M 7
Und traurig! So schmerzlich traurig! Und
dann war es Rainer immer, als tauche Walter
v. Sternbergs Gestalt zwischen ihnen auf und
trenne sie für immer. Wie er ihn haßte! Und wie
er mit Sylvia Mitleid hatte! Das arme Kind
konnte ja nichts dafür, daß sie ihr Herz zu spät ent-
deckt hatte. Sie litt und grämte sich heimlich —
genau wie er selber.
Täglich sagte er sich vor, daß es eigentlich seine
Pflicht wäre, sie freizugeben, jetzt, wo er wußte,
daß sie einen anderen liebte. Aber da war immer
eine Stimme in seinem Innern, die ihm zuflüsterte:
Liebt sie Walter denn wirklich so sehr? Kann sie
ihn nicht vielleicht vergessen mit der Zeit? Du
selbst kannst ja auch Laja vergessen!
Sylvia ahnte nichts von dem, was in Rainer
vorging. Sie sah nur sein verstörtes Wesen, seine
blaß und schmal gewordenen Wangen, sein grüb-
lerisches Schweigen, und dachte niit wachsender
Bitterkeit: „Zwischen ihm und der Fürstin hat es
Streit gegeben, und er leidet darunter. Wahr-
scheinlich geht er auch deshalb nicht mehr nach
Bärenegg hinüber."
Aber sie hatte kein Mitleid mit ihm. Anfangs,
nach jener Auseinandersetzung in Terontola, hatte
sie manchmal im stillen gedacht: „Vielleicht war ich
zu schroff gegen ihn? Vielleicht wäre es meine
Pflicht gewesen, ihn mit liebevoller Schonung wie
einen Kranken zu behandeln, ihn auf den rechten
Weg zurückzuführen — er wollte doch gut machen,
und es war ihm vielleicht ernst mit dem Vorsatz,
jene Liebe zu Laja zu unterdrücken?" Aber dann
dachte sie nur an die vielen Briefe, welche er in
Italien schrieb und bekam, und sie konnte sich nicht
mehr abringen als äußerliche Ruhe, seit sie Rainer
und Laja in jener Frühlingsnacht flüsternd am
Balkon beobachtet hatte. Nichts erfüllte sie als
Verachtung für die beiden, welche so unbekümmert
fortfuhren in ihrem schmählichen Betrug.
Sie begriff nicht, warum Rainer selbst nicht die
Scheidung verlangte. Wie Erlösung wäre es für
sie alle gewesen! Wenn sie nur erst Antwort von
Mahrenberg hätte! —
Es war Samstag abend, und Sylvia pflegte an
diesem Tage stets in der Milchkammer, welche über
dem Wirtschaftshof lag, eine gründliche Inspizierung
vorzunehmen. Es wurde dabei mit der Schaffnerin
Abrechnung gehalten und mancherlei für die nächste
Woche besprochen. Gewöhnlich begleitete Fräulein
Peters die Gräfin dabei. Diesmal aber war sie
stark erkältet, und da es immer noch regnete, dazu
ein arger Wind über die Felder blies, ließ Sylvia
sie nicht aus dem Haus uud ging allein.
Die Unterredung mit der Schaffnerin dauerte
etwas länger als gewöhnlich, und es wurde schon
dunkel, als Sylvia die Milchkammer verließ. Als
sie über den Hof schritt, hörte sie Stimmen am
Pferdestall und sah, wie man eben einen Wagen in
die Remise schob. Sie wunderte sich, wer aus-
gefahren sein konnte, da Rainer doch zu Hause war,
achtete dann aber nicht weiter darauf.
Sie begab sich hinüber in das Speisezimmer,
wo schon zu Abend gedeckt war. Bei ihrem Eintritt
erhob sich aus dem Schaukelstuhl am Kamin eine
Männergestalt.
„Gundaker!" rief Sylvia überrascht. „Wie
kommst du denn hierher, und warum hat mich nie-
mand benachrichtigt?"
Der Fürst erhob sich verlegen. „Verzeihe —
ich hörte, daß du beschäftigt warst, und wollte nicht,
daß man dich störe."
