Z68..
so würde das eine ganz außerordentlich beruhigende
Wirkung auf ihn ausüben. Sein Leben hängt doch
immer noch an einem Härchen, und wir Arzte wissen
genau, daß seelische Einflüsse für unsere Patienten
wie von höchster Gefahr, so auch von höchstem Segen
sein können."
Da blieb Julia. Sie trug ja die Schuld, daß
es so weit mit dem Unvernünftigen gekommen war.
Sie durfte ihn keiner neuen Gefahr aussetzen. Alt-
dorf mußte das doch einsehen und begreifen.
Die nächsten achtundvierzig Stunden lag Barg-
stedt noch fast in dauernder Besinnungslosigkeit, und
es war ein hartes Stück Arbeit, seinen geschwächten
Organismus durch Zuführung flüssiger Kräftigungs-
und Anregungsmittel vor der völligen Funktions-
einstellung zu bewahren.
Aber auch während der wenigen Minuten, in
denen die schwere Ohnmacht ihn dann losließ, kam
er offenbar niemals zum Bewußtsein seiner Lage
und seiner Umgebung. Er regte sich, schlug die
Augen auf, sah sich ein Weilchen mit entgeistertem
Blick um, bewegte leise die Lippen, ohne einen Laut
hervorzubringen — dann sanken seine Lider schon
wieder matt und schwer herab.
Erst am dritten Morgen nach der Operation er-
wachte er zu voller Sinnenklarheit.
„Julia — Julia!" hauchte er mit matter Stimme,
weiter nichts. Aber in seinen Angen lag eine Welt
voll jubelnden Glücks. Zitternd vor Wonne nahm
er Julias Hand, hielt sie fest in der seinen und ließ
sie nicht los während der ganzen zwei Stunden,
die er in wachem Zustand verbrachte, ließ sie selbst
in den Minuten nicht los, in denen man ihm etwas
Champagner über die blässen Lippen flößte. Mit
einem seligen Lächeln sank er schließlich in einen
ruhigen, tiefen Schlaf, den sichersten Boten nahen-
der Genesung,
Wie von einem Alp befreit sprang Julia auf.
„Nun muß ich aber nach Hause!"
Um die Wette mit dem Herbstwind, der die
bunten Blätter vyr ihr herwirbelte, eilte sie durch
die Straßen.
Aber noch ehe die frühe Abenddämmerung her-
einbrach, war Frau v« Borgstedt schon wieder bei ihr.
„Gnädige Frau, bitte, erlauben Sie's. — Liebe,
liebe Julia, bitte — bitte, kommen Sie doch noch
einmal mit! Mein Sohn ist ganz außer sich, daß
Sie fort sind. Rein von Sinnen ist er. Warum
wir ihn nicht haben sterben lassen? Er will nicht
mehr leben, keine Stunde mehr, wenn Sie nicht
wieder zu ihm kommen," *
Heiße Bitterkeit stieg in Julias Brust auf, schnürte
ihr die Kehle zu. Aber sie ging doch wieder mit.
Sie mußte tun, was irgend zu tun war, um den
zu retten, der um ihretwillen auf der schmalen
Schneide zwischen Tod und Leben schwankte.
Bargstedts Wangen glühten im Fieber, als sie
an sein Bett trat. „Schwester, gehen Sie — und
Mutter, du auch," befahl er. Und dann, als er mit
Julia allein war, murmelte er: „Dank — tausend
Dank! Leg deine Hand an meine Lippen, daß ich
sie küssen kann. O du — wie lieb hab' ich dich!"
Fest, mit all seiner schwachen Kraft, preßte er ihre
eiskalten Finger. „Du wirst nun bei mir bleiben,
nie wieder Weggehen? So sprich doch — antworte
mir!"
Julia war es, als ob Feuerströme über ihren
Körper rieselten. Was soll das werden? Gott all-
mächtiger, hab' Erbarmen!
„Versprich mir — schwöre mir, daß du bei mir
bleibst, daß ich dich nicht wieder verliere!"
