524 —
letzte Stunde gerüstet ist. Und zuletzt sagte er:
„Was auch vorgestern nachmittag den unmittelbaren
Anlaß zu dem jähen Zusammenbruch gegeben haben
mag, Fräulein Julia, glauben Sie mir: jedes be-
liebige andere Ereignis, jeder Ärger über die ge-
ringsügigste Kleinigkeit hätte bei dem hoffnungs-
losen Zustand des Kranken dieselbe Wirkung haben
können. Und ganz gewiß ist es — und das soll und
muß Ihnen ein Trost sein —, daß der Schlaganfall
ihn sanft und schmerzlos durch das dunkle Tor hin-
übergeleitet hat, während er sonst vielleicht noch
viele Wochen qualvollsten Leidens hätte durchmachen
müssen."
Wohl verlangte es ihn, ihr begütigend über das
blonde Haar zu streichen oder ihre Hand liebkosend
in die seine zu nehmen, aber wieder ging er von
ihr wie ein Fremder.
Julia, die ja nicht ahnen konnte, daß er sich
mit dem Gedanken trug, sie freizugeben, dankte ihm
seine zartfühlende Zurückhaltung — und doch —
sie wußte selbst nicht, ob ihr nicht vielleicht von
Herzen wohl gewesen wäre, wenn sie ihren müd-
geweinten Kopf hätte still an seine Schulter lehnen
können. Ruhe finden, Ruhe vor all den wilden
Stürmen, die in ihr und um sie brausten! Und der
schlimmste Sturm, der heißeste, ballte erst noch fern
am Horizont seine Wolken zusammen, der Sturm,
den Borgstedt in seiner leidenschaftlichen Eifersucht
über sie heraufbeschwören würde, wenn er den
Brief erhielt, den sie ihm gleich am Morgen nach
des Vaters Tod geschrieben. Mit Schrecken er-
innerte sie sich der Stunde, in der er in Liebenstein
zu ihr gesprochen: „Ich lasse Sie keinem anderen
Manne!" Fest und schwer wie Steine waren seine
Worte gefallen, und noch immer stand ihr sein
drohender Blick vor Augen, der scharf wie ein Messer
und funkelnd wie glühender Stahl gewesen war. —
Der Zufall fügte es, daß Professor Altdorf, als
er am Spätnachmittag des nächsten Tages von
Rottenburgs Beerdigung nach Hause kam, auf
seinem Schreibtisch ein Telegramm vorfand, in dem
er ersucht wurde, unverzüglich zur Operation eines
russischen Großfürsten nach Petersburg zu kommen.
In gewissem Sinne war ihm dieser Auftrag
lieb. Er gab ihm Zeit, fern von Julia noch einmal
in Ruhe und Klarheit seine Lage zu überdenken,
er gewährte ihm für die entscheidende Unterredung,
die er sonst in jedem Fall ohne Verzug hätte her-
beiführen müssen, einen Aufschub. Und in seinem
Entschluß, Julia ihr Wort zurückzugeben, fühlte er
sich gar nicht mehr sicher.
Zu des Obersten Bestattung war er mit der
Familie Rottenburg in einem Wagen gefahren, und
während Waldemar seine Mutter geleitet, hatte er
Julia geführt. Fest hatte sie sich auf diesem schwer-
sten, allerschwersten Gange auf seinen Arm gestützt,
und bei der Rückfahrt war sie seinen Augen mit
einem Blick begegnet, aus dem bei allem Schmerz
und aller Trauer felsenfestes Vertrauen gesprochen
hatte.
Keine Frage — sie hielt sich an das stumme,
von ihrem Vater gewollte Gelöbnis unverbrüchlich
gebunden. Würde sie es nicht als eine tödliche
Kränkung auffassen, wenn er nun vor sie hintrat
und ihr sagte, daß er ihr die Freiheit Wiedergabe?
Würde sie nicht annehmen, daß er ihr mißtraute?
Wußte er denn gewiß, wie es in ihr aussah? War
ihre Seele nicht vielleicht ein ans irrer Fahrt flügel-
lahm geschlagener Vogel, der froh ist, irgendwo
einen sicheren Unterschlupf gefunden zu haben?