„Aber Rainer ist doch zu Hause! Warum hast
du nicht ihn —"
„Ich wollte nur zu dir. Bist du böse? Ich hatte
solche Sehnsucht — weiß selbst nicht wonach! Nur
nach Ruhe vermutlich. Erlaubst du, daß ich ein
Stündchen hier sitzen bleibe bei dir, Sylvia? Ich
werde dich gar nicht stören — du brauchst auch gar
nicht zu reden, wenn du nicht magst."
Sylvia merkte sogleich, daß etwas nicht in Ord-
nung war, tat aber keine Frage, sondern rückte sich
auch einen Stuhl an den Kamin und sagte herzlich:
„Warum sollte ich denn böse sein? Es freut mich,
wenn du gern ein Stündchen hier verplaudern
magst. Bist du allein gekommen?"
Der Fürst tat einen tiefen Atemzug. „Ja —
Gott sei Dank!"
Eine kleine Pause trat ein. Draußen war das
Rauschen des Regens verstummt, und nur der Wind
fuhr pfeifend und heulend, sich zu weiten bis zum
Sturm steigernd, um das Haus.
Plötzlich sagte Lambach, ohne Sylvia anzusehen:
„Kannst du dir denken, daß jemand plötzlich, ohne
sichtbaren Anlaß, wahnsinnig wird?"
Sylvia erschrak.
„Wahnsinnig?" murmelte sie entsetzt. „Wer
sollte — was meinst du eigentlich?"
s „Ich glaube manchmal, sie ist es! Oder ich?"
_ _: Das Luch fül-Mle n
Und dann brach er zornig los: „Weißt du, wo sie ist?
Zu Pferd irgendwo draußen in der Finsternis!
Kann ein Mensch mit gesundem Verstand so etwas
tun? Und warum? Ich sage dir, Sylvia, sie weiß
es selber nicht! Wie eine Furie gebärdet sie sich,
wenn man sie fragt, wenn man nur ein Wort zu
ihr spricht. Jetzt in Bärenegg sein, heißt die Hölle
kennen lernen, und dieses Weib ist der reine Teufel!"
„Aber warum denn nur?" brachte Sylvia müh-
sam heraus.
Lambach zuckte die Achseln. „Weiß ich's! Weiß
ich denn, was in dieser Frau vorgeht? Hab' ich's
je gewußt? Keine Ahnung hab' ich! Will's auch
nicht. Brauch' es nicht. Sie soll tun, was sie will,
aber mein Heim soll sie mir nicht so verekeln. Wozu
hab' ich denn geheiratet?" Er lachte laut auf.
„Ja, warum denn? War ich etwa je verliebt in
sie? Gottbewahre! Sie haben mir eben zugeredet,
und viel Zeit hatte ich nicht, lange herum zu suchen.
Sie war eben die Nächste — und wollte Fürstin
werden. Weißt du, was sie mir heute zurief, als
ich sagte, es wäre Verrücktheit, bei diesem Hunde-
wetter stundenlang herumzureiten, wie sie jetzt alle
Tage tut, anstatt mir wenigstens Abends Gesell-
schaft zu leisten?" — ,Geh doch — geh wieder fort!'
schrie sie mir zu, .merkst du denn nicht, daß du mir
unsäglich zuwider bist? Ich will allein sein. Ich
brauche dich nicht — niemand brauche ich!' Vor
der Loders rief sie mir das ins Gesicht und ritt dann
fort trotz Regen und Nebel. Erst stand ich wie vor
den Kopf geschlagen. Und dann hielt ich's nicht
mehr aus allein drüben — es war mir plötzlich so
sonderbar. Zorn, Scham — ich weiß es nicht!
Aber fort mußte ich. Da kam ich zu dir —"
Sylvia saß regungslos da und fand kein Wort.
So also stand es da drüben! Aber warum denn?
Sie, Laja, besaß doch alles, was sie wünschte, alles
ging ihr nach Willen, Rainer liebte sie, war Wachs
in ihren Händen — was wollte sie denn noch?
Plötzlich, ganz unvermittelt, fielen ihr Worte
ein, die sie einmal aus dem Munde der Fürstin
gehört hatte: „Ich kann dich nicht sehen an ihrer
Seite!" War es das? Litt sie deshalb? Dauerte
es ihr zu lange, bis Rainer das entscheidende Wort
sprach, das ihnen allen Befreiung bringen sollte?