„Sie wissen, Winfried — ich bin die Braut des
Mannes, dem Sie — zu verdanken haben, daß Sie
noch am Leben find." Abgerissen, in angstvollem
Ton kamen die Worte über ihre Lippen. Sie
fühlte, es galt einen Kampf um ihr Heiligstes, ihr
Glück, ihr alles. Kalter Schweiß brach aus ihrer Stirn.
Borgstedt lachte höhnisch auf, machte den Ver-
such, sich zu erheben, und sank mit einem dumpfen
Ächzen in die Kissen zurück.
„Um alles in der Welt," flehte Julia, „so liegen
Sie doch ruhig. So nehmen Sie doch Vernunft an!"
„Dem Mann, sagst du, dem ich verdanke, daß
ich noch am Leben bin?" stieß Borgstedt endlich her-
aus. „Ich hab' ihn nicht gebeten, mir mein Leben
zu erhalten. Ich hasse ihn. Er Pfuscht mir überall
ins Handwerk. Er hat mir dich genommen, ge-
stohlen — er nahm mir auch den*Tod, in dem ich
Frieden finden wollte. Aber ich will nicht mehr
leben, wenn du nicht wieder mein sein, mir ge-
hören willst. Ich kann dann einfach nicht mehr
leben. — Sag, daß du ihn laufen läßt, den anderen,
den Tausendkünstler, sonst — ich reiße mir den Ver-
band von der Brust, die Kanüle aus der Wunde
— so viel Kraft hab' ich noch — vor deinen Augen,
daß ich verblute oder ersticke — dann kannst du
dich rühmen, mich zweimal — gemordet zu haben!"
. . vaz Zuch fül* Mle . --
Julia war einen Schritt zurückgewichen, tastete
mit der Hand nach dem Bettpfosten, einen Halt
zu finden. Heißer Zorn, Abscheu stieg in ihr auf,
und sie fühlte deutlich, sie hätte den Rücksichtslosen
hassen müssen, wenn nicht noch das Mitleid mit
seinem körperlichen Elend in ihr wach gewesen wäre.
Borgstedts Augen glichen feurigen Kohlen. Jeder
Nerv, jede Faser in seinem schmalen, eingefallenen
Gesicht zuckte im Fieberdelirium.
„Tu den Ring weg, den verruchten, der dich
an den anderen bindet!" keuchte er. „Ich kann
ihn nicht sehen — er ist wie eine Flamme, die deine
Hand verbrennt. Gib ihn her — oder —" Seine
Finger griffen nach dem Verband, rissen daran, aus
seinen Zügen sprach der feste Entschluß, das wahn-
sinnige Vorhaben auszuführen.
Julia fiel ihm in den Arm, hielt ihn fest mit
umklammernden Händen. „Winfried — hab' Er-
barmen!"
„Ring weg — schwöre —" Er konnte nicht
weitersprechen, röchelte schwer, Blutstropfen traten
auf feine Lippen.
Julia zog den Ring vom Finger; es war ihr,
als wäre er mit tausend Fäden in ihrem Herzen
verwachsen. Mit tausend Fäden, die sie unter wehen
Schmerzen zerreißen mußte.
„Da — ich hab's getan," preßte sie hervor.
„Her! Ich will ihn haben!"
Einen Augenblick wehrte sie sich noch. Da der
Unsinnige sich aber von neuem aufzurichten suchte,
legte sie den Ring in seine ausgestreckte Hand, die
sich sofort krampfhaft um das Kleinod zusammen-
schloß. Dann wischte sie dem Keuchenden das Blut
von den Lippen, lief zur Tür, rief die Schwester
und wankte wieder an das Bett zurück.
fünfzehnter Kapitel.— .— —
Professor Altdorf war nach der Operation nur
noch einmal dagewesen, um einen neuen Verband
anzulegen Kühl und flüchtig hatte er Julia die
Hand gereicht, und beim Abschied hatte er, halb
zu ihr, halb zu Frau v. Borgstedt gesagt: „Ich
brauche nicht mehr wiederzukommen. Alles, was
zu tun ist, kann Herr Doktor Wegener erledigen."
Nach dem schweren Rückschlag aber, der den
Kranken als eine nur zu natürliche Folge der er-
regten Unterredung mit Julia getroffen hatte, hielt
cs Doktor Wegener doch für geraten, Altdorf noch
einmal um seinen Besuch zu bitten.