Nach vier Tagen, auf der Rückfahrt von Peters-
burg, in dem matterleuchteten Abteil des die Nacht
durchrasenden Eilzugs, kam Altdorf mit sich ins reine.
Er würde auf seinem Recht bestehen, sich mit Julia
verloben. In dem häufigen Zusammensein des
Brautstandes, im gegenseitigen Prüfen und Kennen-
lernen mußte es sich dann ja Herausstellen, ob Julia
an seiner, er an Julias Seite ein volles und reines
Lebensglück würde finden können. Schlug aber die
Hoffnung, auf die er baute, fehl — nun, so war
immer noch Zeit, das Bündnis zu lösen, ehe es
zu einem unlösbaren wurde. —
Unter den zahlreichen Korrespondenzen, die sich
während seiner Abwesenheit auf seinem Schreib-
tisch aufgehäuft hatten, fand Altdorf einen Brief
von Julia vor. Er öffnete ihn vor allen anderen
und las folgendes:
„An jedem der vergangenen schweren Tage wollte
ich mich gegen Sie aussprechen, Ihnen alles sagen,
was unklar und störend zwischen uns liegt, fand
indessen nie die Kraft dazu. Und darum danke ich
Ihnen, daß Sie nicht mit Fragen und Forschen in
mich gedrungen sind, daß Sie mir Zeit gelassen
haben, mich zu sammeln und zu fassen.
Zürnen Sie mir nicht, wenn ich mich auch heute
noch vor einer Aussprache fürchte und Ihnen des-
halb schriftlich meine Erklärungen gebe.
.Va5 Luch fül- Me .i
Was Sie gewiß schon aus den letzten Worten
meines Vaters herausgehört haben werden — ja,
ich habe mich an jenem unseligen Nachmittag, als
mein Vater mir nach Ihrem Weggang Ihren An-
trag ausrichtete, geweigert, Ihre Frau zu werden.
Wohl war ich mir bewußt, daß schwerlich je-
mals ein angesehenerer, besserer und zuverlässigerer
Mann als Sie um mich werben würde, wohl hatte
ich Sie in den zwei Jahren, in denen Sie als Arzt
in unserem Hause aus und ein gingen, so auf-
richtig schätzen gelernt, daß meine Verehrung für
Sie durch all das Gute, was Sie an meinem Bruder
taten, kaum noch gesteigert werden konnte — aber
ich trug in meinem Herzen bereits das Bild eines
anderen, an den ich mich mit einem heimlichen
Verlöbnis gebunden hatte. Wer dieser andere ist,
wird Ihnen sicher kein Geheimnis sein, und ich
brauche deshalb seinen Namen wohl nicht hierher-
zusetzen. Oder — da er ja schließlich doch wohl
einmal zwischen uns genannt werden muß, so ist es
wohl am besten, ihn gleich offen auszusprechen:
es ist Freiherr v. Borgstedt.
Aber gerade, daß er es war, brachte meinen
Vater so außer sich; denn immer hatte er gegen
ihn eine starke Abneigung gehegt, mich auch schon
in Liebenstein vor seinen Bewerbungen gewarnt.
Vor fünf Tagen habe ich nun Herrn v. Borg-
stedt von meiner Verlobung mit Ihnen in Kenntnis
gesetzt. Meinen wenigen Zeilen fügte ich nur noch
die Bitte hinzu, sich mit keinem Protest gegen das
durch den Segen meines sterbenden Vaters für
mich heilig gewordene Gelübde auflehnen zu wollen,
mich nicht zu stören, nicht zu quälen in meinem
dringenden Bedürfnis nach Ruhe und Frieden.
Ob es Ihnen, Herr Professor, genügt, daß ich
Ihre Frau werden will mit nichts weiter ausgerüstet,
als mit Achtung und schrankenlosem Vertrauen zu
Ihnen, weiß ich nicht. Das aber kann ich Ihnen
fest und treu versprechen: was zwischen mir und
Herrn v. Borgstedt gewesen ist, werde ich mich nach
allen meinen Kräften bemühen, auszulöschen aus
meinem Herzen, zu vergessen — auch dann, wenn
Ihnen die Erklärungen dieses Briefes Veranlassung
geben sollten, auf meine Hand zu verzichten.
Julia v. Rottenburg."
