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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 17
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0414
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Wt 17 --HI Va8 Luch sül- nlie ..— -- Z69

Glückwünsche auszusprechen," sprudelte sie hervor.
„Und nun muß es sich gerade so unglücklich treffen,
daß Fräulein Julia zu Verwandten gereist ist.
Schade, schade!"
Alldors sah sie prüfend nm Nein das war
keine Verstellung, die Kleine wußte wirklich nicht,
wo Julia sich aufhielt. Und Frau v. Rvttenburg
konnte er die Notlüge von der Reise ihrer Tochter
wahrhaftig nicht verargen.
Vilma v. Schlieben erzählte dann in ihrer tem-
peramentvollen Art noch eine ganze Weile von
ihren Fahrten und Reifen. Borgstedts Namen er-
wähnte fie nichts Und doch waren es die aus den
Zeitungen entnommenen Nachrichten über ihn ge-
wefen, die sie sofort nach ihrer Rückkehr aus Amerika
hierhergetrieben hatten. Aber fie würde fich hüten,
etwas merken zu lafsem O, man stand nicht um-
sonst jahrelang allein und auf fich selbst angewiesen,
noch dazu auf dem schlüpfrigen Boden des Konzert-
saalpodiums, von Neiderinnen und Feindinnen be-
lauert. Da lernt man schon hübsch für sich be-
halten, was kein anderer zu wissen braucht.
Nur ganz zuletzt, als sie schon zum Aufbruch
rüstete, sagte sie: „Ich werde wohl bis morgen abend,
möglicherweise bis übermorgen abend, hier bleiben.
Ich muß mir durchaus den Saal des .Deutschen
Hauses' ansehen, in dem ich im November spielen
soll. Eine Kollegin erzählte mir nämlich, die Akustik
wäre miserabel- Ist es wirklich so — man darf
Kolleginnen nämlich nicht immer glauben fo
muß mein Impresario sich für mein Konzert um
ein anderes Lokal bemühen. Auch die Umgegend
will ich mir ein wenig betrachten- Und richtig —
Frau v. Borgstedt muß ich ja auch noch weinen
Besuch machen. Jedenfalls, gnädige Frau —' fie
küßte Frau v- Rottenburg die Hand — „komme ich
vor meiner Abreise noch einmal, um Adieu zü
sagen."
Als sie hinaus war, starrte Altdorf im dumpfen
Schweigen zu Boden. Die fuhr nun hin zu Borg-
stedts, traf Julia dort und erfuhr, daß man sie
belogen hatte. Aber hätte er Frau v. Rottenburg
Lügen strafen sollen? Nein. Überhaupt, was
fragte er nach der Meinung, die die kleine Zigeunerin
über ihn und Rottenburgs mit wegnehmen würde?
Das war ja alles so gleichgültig!
Aber sein seelisches Unbehagen wuchs, wurde zü
einem rein körperlichen.
Es geht so nicht weiter; ein Ende muß sein!
„Gnädige Frau!" Er verneigte sich und bot
Frau v. Rottenburg die Hand zum Abschied.
Erschreckt, geradezu fassungslos sah die Arme ihn
an. Er hatte sie nach seiner Verlobung mit Julia
immer „Frau Oberst" genannt, manchmal im Wohl-
sein einer gemütlichen Stunde auch wohl schon
„Mama", aber nie in so förmlicher Weise „gnädige
Frau".
„Hermann!" — sie brach in Tränen aus —
„wollen Sie mich auch allein lassen? Was soll ich
denn anfangen ohne Sie?" Dieselben Worte, die
sie schon einmal zu ihm gesprochen. „Haben Sie
doch noch Geduld mit Julia, sie wird ja wieder
zurückfinden! Ich will ihr noch einmal ins Ge-
wissen reden heute abend."
Altdorf schüttelte trübe den Kopf. „Ich kann
nicht mehr!"
Und er ging mit einem letzten Händedruck.
Zu Hause, in seinem stillen Arbeitszimmer, sah er
Julias Bild auf seinem Schreibtisch lange, lange an.
Ob du auch noch so schön bist, mich noch so
betörend anblickst mit deinen wundervollen Augen
— es muß sein!
Er zog den Verlobungsring vom Finger — den
Rottenburgschen Ring mit der Inschrift „In Treue
fest" trug er schon lange nicht mehr — und legte
ihn in das verschwiegene Fach zu den Briefen, die
Julia ihm geschrieben, und zu den Rosen, die sie
ihm vor nun fast anderthalb Jahren auf dem Lie-
bensteiner Bahnhof in das Fenster des zur Abfahrt
bereitstehenden Zuges hineingereicht hatte. Damals
schon hatte er gedacht, es wäre der Abschied für
immer, den er da von ihr nahm. Es wäre besser
für ihn gewesen, hätte er recht gehabt. Dieser Ab-
schied nun war tausendmal schwerer!
Mit einem Ruck schob er den Kasten zu. Julias
Briefe und ihr Bild konnte er ihr wohl ein ander-
mal zurücksenden, wenn er ruhiger war.
Er nahm Papier und Feder und schrieb:
„Liebe Julia! Ehe wir uns offiziell verlobten,
hatte ich Dir geschrieben, ich würde Dich ohne Be-
sinnen freigeben, wenn Du eines Tages zu der
Überzeugung kämest, daß Du das Vergangene nicht
vergessen, daß Du nicht hoffen könntest, an meiner
Seite ein volles Glück zu finden. Nun — das Ver-
gangene ist wieder Gegenwart geworden bei Dir
und-—Zukunft. Möge es eine gute Zukunft wer-
den.
Zwar nicht .ohne Besinnen', sondern nach langen!