Und Altdorf kam, ordnete den Verband, nahm
die Kanülen heraus, ließ sie reinigen und setzte sie
wieder ein.
„Sie müssen für absolute Ruhe sorgen. Weiter
ist hier nichts zu machen!"
Als er sich verabschieden wollte, erspähte sein
scharfer Blick, dem so leicht nichts entging, daß Julia
ihren Verlobungsring nicht mehr am Finger hatte.
Den Bruchteil einer Sekunde stand er wie er-
starrt. Seine Augen umdunkellen sich, seine Züge
nahmen einen steinharten Ausdruck an. Dann hatte
er sich schon wieder in der Gewalt.
Er gab Julia die Hand und sah sie an und sah
den angstvoll flehenden Blick, mit dem sie ihm be-
gegnete. Derselbe Blick, genau so voll Qual und
Verzweiflung, dachte er, wie der, den sie einst an
jenem schmerzvoll-unvergeßlichen Abend in Lieben-
stein Borgstedt zugesandt batte. Nur damals stand
darin geschrieben: „Hab' Erbarmen"— heute aber:
„Vergib!"
Ja, vergib! — Vergeben, vergessen wär' nicht
schwer, wenn unser Herz nur stille wär'!
Das zuckte ihm durch den Siun, während er
sich von den anderen verabschiedete. Und zwischen
Tür und Angel überlegte er: „Schreiben hätte sie
dir doch wenigstens können. Die Überraschung, die
-— Kränkung hätte sie dir ersparen müssen!"
Seine Gedanken gingen wirr und kraus. Das
Ablegen des Ringes war der Anfang vom Ende.
Borgstedt hatte sie wohl halb und halb dazu ge-
zwungen, und das Schuldbewußtsein hatte ihrer
Widerstandskraft den Rest gegeben. Aber Unsinn,
das! Sie hatte ja gar keinen Grund, sich schuld-
bewußt zu fühlen. Was dem Tollkopf den Revolver
in die Hand gedrückt hatte, war ja weit mehr
die Verzweiflung um die verlorene Existenz, als
der Schmerz um den Verlust der Geliebten ge-
wesen! — Julia war doch sonst so klng in allen
Dingen. So mußte sie doch auch das einsehen.
Doch die Liebe machte eben blind. Und daran
lag's, nur daran, daß Julia diesen Menschen noch
immer liebte!
Warum eigentlich nur in aller Welt? Ja,
warum? Ein Narr wartet auf Antwort.
Es gab eben wohl doch eine Liebe, die nicht das
ihre sucht, die alles trägt, alles duldet, die nimmer
aufhört, die den anderen nicht fallen läßt, und wenn
er noch so weit unten ist.
Vorbei!
. n heft 17
Altdorf bohrte sich hinein m den Gedanken, ver-
rannte sich gleichsam darin. Ja, so geht's, wenn
alte Narren ihre Hände nach jungen Mädchenblüten
ausstrecken! —
Von Tag zu Tag wartete er, daß Julia ihm
schreiben sollte, und als kein, Brief von ihr kam,
sagte er sich voll höhnischer Bitterkeit: „Sie findet
wohl vor lauter Pflege und Aufopferung, vor Gram
und Sorge keine Zeit zum Schreiben, oder sie hat
nicht den Mut, oder sie denkt, du weißt ja genug,
und wartet nun, daß du sie großmütig freigeben
sollst."
Vollständig irre wurde er an ihr in seinem
dumpfen Gram. Auch wenn sich in seiner Brust
die Hoffnung regen wollte: sie sitzt in verzweifelter
Enge, gefangen, cingezwängt zwischen nagendem
Schuldgefühl und dem rücksichtslosen Drängen eines
Egoisten, der nur sich selber kennt — sie weiß sechst
nicht, was werden soll, so erstickte und erdrückte er
die Hoffnung, so oft sie auch immer wieder und
wieder ihr Haupt erhob. Rede dir nichts ein: sie
liebt den anderen — das ist des Rätsels klare Lösung!
Aber immerhin — er konnte ja auch abwarten,
er konnte ja auch die Dinge an sich herankommen
lassen.