Altdorf lehnte sich in seinen Sessel zurück, ließ
die Hand, die Julias Brief hielt, aufs Knie herab-
sinken und sann.
Sollte es nun so bleiben, wie er sich's vor-
genommen? Hatte ihm Julias Brief denn über-
haupt etwas Neues gesagt?
Ehrlich wie Gold und durchsichtig wie Glas war
sie gewiß. Ein Mädchen von der Art des Durch-
schnitts hätte wohl kaum ohne äußeren Zwang ihre
Karten so offen hingelegt, hätte jedenfalls ihre Be-
ziehungen zu dem Mann, den sie liebte, nicht eher
abgebrochen, als bis sie des anderen, den sie aus
Pflichtgefühl und kindlichem Gehorsam heiraten
wollte, vollständig sicher war, bis sie zuverlässig
wußte: das Geständnis, das du ihm abgelegt hast,
ist ihm kein Hindernis, dich zu seiner Frau zu
machen.
So frei und offen, so ganz ohne Hinterhalt,
gaben sich nur Kernmenschen, Vollnaturen.
Aber wozu bedachte er denn das alles? Wäre
Julia nicht so, wie sie war, wäre Julia nicht eben
Julia, hätte sein Herz dann überhaupt mit allen
seinen Fasern so an ihr festwachsen können?
Nur eine Gefahr blieb. Wenn die Liebe zu
Borgstedt zu tief und fest in Julia saß, wenn sie
diese Liebe nicht überwinden, nicht mit ihr fertig
werden konnte, was dann? Leicht und oberflächlich
veranlagte Menschen schlugen das Vergangene wohl
bald in den Wind, vergaßen das Alte rasch über
dem Neuen, aber gerade die starken Seelen hielten
das einmal Gewonnene, das einmal Umklammerte,
mit unvergänglicher Sehnsucht fest, trugen es mit
sich durch ihr ganzes Leben.
Altdorf stützte den Kopf in die Hand und seufzte.
Wenn er Julia an sich band, an sich kettete,
und sie wurde unglücklich an seiner Seite, mußte
das nicht auch ihn selbst unglücklich machen, ja viel,
viel unglücklicher als heute der kurz entschlossene,
freiwillige Verzicht?
Vor seinem geistigen Auge tauchte Julias schönes,
vornehmes Antlitz, tauchte ihre stolze, schlanke Ge-
stalt auf, tausend berückende Züge ihres liebreizen-
den Wesens huschten durch seine Erinnerung, lockten
und lockten. Und dann sah er seinen Nebenbuhler,
den schillernden, den Blender, über dessen erste, von
der Braut wieder aufgelöste Verlobung, über dessen
afrikanische Zügellosigkeiten er voll unterrichtet war,
von dem er ebensogut wie Oberst v. Rottenburg
wußte, daß er sich immer nur widerwillig in die
strenge Zucht des Heimatdienstes geschickt, daß er
nur deshalb zur Schutztruppe übergetreten war, weil
ihm trotz seiner anerkannt hervorragenden Begabung
der Abschied gedroht hatte.
. m M15
Ein tiefer Atemzug hob die Brust des grübeln-
den, schwer mit sich ringenden Mannes.
Nein — Borgstedt, den alle, die ihn genau
kennen mußten, als eine leidenschaftliche, unbestän-
dige, sprunghafte Natur schilderten, Borgstedt bot,
auch ohne Vorurteil betrachtet, keinerlei Garantie
dafür, daß Julia bei ihm wohl gehütet und ge-
borgen sein würde.
War sie, die sonst so Helläugige, Kluge, denn
so blind in seine äußeren Vorzüge verliebt, daß sie
nichts von den Gefahren und Abgründen ahnte, die
in ihm ruhten?
Langsam reckte sich Altdorf in den breiten Schul-
tern, ballte die Faust, als gälte es, etwas zu zwingen,
nahm Papier und Feder und schrieb:
„Liebe Julia!
Herzlich danke ich Ihnen für Ihren Brief.
Vertrauen gegen Vertrauen, vom ersten Schritt
bis zum letzten, den wir zusammen tun — nicht
wahr, so soll es zwischen uns sein und bleiben?