O, sie mochte nur ruhig sein! Wenn Rainer sich
nicht entschließen konnte, sie wollte den beiden schon
zuvorkommen!
Lambach zupfte nervös an seinem schwarzen Bart
herum. „Man wird ganz irre an sich selbst," sprach
er vor sich hin, sichtlich in dem Bedürfnis, Klarheit in
die eigene Gedankenwirrnis zu bringen. „Manchmal
denk' ich: geh doch einfach auf und davon! Scher
dich den Kuckuck um das überspannte Frauenzimmer!
Hast dein Lebtag nach keinem Menschen außer dir
selber gefragt — tu's auch jetzt nicht! Aber dann
kommen mir wieder so wunderliche Gedanken da-
zwischen." Er blickte Sylvia unsicher an. „Du bist
so klar und einheitlich — drum treibt's mich auch zu
dir. Siehst du, wenn ich eine Frau gefunden hätte
wie dich, dann könnte alles so schön sein!"
Ein bitteres Lächeln kräuselte Sylvias Lippen.
„Glaube das nicht! Ich bin weder klar noch ein-
heitlich, und Glück zu schaffen versteh' ich erst recht
nicht!"
„Doch. Du hast deinen Mann lieb. Du bist
gut. Du schaffst ihm ein'Heim. Das ist so viel
das ist alles im Leben! Eine Frau, die ihren Mann
wahrhaft liebt, hat Geduld mit ihm und Nachsicht,
sucht ihn zu verstehen, und damit schafft sie ihm den
Himmel auf Erden. Mein Vater war auch so ein
ungeschickter Mensch wie ich, aber die Mutter!
Herrgott, wenn ich an die denke! Wie hat sie ihn
zu nehmen verstanden! Wie war sie ihm allzeit
Segen und Stütze! ,Je weniger Halt er in sich hat,
desto mehr braucht er von außen,' hörte ich sie
einmal sagen. Später, als ich erwachsen war, sprach
sie manchmal mit mir über die Ehe, und da war
immer das eine: ,Die Liebe höret nimmer auf!'
sagte sie, ,die darf nimmer aufhören, die ist die
Hauptsache.' Dabei wußte mein Vater diese Frau
nicht einmal recht zu schätzen, solange er jung war.
Später erst, als er alt und grau war, hat er's be-
griffen. Dann freilich ganz! Auf Händen hat er
sie getragen zuletzt — na, siehst du, Sylvia, daran
muß ich manchmal denken jetzt. Du bist auch von
dem Schlag. Gut, edel, geduldig und — voll Liebe.
Laja aber hat kein Herz. Die bleibt mir alles schuldig,
was ich erwartete, die taugt überhaupt nicht zur
Ehe!"
Er schwieg und blickte sorgenvoll zu Boden.
Sylvias Gesicht hatte sich langsam mit dunkler
Röte überzogen. Durfte sie Lambachs Lob über
sich ruhig anhören? Sie war ja gar nicht gut und
geduldig! Sie wollte ja fort von ihrem Manne,
wollte den Kampf aufgeben, setzte den Stolz über
die Liebe.
Hieß das wirklich gut sein? Wirklich lieben?
— - 140
Wahre Liebe mußte selbstlos sein. Dunkel hatte
sie das immer gefühlt, und jetzt erkannte sie es
plötzlich völlig klar: Liebe mußte alles ertragen
können, mußte aushalten um jeden Preis. Eine
tiefe Scham überkam sie darüber, daß sie selbst ihre
Pflichten so schlecht erfaßt hatte. Sie durfte das
Wort nicht zuerst aussprechen, das sie trennte, denn
sie liebte ihn ja.
Lambach fing wieder von Laja zu reden an und
sprach sich allmählich in zornige Empörung hinein.
Schweigend hörte Sylvia zu. Ach, wenn er
wüßte, warum seine Frau so war! Daß ihrer aller
Unglück nur entsprang aus der falschen Stellung,
die sie zueinander einnahmen. Laja litt ja auch. —
Und Rainer! Es war der Fluch zweier Ehen, die
ohne Liebe geschlossen worden waren.
„Nun?" fragte Lambach. „Warum sagst du
denn nichts, Sylvia? Ist es nicht empörend, wie
mich diese Frau behandelt?"