Doktor Wegener schickte ihm regelmäßige Berichte,
aus denen hervorging, daß mit Borgstedt alles feinen
guten Gang ging, daß die Wunde glatt und ohne
Komplikationen verheilte, daß seine Kräfte sich hoben
von Tag zu Tag.
Ein paarmal ging er zu Frau v. Rottenburg,
halb und halb der Leute wegen, die sich schon über
den seltsamen Verlauf seiner Verlobung die Köpfe
zu zerbrechen schienen. Er traf die alte Dame
immer in Heller Verzweiflung, geradezu außer sich,
an. Sie hätte keine Macht mehr über Julia. So
oft und so streng sie ihr auch — jeden Abend, wenn
sie nach Hause käme — befehle, keinen Schritt mehr
über Frau v. Borgstedts Schwelle zu setzen, die
Unselige ließe sich nicht halten-, ginge immer wieder.
Kaurn, daß sie sich überhaupt noch Abends und
Morgens ein Stündchen um ihre Mutter kümmere.
Und dabei sähe sie blaß, verhärmt, geradezu be-
jammernswert aus, würde zusehends elender von
Tag zu Tag, und aus ihrem ganzen Wesen spräche
eine unbeschreibliche Nervosität und Unsicherheit. In
der ersten Zeit hätte sie beim Heimkommen immer
noch gefragt: „War Hermann da? Hat er nicht
geschrieben?" — Aber nun täte sie schon seit Tagen
des Bräutigams mit keiner Silbe mehr Erwähnung.
Gleich als wäre sie von einem bösen Dämon be-
sessen. Und wenn sie sie frage, was um alles in
der Welt daraus werden solle, niemals gäbe sie
eine vernünftige Antwort, fast immer nur die Ab-
wehr: „Quäl' mich nicht!"
Aber Aktdorf ließ den Gedanken, der ihm während
der erregten, von Tränen begleiteten Schilderung
Frau v. Rottenburgs schon halb zum Entschluß ge-
worden war, Julia zu schreiben, daß er sie freigäbe,
nun doch wieder fallen.
Warte noch — vielleicht findet sie doch noch
zurück zu dir!
Aber immer deutlicher merkte er, daß feine Be-
kannten sich angelegentlich mit seinem Liebeshandel
beschäftigten. Oft, wenn er irgendwo eine Minute
früher eintrat, als man ihn wohl erwartet hatte,
fiel ihm auf, daß die Unterhaltung der vor ihm
Dagewesenen jäh verstummte, und daß man um
das schleunige Weiterspinnen des Gefprächsfadens
einigermaßen in Verlegenheit geriet. Überall be-
handelte man ihn so sonderbar rücksichtsvoll und
zartfühlend. Seine Freunde, seine Assistenten, das
Personal in seiner Privatklinik, sein alter Johann.
— Ja, selbst auf seinen Studenten in der Universität
schien es wie ein beklemmender Druck zu liegen.
Keiner muckste sich, wenn er sein Kolleg hielt, alles
war so still wie in einer Kirche. Das war doch
früher nicht so gewesen! — Oder doch? Jagte er
etwa schon Hirngespinsten nach?
Das eine aber stand fest, ganz ohne Zweifel:
der dicke Oberarzt leistete sich mitunter einen so
liebevoll-besorgten Ton, daß er ihm am liebsten grob
gekommen wäre, wenn er nicht eben gewußt hätte,
daß der Mann von seiner Gefühlsweichheit doch
nicht mehr zu kurieren war.
Was ging all die Leute sein Verdruß und
Kummer an? Mochten sie fick doch um ihre eigenen
Angelegenheiten kümmern! Er verzichtete dankend
auf alle gütige Teilnahme. —
Als er wieder einmal zu Frau v. Rottenburg
kam, traf er dort zu seinem nicht geringen Erstaunen
eine alte Bekannte aus Lieben stein an, Vilma
v. Schlicken.