Tagelang habe ich mich mit dem Gedanken ge-
tragen, das Opfer, das Sie mir, oder richtiger Ihrem
toten Vater, bringen wollten, auszuschlagen, Ihnen
zu sagen, daß ich Sie auf das einer Zwangslage
entsprungene Wort nicht festnageln möchte. Und
noch heute, morgen, an jedem Tage in den nächsten
Wochen oder Monaten, an dem Sie etwa zu der
Überzeugung kommen sollten, daß Sie das Ver-
gangene nicht vergessen, daß Sie nicht hoffen können,
an meiner Seite Ihr Glück zu finden, werde ich
Sie ohne Zögern freigeben. Denn nur Ihr Glück
wollte Ihr Herr Vater, als er das bindende Wort
von Ihnen forderte, nur daran, Ihnen eine mög-
lichst frohe, sorgenfreie Zukunft zu schaffen, dachte
er in seiner letzten Stunde. Und nur insoweit, als
die Erfüllung des gegebenen Wortes Ihnen zu
Ihrem Glück dienen kann, darf Ihnen dieses Wort
heilig sein.
Werden Sie mich für einen schlimmen Egoisten
halten, wenn ich es dennoch wenigstens versuchen
will, Sie an mich zu gewöhnen, Ihnen meine Person
erträglich zu machen? — Im Verlangen nach Glück
sind wir Männer ja doch nun einmal alle mitein-
ander Egoisten.
Ich bin in Kampf und Arbeit, in Arbeit und
Kampf zu alt geworden, um Ihnen poetisch schwung-
voll schildern zu können, wie sehr lieb ich Sie habe.
Und wenn ich's auch könnte, ich käme mir lächer-
lich dabei vor. Den Grund zu einem Bündnis
von Dauer legt man wohl besser mit treuem Tun
als mit schönen Reden.
Nur das darf ich wohl sagen: alles, was an
Kraft und Güte in mir ist, will ich aufbieten, Ihr
Leben reich und glänzend, Ihr Herz froh zu machen.
Gleichzeitig mit diesen Zeilen schicke ich Ihnen
den Verlobungsring und mein Brautgeschenk. Ich
denke mir, die Übersendung wird Ihnen weniger
peinlich sein als die Überreichung.
Morgen werde ich mir erlauben, persönlich vor-
zusprechen und Sie und Ihre Frau Mutter um
Angabe der Adressen zu bitten, an die Sie Karten
mit der Anzeige unseres Verlöbnisses geschickt zu
sehen wünschen.
Mit der Bitte, mich Ihrer Frau Mutter emp-
fehlen zu wollen, bin ich ganz der Ihre
Doktor Altdorf."
Der Professor las den Brief noch einmal durch
und fand, daß er ihm herzlich schlecht gelungen wäre.
Er schloß ihn vorläufig in den Schreibtisch. Erst am
Spätnachmittag, als er alle seine Tagesgeschäfte
erledigt hatte, fuhr er bei dem besten Juwelier
der Stadt vor, kaufte zwei Verlobungsringe und
ein kostbares Diamantkollier, und danach in einem
benachbarten Blumengeschäft ein reich bewimpeltes
Schiff voll wundervoller Rosen. Zu Hause bettete
er in die Rosenpracht hinein den Brief, den Hals-
schmuck und den für Julia bestimmten Ring und
sandte das Schiff mit der wertvollen Ladung durch
seinen Diener in die Rottenburgsche Wohnung.
Nachdem er sich den für sich selbst gekauften
Ring an den Finger gesteckt hatte, sah er lange
auf seine Hand, die nie vordem den allergeringsten
Schmuck getragen hatte, und schüttelte lächelnd den
Kopf.
Was wohl seine Assistenten, Praktikanten und
Studenten sagen würden, wenn sie inne wur-
den, daß ihr „Alter" noch ans solche Jugendstreiche
verfiel?
Neunter — _
Die Verlobung, deren Kunde am nächsten Tage
die Zeitungen in alle Welt hinaustrugen, schien
übrigens nirgendwo ein mißbilligendes Erstaunen
zu erregen.