„Traurig ist es!" antwortete Sylvia. „Aber
vielleicht wird bald alles besser werden, habe nur
Geduld."
Lambach lachte gereizt auf. „Ja, es wird besser
werden, weil ich einfach davongehen werde. In
acht Tagen reise ich nach dem Kaukasus, dann weiter
nach Asien hinüber — Punktum. Weißt du, wer
der weiseste Mann ist, den ich kenne? Peneda!
Als Ferry Lanzendorf sich verlobte, sagte er ihm in
meiner Gegenwart: -Eine Kugel vor den Kopf wäre
besser als eine Frau ins Haus. Wer kein Narr ist,
sollte nie heiraten.' Damals lachten wir. Heute
sag' ich: recht hat er! Tausendmal recht! Wenig-
stens nicht ohne Liebe!"
Sylvia nickte. „Ja — er hat recht. Man sollte
nie ohne Liebe heiraten!" sagte sie mechanisch. Als
sie gleich darauf zufällig den Blick hob, sah sie Rainer
im Rahmen der Tür stehen. Sein Gesicht war
seltsam fahl, und sein Auge ruhte unverwandt auf
Sylvia.
Stand er schon lange dort? Sie hatten ihn
beide nicht kommen gehört.
Unsicher erhob sie sich.
„Rainer ist hier," murmelte sie, „wir wollen zu
Tisch gehen."
Lambach und Rainer begrüßten einander zurück-
haltender als sonst; aber als aufgetragen wurde,
fand der Fürst einen Teil seiner guten Laune wieder
und wurde recht gesprächig.
Er machte Rainer Borwürfe, daß er so lange
nicht in Bärenegg gewesen war, schilderte ihm Lajas
Nervosität und knüpfte natürlich bittere Bemerkungen
daran.
Rainer hörte schweigend zu. „Ich hatte zu tun
— ich schreibe an meinem Reisewerk," sagte er
endlich kurz.
Nach Tisch schlug er Lambach eine Schachpartie
vor und bald saßen sie einander, scheinbar ganz in
das Spiel vertieft, gegenüber.
Sylvia schützte Kopfschmerz vor und empfahl
sich. Sie hatte Sehnsucht nach Luft und Bewegung
und schlich hinab in den Park. Sie wollte ganz
allein mit sich sein, um ruhig und klar nachzudenken
über vieles, das ihr jetzt deutlich zum Bewußt-
sein kam.
Der Wind, welcher ungestüm um ihre Schläfen
brauste, tat ihr wohl.
Als Rainer eine Stunde später Lambach an
seinen Wagen begleitet hatte und ebenfalls einen
kurzen Rundgang durch den Park machte, blieb er
plötzlich nahe dem kleinen offenen Gartenhaus unter
den Platanen bestürzt stehen.
Irgend jemand weinte da drinnen leise und so
bitterlich, daß es ihm ins Herz schnitt. Der Sturm
hatte die Nebel vertrieben und den Himmel ziemlich
klar gefegt. Zahllose Sterne blitzten herab, ab und
zu wurde zwischen den schmalen, hastig hintreibenden
Wolkenstreifen auch der Mond sichtbar.
In einem solchen Moment, wo das an drei
Seiten offene Gartenhäuschen hell beleuchtet dalag,
erkannte Rainer zu seinem Schrecken in der Weinen-
den Sylvia. Das Herz fing an ihm wild und stür-
misch zu klopfen. Sein erster Impuls war, zu ihr
zu eilen und sie zu fragen, warum sie so bitterlich
weine, sie zu trösten. Aber er wagte es nicht.
Wußte er nicht auch ohne Frage, wem diese
Tränen galten? Hatte er nicht eine Stunde zuvor
mit eigenen Ohren gehört, wie sie Lambach recht
gab, als er sagte, eine Kugel vor den Kopf wäre
besser als zu heiraten?
Daß Sylvia so tief unglücklich war an seiner
Seite, hatte er freilich nicht gewußt. Sie mußte
Walter unendlich lieben, da Qual und Sehnsucht
sie hierher in die Einsamkeit trieben, um sich aus-
zuweinen.
