matten Seele auf.
Sein Blick traf den Brief, der angefangen auf
der Tischplatte lag. „Einzig geliebte Martha!" stand
da als Anrede zu lesen.
Wie ein Ruck ging es durch Altdorfs Körper.
Vor seinen inneren Augen wurde es hell. Also
hatte der Oberarzt doch recht gehabt!
Der Professor nahm das Schreiben in die Hand
— er hätte sich dazu berechtigt gefühlt in dieser
Stunde, auch wenn es Waldemar nicht ruhig und
teilnahmslos Hütte geschehen lassen; aber ehe er noch
zu lesen begonnen, sah er den Umschlag, der darunter-
lag und die Aufschrift „Frau Doktor Brandt" trug.
Nun siegte doch für einen Moment das Staunen
über alle quälenden Empfindungen. Alfo die Oberin
seiner Privatklinik!
Altdorf las das Schreiben. Als er mit der letzten
Zeile fertig war, sagte er: „Also daran liegt's!
Unglückliche Liebe! Mensch —" er brach ab und
legte den Brief auf den Tisch zurück. Dann, nach
einer nachdenklichen Pause: „Ich werd' nicht klug
 
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