Zögern ünd hartem Kampf gebe ich Dir hiermit
Deine Freiheit zurück.
Hermann Altdorf."
Diesen Brief sandte er durch Johann nach Wie-
landstraße 3, der Wohnung Frau v. Borgstedts.

Mit zitternden Händen riß Julia den Umschlag
ans, überflog die wenigen knappen Zeilen.
Frau v. Borgstedt und Vilma v. Schlieben saßen
an Winfrieds Bett. Drei Augenpaare richteten sich
forschend auf das totenblasse Mädchengesicht.
Einen Moment war es Julia, als müßte sie
umsinken. So schwer hatte Altdorfs Brief sie ge-
troffen. Dann aber kam es über sie wie eine ge-
heimnisvolle, wunderbare Kraft. Alles, was fie in
Fesseln und Bann gehalten in diesen letzten Wochen,
Schuldbewußtsein, Angst und Zweifel — siel wie
ein Nebel von ihr ab. Und groß, allmächtig war
in ihr nur noch das eine Empfinden, das eine Ver-
langen: den nicht zu verlieren, den nicht länger
leiden zu lassen, den sie liebte!
/.Gnädige Frau" — sie wandte sich an Frau
v. Borgstedt — „bitte, veranlassen Sie Ihren Herrn
Sohn, mir meinen Ring zurückzugeben. Dort in
der Kassette liegt er. Den Schlüssel hält Ihr Herr
Sohn unter seinem Kopfkissen verborgen.
„Julia!" rief es vom Bett her in heiserem Auf-
schrei.
„Bitte, gnädige Frau," wiederholte die zum
Äußersten Entschlossene, „sorgen Sie, daß ich meinen
Ring zurückerhalte. Ich will, ich muß ihn haben."
Und während Frau v. Borgstedt, eingeschüchtert
durch diesen unerwarteten Ausbruch zorniger Energie,
die Kassette öffnete es war ihr gelungen, den
Schlüssel aus seinem Versteck hervorzuziehen, ehe
der in seinen Bewegungen immer noch stark be-
hinderte Kranke ihn hätte an sich bringen können —,
fuhr Julia in entschiedenem Tone fort: „Ich habe
getan, was ich konnte. Wenn ich etwas an Ihrem
Herrn Sohn gefehlt habe dadurch, daß ich mich ihm
in einer schwachen Stunde versprach, ich habe es
gut gemacht, wenigstens gut zu machen versucht.
Weiter reicht meine Kraft nicht aus. Mein Glück
und das meines Bräutigams kann ich ihm nicht
zum Opfer bringen. Einmal muß Klarheit sein,
einmal muß ich es sagen: es war Täuschung, daß
ich glaubte, Ihren Sohn zu lieben. Wahn war es."
Sic steckte den Ring, den ihr Frau v. Borgstedt
schweigend hingereicht, an den Finger und ging
festen Schrittes hinaus.
„Julia," ries der Kranke noch einmal und ver-
suchte sich aufzurichten.
Vilma v. Schlieben hielt mit ihren kleinen ener-
gischen Händen seinen ?brm. „Seien Sie ruhig!
Sie werden darüber Hinwegkommen. Wenn Julia
Sie doch nun einmal nicht lieb hat —"
Dann trat auch Frau v. Borgstedt heran, strich
ihm über Haar und Wangen und sprach ihm mit
zärtlichen Worten begütigend zu.
Er stöhnte vor Zorn, aber daran, seinen Verband
abzureißen, dachte er nicht mehr. Es hätte ihm auch
wenig geholfen, denn die Kanülen waren schon vor
Tagen aus der fast verheilten Wunde entfernt wor-
den, und unter der Pflege, der immer regen Sorg-
falt einer liebenden Mutter lernt man das Leben
wieder liebgewinnen, wenn man auch einmal im
halben Wahnsinn versucht hat, es fortzuwerfen.