Rainer empfand bei dieser Erkenntnis einen so
wahnsinnigen Schmerz, daß die Rinde des Baumes,
an dem er stand, unter seinen sie krampfhaft um-
Und traurig! So schmerzlich traurig! Und
dann war es Rainer immer, als tauche Walter
v. Sternbergs Gestalt zwischen ihnen auf und
trenne sie für immer. Wie er ihn haßte! Und wie
er mit Sylvia Mitleid hatte! Das arme Kind
konnte ja nichts dafür, daß sie ihr Herz zu spät ent-
deckt hatte. Sie litt und grämte sich heimlich —
genau wie er selber.
Täglich sagte er sich vor, daß es eigentlich seine
Pflicht wäre, sie freizugeben, jetzt, wo er wußte,
daß sie einen anderen liebte. Aber da war immer
eine Stimme in seinem Innern, die ihm zuflüsterte:
Liebt sie Walter denn wirklich so sehr? Kann sie
ihn nicht vielleicht vergessen mit der Zeit? Du
selbst kannst ja auch Laja vergessen!
Sylvia ahnte nichts von dem, was in Rainer
vorging. Sie sah nur sein verstörtes Wesen, seine
blaß und schmal gewordenen Wangen, sein grüb-
lerisches Schweigen, und dachte niit wachsender
Bitterkeit: „Zwischen ihm und der Fürstin hat es
Streit gegeben, und er leidet darunter. Wahr-
scheinlich geht er auch deshalb nicht mehr nach
Bärenegg hinüber."
Aber sie hatte kein Mitleid mit ihm. Anfangs,
nach jener Auseinandersetzung in Terontola, hatte
sie manchmal im stillen gedacht: „Vielleicht war ich
zu schroff gegen ihn? Vielleicht wäre es meine
Pflicht gewesen, ihn mit liebevoller Schonung wie
einen Kranken zu behandeln, ihn auf den rechten
Weg zurückzuführen — er wollte doch gut machen,
und es war ihm vielleicht ernst mit dem Vorsatz,
jene Liebe zu Laja zu unterdrücken?" Aber dann
dachte sie nur an die vielen Briefe, welche er in
Italien schrieb und bekam, und sie konnte sich nicht
mehr abringen als äußerliche Ruhe, seit sie Rainer
und Laja in jener Frühlingsnacht flüsternd am
Balkon beobachtet hatte. Nichts erfüllte sie als
Verachtung für die beiden, welche so unbekümmert
fortfuhren in ihrem schmählichen Betrug.
Sie begriff nicht, warum Rainer selbst nicht die
Scheidung verlangte. Wie Erlösung wäre es für
sie alle gewesen! Wenn sie nur erst Antwort von
Mahrenberg hätte! —
Es war Samstag abend, und Sylvia pflegte an
diesem Tage stets in der Milchkammer, welche über
dem Wirtschaftshof lag, eine gründliche Inspizierung
vorzunehmen. Es wurde dabei mit der Schaffnerin
Abrechnung gehalten und mancherlei für die nächste
Woche besprochen. Gewöhnlich begleitete Fräulein
Peters die Gräfin dabei. Diesmal aber war sie
stark erkältet, und da es immer noch regnete, dazu
ein arger Wind über die Felder blies, ließ Sylvia
sie nicht aus dem Haus uud ging allein.
Die Unterredung mit der Schaffnerin dauerte
etwas länger als gewöhnlich, und es wurde schon
dunkel, als Sylvia die Milchkammer verließ. Als
sie über den Hof schritt, hörte sie Stimmen am
Pferdestall und sah, wie man eben einen Wagen in
die Remise schob. Sie wunderte sich, wer aus-
gefahren sein konnte, da Rainer doch zu Hause war,
achtete dann aber nicht weiter darauf.
Sie begab sich hinüber in das Speisezimmer,
wo schon zu Abend gedeckt war. Bei ihrem Eintritt
erhob sich aus dem Schaukelstuhl am Kamin eine
Männergestalt.
„Gundaker!" rief Sylvia überrascht. „Wie
kommst du denn hierher, und warum hat mich nie-
mand benachrichtigt?"
Der Fürst erhob sich verlegen. „Verzeihe —
ich hörte, daß du beschäftigt warst, und wollte nicht,
daß man dich störe."