„Ich habe doch schon vor drei Monaten von
Chicago aus gekabelt, daß ich baldmöglichst hierher-
kommen würde, nm alle meine lieben Liebensteiner
Freunde wiederzusehen, und um Ihnen und Fräu-
lein v. Rotteuburg persönlich meine herzlichsten
so würde das eine ganz außerordentlich beruhigende
Wirkung auf ihn ausüben. Sein Leben hängt doch
immer noch an einem Härchen, und wir Arzte wissen
genau, daß seelische Einflüsse für unsere Patienten
wie von höchster Gefahr, so auch von höchstem Segen
sein können."
Da blieb Julia. Sie trug ja die Schuld, daß
es so weit mit dem Unvernünftigen gekommen war.
Sie durfte ihn keiner neuen Gefahr aussetzen. Alt-
dorf mußte das doch einsehen und begreifen.
Die nächsten achtundvierzig Stunden lag Barg-
stedt noch fast in dauernder Besinnungslosigkeit, und
es war ein hartes Stück Arbeit, seinen geschwächten
Organismus durch Zuführung flüssiger Kräftigungs-
und Anregungsmittel vor der völligen Funktions-
einstellung zu bewahren.
Aber auch während der wenigen Minuten, in
denen die schwere Ohnmacht ihn dann losließ, kam
er offenbar niemals zum Bewußtsein seiner Lage
und seiner Umgebung. Er regte sich, schlug die
Augen auf, sah sich ein Weilchen mit entgeistertem
Blick um, bewegte leise die Lippen, ohne einen Laut
hervorzubringen — dann sanken seine Lider schon
wieder matt und schwer herab.
Erst am dritten Morgen nach der Operation er-
wachte er zu voller Sinnenklarheit.
„Julia — Julia!" hauchte er mit matter Stimme,
weiter nichts. Aber in seinen Angen lag eine Welt
voll jubelnden Glücks. Zitternd vor Wonne nahm
er Julias Hand, hielt sie fest in der seinen und ließ
sie nicht los während der ganzen zwei Stunden,
die er in wachem Zustand verbrachte, ließ sie selbst
in den Minuten nicht los, in denen man ihm etwas
Champagner über die blässen Lippen flößte. Mit
einem seligen Lächeln sank er schließlich in einen
ruhigen, tiefen Schlaf, den sichersten Boten nahen-
der Genesung,
Wie von einem Alp befreit sprang Julia auf.
„Nun muß ich aber nach Hause!"
Um die Wette mit dem Herbstwind, der die
bunten Blätter vyr ihr herwirbelte, eilte sie durch
die Straßen.
Aber noch ehe die frühe Abenddämmerung her-
einbrach, war Frau v« Borgstedt schon wieder bei ihr.
„Gnädige Frau, bitte, erlauben Sie's. — Liebe,
liebe Julia, bitte — bitte, kommen Sie doch noch
einmal mit! Mein Sohn ist ganz außer sich, daß
Sie fort sind. Rein von Sinnen ist er. Warum
wir ihn nicht haben sterben lassen? Er will nicht
mehr leben, keine Stunde mehr, wenn Sie nicht
wieder zu ihm kommen," *
Heiße Bitterkeit stieg in Julias Brust auf, schnürte
ihr die Kehle zu. Aber sie ging doch wieder mit.
Sie mußte tun, was irgend zu tun war, um den
zu retten, der um ihretwillen auf der schmalen
Schneide zwischen Tod und Leben schwankte.
Bargstedts Wangen glühten im Fieber, als sie
an sein Bett trat. „Schwester, gehen Sie — und
Mutter, du auch," befahl er. Und dann, als er mit
Julia allein war, murmelte er: „Dank — tausend
Dank! Leg deine Hand an meine Lippen, daß ich
sie küssen kann. O du — wie lieb hab' ich dich!"
Fest, mit all seiner schwachen Kraft, preßte er ihre
eiskalten Finger. „Du wirst nun bei mir bleiben,
nie wieder Weggehen? So sprich doch — antworte
mir!"
Julia war es, als ob Feuerströme über ihren
Körper rieselten. Was soll das werden? Gott all-
mächtiger, hab' Erbarmen!
„Versprich mir — schwöre mir, daß du bei mir
bleibst, daß ich dich nicht wieder verliere!"