Julia war auf die Straße gelangt, sie wußte
nicht, wie. Sie hatte erst daran gedacht, nach Hause
zu fahren, ihre Mutter zu Altdorf zu fckncken. Aber
nein! Keinen unnötigen Aufschub! Selbst mußte
sie zu ihm, selbst! Das war ihre Pflicht, das war
sie ihm schuldig, nach allem, was er um sie gelitten
hatte.
Sie hielt eine vorüberfahrende Droschke an.
„Lazaruskrankenhaus!" rief sie und stieg ein. Der
Wagen rumpelte weiter.
Wie langsam das ging! Wie spät war es denn
eigentlich? Sie zog die Uhr. Halb fünf. Da würde
sie gerade ankommen, während er Sprechstunde
hatte. Aber das war ja gleich. —
„Ah, gnädiges Fräulein," fuhr es Johann im
Ton lebhaften Erstaunens heraus, als er ans ihr
Klingeln die Tür öffnete und sie vor sich stehen
sah. Darauf war er nicht gefaßt gewesen. Mein
Gott, ein alter Diener merkt doch, was mit seinem
Herrn vorgeht. Nun konnte er wirklich, trotz aller
gediegenen Selbstzucht, nicht die übliche gleichgültige
Miene zeigen.
„Wollen Sie, bitte, fragen, ob ich den Herrn
Professor nicht sogleich sprechen kann!"
„Aber selbstverständlich — selbstverständlich!" Er
eilte davon, machte aber auf halbem Wege halt.
„Verzeihung, gnädiges Fräulein, so lange werden
wir aber doch wohl warten müssen, bis der Patient,
der gerade drinnen ist beim Herrn Professor, wieder
herauskommt."