„Aber Rainer ist doch zu Hause! Warum hast
du nicht ihn —"
„Ich wollte nur zu dir. Bist du böse? Ich hatte
solche Sehnsucht — weiß selbst nicht wonach! Nur
nach Ruhe vermutlich. Erlaubst du, daß ich ein
Stündchen hier sitzen bleibe bei dir, Sylvia? Ich
werde dich gar nicht stören — du brauchst auch gar
nicht zu reden, wenn du nicht magst."
Sylvia merkte sogleich, daß etwas nicht in Ord-
nung war, tat aber keine Frage, sondern rückte sich
auch einen Stuhl an den Kamin und sagte herzlich:
„Warum sollte ich denn böse sein? Es freut mich,
wenn du gern ein Stündchen hier verplaudern
magst. Bist du allein gekommen?"
Der Fürst tat einen tiefen Atemzug. „Ja —
Gott sei Dank!"
Eine kleine Pause trat ein. Draußen war das
Rauschen des Regens verstummt, und nur der Wind
fuhr pfeifend und heulend, sich zu weiten bis zum
Sturm steigernd, um das Haus.
Plötzlich sagte Lambach, ohne Sylvia anzusehen:
„Kannst du dir denken, daß jemand plötzlich, ohne
sichtbaren Anlaß, wahnsinnig wird?"
Sylvia erschrak.
„Wahnsinnig?" murmelte sie entsetzt. „Wer
sollte — was meinst du eigentlich?"
s „Ich glaube manchmal, sie ist es! Oder ich?"
_ _: Das Luch fül-Mle n
Und dann brach er zornig los: „Weißt du, wo sie ist?
Zu Pferd irgendwo draußen in der Finsternis!
Kann ein Mensch mit gesundem Verstand so etwas
tun? Und warum? Ich sage dir, Sylvia, sie weiß
es selber nicht! Wie eine Furie gebärdet sie sich,
wenn man sie fragt, wenn man nur ein Wort zu
ihr spricht. Jetzt in Bärenegg sein, heißt die Hölle
kennen lernen, und dieses Weib ist der reine Teufel!"
„Aber warum denn nur?" brachte Sylvia müh-
sam heraus.
Lambach zuckte die Achseln. „Weiß ich's! Weiß
ich denn, was in dieser Frau vorgeht? Hab' ich's
je gewußt? Keine Ahnung hab' ich! Will's auch
nicht. Brauch' es nicht. Sie soll tun, was sie will,
aber mein Heim soll sie mir nicht so verekeln. Wozu
hab' ich denn geheiratet?" Er lachte laut auf.
„Ja, warum denn? War ich etwa je verliebt in
sie? Gottbewahre! Sie haben mir eben zugeredet,
und viel Zeit hatte ich nicht, lange herum zu suchen.
Sie war eben die Nächste — und wollte Fürstin
werden. Weißt du, was sie mir heute zurief, als
ich sagte, es wäre Verrücktheit, bei diesem Hunde-
wetter stundenlang herumzureiten, wie sie jetzt alle
Tage tut, anstatt mir wenigstens Abends Gesell-
schaft zu leisten?" — ,Geh doch — geh wieder fort!'
schrie sie mir zu, .merkst du denn nicht, daß du mir
unsäglich zuwider bist? Ich will allein sein. Ich
brauche dich nicht — niemand brauche ich!' Vor
der Loders rief sie mir das ins Gesicht und ritt dann
fort trotz Regen und Nebel. Erst stand ich wie vor
den Kopf geschlagen. Und dann hielt ich's nicht
mehr aus allein drüben — es war mir plötzlich so
sonderbar. Zorn, Scham — ich weiß es nicht!
Aber fort mußte ich. Da kam ich zu dir —"
Sylvia saß regungslos da und fand kein Wort.
So also stand es da drüben! Aber warum denn?
Sie, Laja, besaß doch alles, was sie wünschte, alles
ging ihr nach Willen, Rainer liebte sie, war Wachs
in ihren Händen — was wollte sie denn noch?
Plötzlich, ganz unvermittelt, fielen ihr Worte
ein, die sie einmal aus dem Munde der Fürstin
gehört hatte: „Ich kann dich nicht sehen an ihrer
Seite!" War es das? Litt sie deshalb? Dauerte
es ihr zu lange, bis Rainer das entscheidende Wort
sprach, das ihnen allen Befreiung bringen sollte?