„Sie wissen, Winfried — ich bin die Braut des
Mannes, dem Sie — zu verdanken haben, daß Sie
noch am Leben find." Abgerissen, in angstvollem
Ton kamen die Worte über ihre Lippen. Sie
fühlte, es galt einen Kampf um ihr Heiligstes, ihr
Glück, ihr alles. Kalter Schweiß brach aus ihrer Stirn.
Borgstedt lachte höhnisch auf, machte den Ver-
such, sich zu erheben, und sank mit einem dumpfen
Ächzen in die Kissen zurück.
„Um alles in der Welt," flehte Julia, „so liegen
Sie doch ruhig. So nehmen Sie doch Vernunft an!"
„Dem Mann, sagst du, dem ich verdanke, daß
ich noch am Leben bin?" stieß Borgstedt endlich her-
aus. „Ich hab' ihn nicht gebeten, mir mein Leben
zu erhalten. Ich hasse ihn. Er Pfuscht mir überall
ins Handwerk. Er hat mir dich genommen, ge-
stohlen — er nahm mir auch den*Tod, in dem ich
Frieden finden wollte. Aber ich will nicht mehr
leben, wenn du nicht wieder mein sein, mir ge-
hören willst. Ich kann dann einfach nicht mehr
leben. — Sag, daß du ihn laufen läßt, den anderen,
den Tausendkünstler, sonst — ich reiße mir den Ver-
band von der Brust, die Kanüle aus der Wunde
— so viel Kraft hab' ich noch — vor deinen Augen,
daß ich verblute oder ersticke — dann kannst du
dich rühmen, mich zweimal — gemordet zu haben!"
. . vaz Zuch fül* Mle . --
Julia war einen Schritt zurückgewichen, tastete
mit der Hand nach dem Bettpfosten, einen Halt
zu finden. Heißer Zorn, Abscheu stieg in ihr auf,
und sie fühlte deutlich, sie hätte den Rücksichtslosen
hassen müssen, wenn nicht noch das Mitleid mit
seinem körperlichen Elend in ihr wach gewesen wäre.
Borgstedts Augen glichen feurigen Kohlen. Jeder
Nerv, jede Faser in seinem schmalen, eingefallenen
Gesicht zuckte im Fieberdelirium.
„Tu den Ring weg, den verruchten, der dich
an den anderen bindet!" keuchte er. „Ich kann
ihn nicht sehen — er ist wie eine Flamme, die deine
Hand verbrennt. Gib ihn her — oder —" Seine
Finger griffen nach dem Verband, rissen daran, aus
seinen Zügen sprach der feste Entschluß, das wahn-
sinnige Vorhaben auszuführen.
Julia fiel ihm in den Arm, hielt ihn fest mit
umklammernden Händen. „Winfried — hab' Er-
barmen!"
„Ring weg — schwöre —" Er konnte nicht
weitersprechen, röchelte schwer, Blutstropfen traten
auf feine Lippen.
Julia zog den Ring vom Finger; es war ihr,
als wäre er mit tausend Fäden in ihrem Herzen
verwachsen. Mit tausend Fäden, die sie unter wehen
Schmerzen zerreißen mußte.
„Da — ich hab's getan," preßte sie hervor.
„Her! Ich will ihn haben!"
Einen Augenblick wehrte sie sich noch. Da der
Unsinnige sich aber von neuem aufzurichten suchte,
legte sie den Ring in seine ausgestreckte Hand, die
sich sofort krampfhaft um das Kleinod zusammen-
schloß. Dann wischte sie dem Keuchenden das Blut
von den Lippen, lief zur Tür, rief die Schwester
und wankte wieder an das Bett zurück.
fünfzehnter Kapitel.— .— —
Professor Altdorf war nach der Operation nur
noch einmal dagewesen, um einen neuen Verband
anzulegen Kühl und flüchtig hatte er Julia die
Hand gereicht, und beim Abschied hatte er, halb
zu ihr, halb zu Frau v. Borgstedt gesagt: „Ich
brauche nicht mehr wiederzukommen. Alles, was
zu tun ist, kann Herr Doktor Wegener erledigen."
Nach dem schweren Rückschlag aber, der den
Kranken als eine nur zu natürliche Folge der er-
regten Unterredung mit Julia getroffen hatte, hielt
cs Doktor Wegener doch für geraten, Altdorf noch
einmal um seinen Besuch zu bitten.