Ja, der dicke Oberarzt mit dem gefühlvollen
Herzen, der das Glück hatte, seinem Chef die aller-
erste Gratulation darzubringen, sagte: „Ehrlich ge-
standen, Herr Professor, wenn ich mir ein Wort
letzte Stunde gerüstet ist. Und zuletzt sagte er:
„Was auch vorgestern nachmittag den unmittelbaren
Anlaß zu dem jähen Zusammenbruch gegeben haben
mag, Fräulein Julia, glauben Sie mir: jedes be-
liebige andere Ereignis, jeder Ärger über die ge-
ringsügigste Kleinigkeit hätte bei dem hoffnungs-
losen Zustand des Kranken dieselbe Wirkung haben
können. Und ganz gewiß ist es — und das soll und
muß Ihnen ein Trost sein —, daß der Schlaganfall
ihn sanft und schmerzlos durch das dunkle Tor hin-
übergeleitet hat, während er sonst vielleicht noch
viele Wochen qualvollsten Leidens hätte durchmachen
müssen."
Wohl verlangte es ihn, ihr begütigend über das
blonde Haar zu streichen oder ihre Hand liebkosend
in die seine zu nehmen, aber wieder ging er von
ihr wie ein Fremder.
Julia, die ja nicht ahnen konnte, daß er sich
mit dem Gedanken trug, sie freizugeben, dankte ihm
seine zartfühlende Zurückhaltung — und doch —
sie wußte selbst nicht, ob ihr nicht vielleicht von
Herzen wohl gewesen wäre, wenn sie ihren müd-
geweinten Kopf hätte still an seine Schulter lehnen
können. Ruhe finden, Ruhe vor all den wilden
Stürmen, die in ihr und um sie brausten! Und der
schlimmste Sturm, der heißeste, ballte erst noch fern
am Horizont seine Wolken zusammen, der Sturm,
den Borgstedt in seiner leidenschaftlichen Eifersucht
über sie heraufbeschwören würde, wenn er den
Brief erhielt, den sie ihm gleich am Morgen nach
des Vaters Tod geschrieben. Mit Schrecken er-
innerte sie sich der Stunde, in der er in Liebenstein
zu ihr gesprochen: „Ich lasse Sie keinem anderen
Manne!" Fest und schwer wie Steine waren seine
Worte gefallen, und noch immer stand ihr sein
drohender Blick vor Augen, der scharf wie ein Messer
und funkelnd wie glühender Stahl gewesen war. —
Der Zufall fügte es, daß Professor Altdorf, als
er am Spätnachmittag des nächsten Tages von
Rottenburgs Beerdigung nach Hause kam, auf
seinem Schreibtisch ein Telegramm vorfand, in dem
er ersucht wurde, unverzüglich zur Operation eines
russischen Großfürsten nach Petersburg zu kommen.
In gewissem Sinne war ihm dieser Auftrag
lieb. Er gab ihm Zeit, fern von Julia noch einmal
in Ruhe und Klarheit seine Lage zu überdenken,
er gewährte ihm für die entscheidende Unterredung,
die er sonst in jedem Fall ohne Verzug hätte her-
beiführen müssen, einen Aufschub. Und in seinem
Entschluß, Julia ihr Wort zurückzugeben, fühlte er
sich gar nicht mehr sicher.
Zu des Obersten Bestattung war er mit der
Familie Rottenburg in einem Wagen gefahren, und
während Waldemar seine Mutter geleitet, hatte er
Julia geführt. Fest hatte sie sich auf diesem schwer-
sten, allerschwersten Gange auf seinen Arm gestützt,
und bei der Rückfahrt war sie seinen Augen mit
einem Blick begegnet, aus dem bei allem Schmerz
und aller Trauer felsenfestes Vertrauen gesprochen
hatte.
Keine Frage — sie hielt sich an das stumme,
von ihrem Vater gewollte Gelöbnis unverbrüchlich
gebunden. Würde sie es nicht als eine tödliche
Kränkung auffassen, wenn er nun vor sie hintrat
und ihr sagte, daß er ihr die Freiheit Wiedergabe?
Würde sie nicht annehmen, daß er ihr mißtraute?
Wußte er denn gewiß, wie es in ihr aussah? War
ihre Seele nicht vielleicht ein ans irrer Fahrt flügel-
lahm geschlagener Vogel, der froh ist, irgendwo
einen sicheren Unterschlupf gefunden zu haben?