O, sie mochte nur ruhig sein! Wenn Rainer sich
nicht entschließen konnte, sie wollte den beiden schon
zuvorkommen!
Lambach zupfte nervös an seinem schwarzen Bart
herum. „Man wird ganz irre an sich selbst," sprach
er vor sich hin, sichtlich in dem Bedürfnis, Klarheit in
die eigene Gedankenwirrnis zu bringen. „Manchmal
denk' ich: geh doch einfach auf und davon! Scher
dich den Kuckuck um das überspannte Frauenzimmer!
Hast dein Lebtag nach keinem Menschen außer dir
selber gefragt — tu's auch jetzt nicht! Aber dann
kommen mir wieder so wunderliche Gedanken da-
zwischen." Er blickte Sylvia unsicher an. „Du bist
so klar und einheitlich — drum treibt's mich auch zu
dir. Siehst du, wenn ich eine Frau gefunden hätte
wie dich, dann könnte alles so schön sein!"
Ein bitteres Lächeln kräuselte Sylvias Lippen.
„Glaube das nicht! Ich bin weder klar noch ein-
heitlich, und Glück zu schaffen versteh' ich erst recht
nicht!"
„Doch. Du hast deinen Mann lieb. Du bist
gut. Du schaffst ihm ein'Heim. Das ist so viel
das ist alles im Leben! Eine Frau, die ihren Mann
wahrhaft liebt, hat Geduld mit ihm und Nachsicht,
sucht ihn zu verstehen, und damit schafft sie ihm den
Himmel auf Erden. Mein Vater war auch so ein
ungeschickter Mensch wie ich, aber die Mutter!
Herrgott, wenn ich an die denke! Wie hat sie ihn
zu nehmen verstanden! Wie war sie ihm allzeit
Segen und Stütze! ,Je weniger Halt er in sich hat,
desto mehr braucht er von außen,' hörte ich sie
einmal sagen. Später, als ich erwachsen war, sprach
sie manchmal mit mir über die Ehe, und da war
immer das eine: ,Die Liebe höret nimmer auf!'
sagte sie, ,die darf nimmer aufhören, die ist die
Hauptsache.' Dabei wußte mein Vater diese Frau
nicht einmal recht zu schätzen, solange er jung war.
Später erst, als er alt und grau war, hat er's be-
griffen. Dann freilich ganz! Auf Händen hat er
sie getragen zuletzt — na, siehst du, Sylvia, daran
muß ich manchmal denken jetzt. Du bist auch von
dem Schlag. Gut, edel, geduldig und — voll Liebe.
Laja aber hat kein Herz. Die bleibt mir alles schuldig,
was ich erwartete, die taugt überhaupt nicht zur
Ehe!"
Er schwieg und blickte sorgenvoll zu Boden.
Sylvias Gesicht hatte sich langsam mit dunkler
Röte überzogen. Durfte sie Lambachs Lob über
sich ruhig anhören? Sie war ja gar nicht gut und
geduldig! Sie wollte ja fort von ihrem Manne,
wollte den Kampf aufgeben, setzte den Stolz über
die Liebe.
Hieß das wirklich gut sein? Wirklich lieben?
— - 140
Wahre Liebe mußte selbstlos sein. Dunkel hatte
sie das immer gefühlt, und jetzt erkannte sie es
plötzlich völlig klar: Liebe mußte alles ertragen
können, mußte aushalten um jeden Preis. Eine
tiefe Scham überkam sie darüber, daß sie selbst ihre
Pflichten so schlecht erfaßt hatte. Sie durfte das
Wort nicht zuerst aussprechen, das sie trennte, denn
sie liebte ihn ja.
Lambach fing wieder von Laja zu reden an und
sprach sich allmählich in zornige Empörung hinein.
Schweigend hörte Sylvia zu. Ach, wenn er
wüßte, warum seine Frau so war! Daß ihrer aller
Unglück nur entsprang aus der falschen Stellung,
die sie zueinander einnahmen. Laja litt ja auch. —
Und Rainer! Es war der Fluch zweier Ehen, die
ohne Liebe geschlossen worden waren.
„Nun?" fragte Lambach. „Warum sagst du
denn nichts, Sylvia? Ist es nicht empörend, wie
mich diese Frau behandelt?"