Und Altdorf kam, ordnete den Verband, nahm
die Kanülen heraus, ließ sie reinigen und setzte sie
wieder ein.
„Sie müssen für absolute Ruhe sorgen. Weiter
ist hier nichts zu machen!"
Als er sich verabschieden wollte, erspähte sein
scharfer Blick, dem so leicht nichts entging, daß Julia
ihren Verlobungsring nicht mehr am Finger hatte.
Den Bruchteil einer Sekunde stand er wie er-
starrt. Seine Augen umdunkellen sich, seine Züge
nahmen einen steinharten Ausdruck an. Dann hatte
er sich schon wieder in der Gewalt.
Er gab Julia die Hand und sah sie an und sah
den angstvoll flehenden Blick, mit dem sie ihm be-
gegnete. Derselbe Blick, genau so voll Qual und
Verzweiflung, dachte er, wie der, den sie einst an
jenem schmerzvoll-unvergeßlichen Abend in Lieben-
stein Borgstedt zugesandt batte. Nur damals stand
darin geschrieben: „Hab' Erbarmen"— heute aber:
„Vergib!"
Ja, vergib! — Vergeben, vergessen wär' nicht
schwer, wenn unser Herz nur stille wär'!
Das zuckte ihm durch den Siun, während er
sich von den anderen verabschiedete. Und zwischen
Tür und Angel überlegte er: „Schreiben hätte sie
dir doch wenigstens können. Die Überraschung, die
-— Kränkung hätte sie dir ersparen müssen!"
Seine Gedanken gingen wirr und kraus. Das
Ablegen des Ringes war der Anfang vom Ende.
Borgstedt hatte sie wohl halb und halb dazu ge-
zwungen, und das Schuldbewußtsein hatte ihrer
Widerstandskraft den Rest gegeben. Aber Unsinn,
das! Sie hatte ja gar keinen Grund, sich schuld-
bewußt zu fühlen. Was dem Tollkopf den Revolver
in die Hand gedrückt hatte, war ja weit mehr
die Verzweiflung um die verlorene Existenz, als
der Schmerz um den Verlust der Geliebten ge-
wesen! — Julia war doch sonst so klng in allen
Dingen. So mußte sie doch auch das einsehen.
Doch die Liebe machte eben blind. Und daran
lag's, nur daran, daß Julia diesen Menschen noch
immer liebte!
Warum eigentlich nur in aller Welt? Ja,
warum? Ein Narr wartet auf Antwort.
Es gab eben wohl doch eine Liebe, die nicht das
ihre sucht, die alles trägt, alles duldet, die nimmer
aufhört, die den anderen nicht fallen läßt, und wenn
er noch so weit unten ist.
Vorbei!
. n heft 17
Altdorf bohrte sich hinein m den Gedanken, ver-
rannte sich gleichsam darin. Ja, so geht's, wenn
alte Narren ihre Hände nach jungen Mädchenblüten
ausstrecken! —
Von Tag zu Tag wartete er, daß Julia ihm
schreiben sollte, und als kein, Brief von ihr kam,
sagte er sich voll höhnischer Bitterkeit: „Sie findet
wohl vor lauter Pflege und Aufopferung, vor Gram
und Sorge keine Zeit zum Schreiben, oder sie hat
nicht den Mut, oder sie denkt, du weißt ja genug,
und wartet nun, daß du sie großmütig freigeben
sollst."
Vollständig irre wurde er an ihr in seinem
dumpfen Gram. Auch wenn sich in seiner Brust
die Hoffnung regen wollte: sie sitzt in verzweifelter
Enge, gefangen, cingezwängt zwischen nagendem
Schuldgefühl und dem rücksichtslosen Drängen eines
Egoisten, der nur sich selber kennt — sie weiß sechst
nicht, was werden soll, so erstickte und erdrückte er
die Hoffnung, so oft sie auch immer wieder und
wieder ihr Haupt erhob. Rede dir nichts ein: sie
liebt den anderen — das ist des Rätsels klare Lösung!
Aber immerhin — er konnte ja auch abwarten,
er konnte ja auch die Dinge an sich herankommen
lassen.