Nach vier Tagen, auf der Rückfahrt von Peters-
burg, in dem matterleuchteten Abteil des die Nacht
durchrasenden Eilzugs, kam Altdorf mit sich ins reine.
Er würde auf seinem Recht bestehen, sich mit Julia
verloben. In dem häufigen Zusammensein des
Brautstandes, im gegenseitigen Prüfen und Kennen-
lernen mußte es sich dann ja Herausstellen, ob Julia
an seiner, er an Julias Seite ein volles und reines
Lebensglück würde finden können. Schlug aber die
Hoffnung, auf die er baute, fehl — nun, so war
immer noch Zeit, das Bündnis zu lösen, ehe es
zu einem unlösbaren wurde. —
Unter den zahlreichen Korrespondenzen, die sich
während seiner Abwesenheit auf seinem Schreib-
tisch aufgehäuft hatten, fand Altdorf einen Brief
von Julia vor. Er öffnete ihn vor allen anderen
und las folgendes:
„An jedem der vergangenen schweren Tage wollte
ich mich gegen Sie aussprechen, Ihnen alles sagen,
was unklar und störend zwischen uns liegt, fand
indessen nie die Kraft dazu. Und darum danke ich
Ihnen, daß Sie nicht mit Fragen und Forschen in
mich gedrungen sind, daß Sie mir Zeit gelassen
haben, mich zu sammeln und zu fassen.
Zürnen Sie mir nicht, wenn ich mich auch heute
noch vor einer Aussprache fürchte und Ihnen des-
halb schriftlich meine Erklärungen gebe.
.Va5 Luch fül- Me .i
Was Sie gewiß schon aus den letzten Worten
meines Vaters herausgehört haben werden — ja,
ich habe mich an jenem unseligen Nachmittag, als
mein Vater mir nach Ihrem Weggang Ihren An-
trag ausrichtete, geweigert, Ihre Frau zu werden.
Wohl war ich mir bewußt, daß schwerlich je-
mals ein angesehenerer, besserer und zuverlässigerer
Mann als Sie um mich werben würde, wohl hatte
ich Sie in den zwei Jahren, in denen Sie als Arzt
in unserem Hause aus und ein gingen, so auf-
richtig schätzen gelernt, daß meine Verehrung für
Sie durch all das Gute, was Sie an meinem Bruder
taten, kaum noch gesteigert werden konnte — aber
ich trug in meinem Herzen bereits das Bild eines
anderen, an den ich mich mit einem heimlichen
Verlöbnis gebunden hatte. Wer dieser andere ist,
wird Ihnen sicher kein Geheimnis sein, und ich
brauche deshalb seinen Namen wohl nicht hierher-
zusetzen. Oder — da er ja schließlich doch wohl
einmal zwischen uns genannt werden muß, so ist es
wohl am besten, ihn gleich offen auszusprechen:
es ist Freiherr v. Borgstedt.
Aber gerade, daß er es war, brachte meinen
Vater so außer sich; denn immer hatte er gegen
ihn eine starke Abneigung gehegt, mich auch schon
in Liebenstein vor seinen Bewerbungen gewarnt.
Vor fünf Tagen habe ich nun Herrn v. Borg-
stedt von meiner Verlobung mit Ihnen in Kenntnis
gesetzt. Meinen wenigen Zeilen fügte ich nur noch
die Bitte hinzu, sich mit keinem Protest gegen das
durch den Segen meines sterbenden Vaters für
mich heilig gewordene Gelübde auflehnen zu wollen,
mich nicht zu stören, nicht zu quälen in meinem
dringenden Bedürfnis nach Ruhe und Frieden.
Ob es Ihnen, Herr Professor, genügt, daß ich
Ihre Frau werden will mit nichts weiter ausgerüstet,
als mit Achtung und schrankenlosem Vertrauen zu
Ihnen, weiß ich nicht. Das aber kann ich Ihnen
fest und treu versprechen: was zwischen mir und
Herrn v. Borgstedt gewesen ist, werde ich mich nach
allen meinen Kräften bemühen, auszulöschen aus
meinem Herzen, zu vergessen — auch dann, wenn
Ihnen die Erklärungen dieses Briefes Veranlassung
geben sollten, auf meine Hand zu verzichten.
Julia v. Rottenburg."