„Traurig ist es!" antwortete Sylvia. „Aber
vielleicht wird bald alles besser werden, habe nur
Geduld."
Lambach lachte gereizt auf. „Ja, es wird besser
werden, weil ich einfach davongehen werde. In
acht Tagen reise ich nach dem Kaukasus, dann weiter
nach Asien hinüber — Punktum. Weißt du, wer
der weiseste Mann ist, den ich kenne? Peneda!
Als Ferry Lanzendorf sich verlobte, sagte er ihm in
meiner Gegenwart: -Eine Kugel vor den Kopf wäre
besser als eine Frau ins Haus. Wer kein Narr ist,
sollte nie heiraten.' Damals lachten wir. Heute
sag' ich: recht hat er! Tausendmal recht! Wenig-
stens nicht ohne Liebe!"
Sylvia nickte. „Ja — er hat recht. Man sollte
nie ohne Liebe heiraten!" sagte sie mechanisch. Als
sie gleich darauf zufällig den Blick hob, sah sie Rainer
im Rahmen der Tür stehen. Sein Gesicht war
seltsam fahl, und sein Auge ruhte unverwandt auf
Sylvia.
Stand er schon lange dort? Sie hatten ihn
beide nicht kommen gehört.
Unsicher erhob sie sich.
„Rainer ist hier," murmelte sie, „wir wollen zu
Tisch gehen."
Lambach und Rainer begrüßten einander zurück-
haltender als sonst; aber als aufgetragen wurde,
fand der Fürst einen Teil seiner guten Laune wieder
und wurde recht gesprächig.
Er machte Rainer Borwürfe, daß er so lange
nicht in Bärenegg gewesen war, schilderte ihm Lajas
Nervosität und knüpfte natürlich bittere Bemerkungen
daran.
Rainer hörte schweigend zu. „Ich hatte zu tun
— ich schreibe an meinem Reisewerk," sagte er
endlich kurz.
Nach Tisch schlug er Lambach eine Schachpartie
vor und bald saßen sie einander, scheinbar ganz in
das Spiel vertieft, gegenüber.
Sylvia schützte Kopfschmerz vor und empfahl
sich. Sie hatte Sehnsucht nach Luft und Bewegung
und schlich hinab in den Park. Sie wollte ganz
allein mit sich sein, um ruhig und klar nachzudenken
über vieles, das ihr jetzt deutlich zum Bewußt-
sein kam.
Der Wind, welcher ungestüm um ihre Schläfen
brauste, tat ihr wohl.
Als Rainer eine Stunde später Lambach an
seinen Wagen begleitet hatte und ebenfalls einen
kurzen Rundgang durch den Park machte, blieb er
plötzlich nahe dem kleinen offenen Gartenhaus unter
den Platanen bestürzt stehen.
Irgend jemand weinte da drinnen leise und so
bitterlich, daß es ihm ins Herz schnitt. Der Sturm
hatte die Nebel vertrieben und den Himmel ziemlich
klar gefegt. Zahllose Sterne blitzten herab, ab und
zu wurde zwischen den schmalen, hastig hintreibenden
Wolkenstreifen auch der Mond sichtbar.
In einem solchen Moment, wo das an drei
Seiten offene Gartenhäuschen hell beleuchtet dalag,
erkannte Rainer zu seinem Schrecken in der Weinen-
den Sylvia. Das Herz fing an ihm wild und stür-
misch zu klopfen. Sein erster Impuls war, zu ihr
zu eilen und sie zu fragen, warum sie so bitterlich
weine, sie zu trösten. Aber er wagte es nicht.
Wußte er nicht auch ohne Frage, wem diese
Tränen galten? Hatte er nicht eine Stunde zuvor
mit eigenen Ohren gehört, wie sie Lambach recht
gab, als er sagte, eine Kugel vor den Kopf wäre
besser als zu heiraten?
Daß Sylvia so tief unglücklich war an seiner
Seite, hatte er freilich nicht gewußt. Sie mußte
Walter unendlich lieben, da Qual und Sehnsucht
sie hierher in die Einsamkeit trieben, um sich aus-
zuweinen.
Rainer empfand bei dieser Erkenntnis einen so
wahnsinnigen Schmerz, daß die Rinde des Baumes,
an dem er stand, unter seinen sie krampfhaft um-