Doktor Wegener schickte ihm regelmäßige Berichte,
aus denen hervorging, daß mit Borgstedt alles feinen
guten Gang ging, daß die Wunde glatt und ohne
Komplikationen verheilte, daß seine Kräfte sich hoben
von Tag zu Tag.
Ein paarmal ging er zu Frau v. Rottenburg,
halb und halb der Leute wegen, die sich schon über
den seltsamen Verlauf seiner Verlobung die Köpfe
zu zerbrechen schienen. Er traf die alte Dame
immer in Heller Verzweiflung, geradezu außer sich,
an. Sie hätte keine Macht mehr über Julia. So
oft und so streng sie ihr auch — jeden Abend, wenn
sie nach Hause käme — befehle, keinen Schritt mehr
über Frau v. Borgstedts Schwelle zu setzen, die
Unselige ließe sich nicht halten-, ginge immer wieder.
Kaurn, daß sie sich überhaupt noch Abends und
Morgens ein Stündchen um ihre Mutter kümmere.
Und dabei sähe sie blaß, verhärmt, geradezu be-
jammernswert aus, würde zusehends elender von
Tag zu Tag, und aus ihrem ganzen Wesen spräche
eine unbeschreibliche Nervosität und Unsicherheit. In
der ersten Zeit hätte sie beim Heimkommen immer
noch gefragt: „War Hermann da? Hat er nicht
geschrieben?" — Aber nun täte sie schon seit Tagen
des Bräutigams mit keiner Silbe mehr Erwähnung.
Gleich als wäre sie von einem bösen Dämon be-
sessen. Und wenn sie sie frage, was um alles in
der Welt daraus werden solle, niemals gäbe sie
eine vernünftige Antwort, fast immer nur die Ab-
wehr: „Quäl' mich nicht!"
Aber Aktdorf ließ den Gedanken, der ihm während
der erregten, von Tränen begleiteten Schilderung
Frau v. Rottenburgs schon halb zum Entschluß ge-
worden war, Julia zu schreiben, daß er sie freigäbe,
nun doch wieder fallen.
Warte noch — vielleicht findet sie doch noch
zurück zu dir!
Aber immer deutlicher merkte er, daß feine Be-
kannten sich angelegentlich mit seinem Liebeshandel
beschäftigten. Oft, wenn er irgendwo eine Minute
früher eintrat, als man ihn wohl erwartet hatte,
fiel ihm auf, daß die Unterhaltung der vor ihm
Dagewesenen jäh verstummte, und daß man um
das schleunige Weiterspinnen des Gefprächsfadens
einigermaßen in Verlegenheit geriet. Überall be-
handelte man ihn so sonderbar rücksichtsvoll und
zartfühlend. Seine Freunde, seine Assistenten, das
Personal in seiner Privatklinik, sein alter Johann.
— Ja, selbst auf seinen Studenten in der Universität
schien es wie ein beklemmender Druck zu liegen.
Keiner muckste sich, wenn er sein Kolleg hielt, alles
war so still wie in einer Kirche. Das war doch
früher nicht so gewesen! — Oder doch? Jagte er
etwa schon Hirngespinsten nach?
Das eine aber stand fest, ganz ohne Zweifel:
der dicke Oberarzt leistete sich mitunter einen so
liebevoll-besorgten Ton, daß er ihm am liebsten grob
gekommen wäre, wenn er nicht eben gewußt hätte,
daß der Mann von seiner Gefühlsweichheit doch
nicht mehr zu kurieren war.
Was ging all die Leute sein Verdruß und
Kummer an? Mochten sie fick doch um ihre eigenen
Angelegenheiten kümmern! Er verzichtete dankend
auf alle gütige Teilnahme. —
Als er wieder einmal zu Frau v. Rottenburg
kam, traf er dort zu seinem nicht geringen Erstaunen
eine alte Bekannte aus Lieben stein an, Vilma
v. Schlicken.
„Ich habe doch schon vor drei Monaten von
Chicago aus gekabelt, daß ich baldmöglichst hierher-
kommen würde, nm alle meine lieben Liebensteiner
Freunde wiederzusehen, und um Ihnen und Fräu-
lein v. Rotteuburg persönlich meine herzlichsten