Altdorf lehnte sich in seinen Sessel zurück, ließ
die Hand, die Julias Brief hielt, aufs Knie herab-
sinken und sann.
Sollte es nun so bleiben, wie er sich's vor-
genommen? Hatte ihm Julias Brief denn über-
haupt etwas Neues gesagt?
Ehrlich wie Gold und durchsichtig wie Glas war
sie gewiß. Ein Mädchen von der Art des Durch-
schnitts hätte wohl kaum ohne äußeren Zwang ihre
Karten so offen hingelegt, hätte jedenfalls ihre Be-
ziehungen zu dem Mann, den sie liebte, nicht eher
abgebrochen, als bis sie des anderen, den sie aus
Pflichtgefühl und kindlichem Gehorsam heiraten
wollte, vollständig sicher war, bis sie zuverlässig
wußte: das Geständnis, das du ihm abgelegt hast,
ist ihm kein Hindernis, dich zu seiner Frau zu
machen.
So frei und offen, so ganz ohne Hinterhalt,
gaben sich nur Kernmenschen, Vollnaturen.
Aber wozu bedachte er denn das alles? Wäre
Julia nicht so, wie sie war, wäre Julia nicht eben
Julia, hätte sein Herz dann überhaupt mit allen
seinen Fasern so an ihr festwachsen können?
Nur eine Gefahr blieb. Wenn die Liebe zu
Borgstedt zu tief und fest in Julia saß, wenn sie
diese Liebe nicht überwinden, nicht mit ihr fertig
werden konnte, was dann? Leicht und oberflächlich
veranlagte Menschen schlugen das Vergangene wohl
bald in den Wind, vergaßen das Alte rasch über
dem Neuen, aber gerade die starken Seelen hielten
das einmal Gewonnene, das einmal Umklammerte,
mit unvergänglicher Sehnsucht fest, trugen es mit
sich durch ihr ganzes Leben.
Altdorf stützte den Kopf in die Hand und seufzte.
Wenn er Julia an sich band, an sich kettete,
und sie wurde unglücklich an seiner Seite, mußte
das nicht auch ihn selbst unglücklich machen, ja viel,
viel unglücklicher als heute der kurz entschlossene,
freiwillige Verzicht?
Vor seinem geistigen Auge tauchte Julias schönes,
vornehmes Antlitz, tauchte ihre stolze, schlanke Ge-
stalt auf, tausend berückende Züge ihres liebreizen-
den Wesens huschten durch seine Erinnerung, lockten
und lockten. Und dann sah er seinen Nebenbuhler,
den schillernden, den Blender, über dessen erste, von
der Braut wieder aufgelöste Verlobung, über dessen
afrikanische Zügellosigkeiten er voll unterrichtet war,
von dem er ebensogut wie Oberst v. Rottenburg
wußte, daß er sich immer nur widerwillig in die
strenge Zucht des Heimatdienstes geschickt, daß er
nur deshalb zur Schutztruppe übergetreten war, weil
ihm trotz seiner anerkannt hervorragenden Begabung
der Abschied gedroht hatte.
. m M15
Ein tiefer Atemzug hob die Brust des grübeln-
den, schwer mit sich ringenden Mannes.
Nein — Borgstedt, den alle, die ihn genau
kennen mußten, als eine leidenschaftliche, unbestän-
dige, sprunghafte Natur schilderten, Borgstedt bot,
auch ohne Vorurteil betrachtet, keinerlei Garantie
dafür, daß Julia bei ihm wohl gehütet und ge-
borgen sein würde.
War sie, die sonst so Helläugige, Kluge, denn
so blind in seine äußeren Vorzüge verliebt, daß sie
nichts von den Gefahren und Abgründen ahnte, die
in ihm ruhten?
Langsam reckte sich Altdorf in den breiten Schul-
tern, ballte die Faust, als gälte es, etwas zu zwingen,
nahm Papier und Feder und schrieb:
„Liebe Julia!
Herzlich danke ich Ihnen für Ihren Brief.
Vertrauen gegen Vertrauen, vom ersten Schritt
bis zum letzten, den wir zusammen tun — nicht
wahr, so soll es zwischen uns sein und bleiben?