„Das werden wir freilich wohl müssen."
Wie froh und leicht ihr ums Herz war, wie selig!
Sie hätte lachen mögen vor Glück — oder weinen.
Das eine war ihr so nahe wie das andere.
Eben ging die Tür, die vom Korridor zum Ordi-
nationszimmer führte.
Johann schlüpfte hinein.
Gleich darauf schritt Julia durch das Warte-
zimmer und dachte beim Anblick der vielen Kranken,
die da noch des ärztlichen Rates harrten: „Du hättest
dich doch lieber noch gedulden sollen!"
Im nächsten Augenblick fiel die Portiere hinter
ihr herab, und sie stand Altdorf gegenüber.
Ansehen konnte sie ihn nicht, wenigstens nicht
gleich. Sie fühlte sich nun doch beklommen. Würde
er ihr vergeben?
Gesenkten Hauptes trat sie dicht an ihn heran,
nahm seine Hand und küßte sie. „Ich danke dir,"
hauchte sie, „danke dir, daß du mir geschrieben hast.
Das bat mich zur Besinnung gebracht, hat mich
erlöst." Dann sah sie ihn an, mit einem vollen,
innigen Blick ihrer strahlenden blauen Augen. „Ver-
gib mir, daß ich dir so viel Kummer gemacht habe.
Aber das alles brach herein über mich wie eine
Sturmflut, riß mich um! — Willst du gut sein,
mir vergeben?"
Nun begriff er erst, sah auch endlich, daß sie
wieder seinen Ring trug. Und plötzlich — er wußte
nicht, wie ihm geschah — schlang sie ihre Arme
um seinen Hals.
„Siehst du's denn nicht? Muß ich dir's wirklich
erst sagen, daß ich nur dich lieb habe, nur dich —
keinen anderen?"
Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und
küßte ihn, küßte ihn mit einem langen, langen Kuß
hingebender Liebe und Zärtlichkeit.
Da riß er sie an sich, preßte sie an seine Brust
und hielt sie sekundenlang schweigend umfangen,
streichelte nur immer ihr blondes Haar und küßte
sie wieder und wieder.
Er hätte sie fragen mögen nach hundert Dingen.
Aber er brachte kein Wort hervor. Er wußte ja
am besten, ein wie feines, ein wie leicht zu ver-
stimmendes Instrument die Menschenseele ist. Und
wenn nun gar eine rauhe, rücksichtslose Hand in
die Saiten griff, konnte es anders sein, als daß
sie in schrillen Dissonanzen erklangen?
Endlich fielen ihm seine Patienten draußen im
Wartezimmer wieder ein.
Ob er sie wegschickte? Ihnen sagte, daß er die
Sprechstunde nicht fortsetzen könnte, ihnen anheim-
gab, am nächsten Tage wiederzukommen?
Nein! Nicht im Überschwang des eigenen Glückes
das Leid der anderen vergessen! Nicht den Egois-
mus das Übergewicht erlangen lassen — nicht auf
einen Tag, nicht aus eine Stunde!
„Geh, Liebste, geh jetzt zu deiner Mutter. In
einer Stunde bin ich wieder bei dir!"

Bier Wochen später — die Bäume standen ent-
laubt und der Oktobersturm brauste über die kahlen
Felder — machte Winfried v Borgstedt seine Ver-
lobung mit Vilma v. Schlieben bekannt.
Seit dem Tage, an dem Julia ihn verlassen,
war die „kleine Zigeunerin" nicht von seiner Seite
gewichen, hatte ihn gepflegt mit aufopfernder Liebe,
hatte seine Launen geduldig ertragen, ihm Trost
zugesprochen, ihm begütigend die Hand und die
Stirn gestreichelt, wenn die alte Sehnsucht nach der
verlorenen Geliebten wieder über ihn gekommen
war. Und wie sie seinen wunden Körper gesund
pflegte, so pflegte sie auch seine wunde, zerrissene
Seele heil. Stundenlang spielte fie ihm auf ihrer
Geige vor, was er nur hören wollte, bis er sich so
an ihre Güte und an ihr Spiel gewöhnt hatte, daß
er sie nicht mehr entbehren zu können meinte. An
ihrem starken, zähen Willen richtete er den eigenen
Willen auf zu neuer Kraft und neuem Lebensmut.
Zwei oder drei Tage nach dem Bekanntgeben
ihrer Verlobung traf Vilma auf der Straße mit
Frau v. Rottenburg zusammen.
„Liebes Kind," begann die alte Dame und um-
schloß die Hand der jungen Braut mit zärtlichem
Druck, „ich wünsche Ihnen Glück, so viel Glück!
Aber — ich frage gewiß nicht aus Neugierde da-
nach — wie denken Sie sich nun eigentlich Ihre
Zukunft?"
Vilma zuckte lächelnd die Achseln. „Wenn das
kriegsgerichtliche Verfahren gegen meinen Bräuti-
gam erledigt ist — die Vorladung zur Hauptver-
handlung hat er gestern erhalten, und den Kopf
wird die Sache ihn ja nicht kosten, denn es ist da
vieles übertrieben und aufgebauscht worden —,
dann werden wir heiraten. Und dann — ja —
wahrscheinlich gehen wir dann nach Afrika, um eine
Farm zu kaufen, oder uns an einem großen Pflan-
zungsuntcrnehmen, das einem Freunde meines
Bräutigams gehört, zu beteiligen."
 
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