Tagelang habe ich mich mit dem Gedanken ge-
tragen, das Opfer, das Sie mir, oder richtiger Ihrem
toten Vater, bringen wollten, auszuschlagen, Ihnen
zu sagen, daß ich Sie auf das einer Zwangslage
entsprungene Wort nicht festnageln möchte. Und
noch heute, morgen, an jedem Tage in den nächsten
Wochen oder Monaten, an dem Sie etwa zu der
Überzeugung kommen sollten, daß Sie das Ver-
gangene nicht vergessen, daß Sie nicht hoffen können,
an meiner Seite Ihr Glück zu finden, werde ich
Sie ohne Zögern freigeben. Denn nur Ihr Glück
wollte Ihr Herr Vater, als er das bindende Wort
von Ihnen forderte, nur daran, Ihnen eine mög-
lichst frohe, sorgenfreie Zukunft zu schaffen, dachte
er in seiner letzten Stunde. Und nur insoweit, als
die Erfüllung des gegebenen Wortes Ihnen zu
Ihrem Glück dienen kann, darf Ihnen dieses Wort
heilig sein.
Werden Sie mich für einen schlimmen Egoisten
halten, wenn ich es dennoch wenigstens versuchen
will, Sie an mich zu gewöhnen, Ihnen meine Person
erträglich zu machen? — Im Verlangen nach Glück
sind wir Männer ja doch nun einmal alle mitein-
ander Egoisten.
Ich bin in Kampf und Arbeit, in Arbeit und
Kampf zu alt geworden, um Ihnen poetisch schwung-
voll schildern zu können, wie sehr lieb ich Sie habe.
Und wenn ich's auch könnte, ich käme mir lächer-
lich dabei vor. Den Grund zu einem Bündnis
von Dauer legt man wohl besser mit treuem Tun
als mit schönen Reden.
Nur das darf ich wohl sagen: alles, was an
Kraft und Güte in mir ist, will ich aufbieten, Ihr
Leben reich und glänzend, Ihr Herz froh zu machen.
Gleichzeitig mit diesen Zeilen schicke ich Ihnen
den Verlobungsring und mein Brautgeschenk. Ich
denke mir, die Übersendung wird Ihnen weniger
peinlich sein als die Überreichung.
Morgen werde ich mir erlauben, persönlich vor-
zusprechen und Sie und Ihre Frau Mutter um
Angabe der Adressen zu bitten, an die Sie Karten
mit der Anzeige unseres Verlöbnisses geschickt zu
sehen wünschen.
Mit der Bitte, mich Ihrer Frau Mutter emp-
fehlen zu wollen, bin ich ganz der Ihre
Doktor Altdorf."
Der Professor las den Brief noch einmal durch
und fand, daß er ihm herzlich schlecht gelungen wäre.
Er schloß ihn vorläufig in den Schreibtisch. Erst am
Spätnachmittag, als er alle seine Tagesgeschäfte
erledigt hatte, fuhr er bei dem besten Juwelier
der Stadt vor, kaufte zwei Verlobungsringe und
ein kostbares Diamantkollier, und danach in einem
benachbarten Blumengeschäft ein reich bewimpeltes
Schiff voll wundervoller Rosen. Zu Hause bettete
er in die Rosenpracht hinein den Brief, den Hals-
schmuck und den für Julia bestimmten Ring und
sandte das Schiff mit der wertvollen Ladung durch
seinen Diener in die Rottenburgsche Wohnung.
Nachdem er sich den für sich selbst gekauften
Ring an den Finger gesteckt hatte, sah er lange
auf seine Hand, die nie vordem den allergeringsten
Schmuck getragen hatte, und schüttelte lächelnd den
Kopf.
Was wohl seine Assistenten, Praktikanten und
Studenten sagen würden, wenn sie inne wur-
den, daß ihr „Alter" noch ans solche Jugendstreiche
verfiel?
Neunter — _
Die Verlobung, deren Kunde am nächsten Tage
die Zeitungen in alle Welt hinaustrugen, schien
übrigens nirgendwo ein mißbilligendes Erstaunen
zu erregen.
Ja, der dicke Oberarzt mit dem gefühlvollen
Herzen, der das Glück hatte, seinem Chef die aller-
erste Gratulation darzubringen, sagte: „Ehrlich ge-
standen, Herr Professor, wenn ich mir ein Wort