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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 43.1908

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Heft 11
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236 — - ... —. Vas buch fül- MIe

HO U

umfangreiches Taschentuch hervor, preßte es gegen
die absolut trockenen Augen und breitete dann die
Arme gegen Inge aus. „Komm her, mein Kind
— an deiner Mutter Herz! Lasse dich segnen!"
Mit einem peinlichen Gefühl der Ernüchterung,
für das er sich keine Rechenschaft zu geben wußte,
blickte Jellinghaus auf Mutter und Tochter, wie
einer, der aus einem Rausche langsam zu sich kommt.
Er hätte am liebsten gerufen, sie möchten schweigen,
heute wenigstens noch — aber das durfte er wohl
nicht. Nur Inge bat er flüsternd, als er Arm in
Arm mit ihr den Rückzug zur Gesellschaft antrat:
„Wir wollen heute abend unser Geheimnis noch für
uns behalten — meinst du nicht auch?"
Sie stimmte ihm lächelnd zu, strahlend vor Glück.
Hinter ihnen schritten die Posträtin und Alice
Howald, die eine stolz wie ein Triumphator, die
andere lachend und flüsternd.
„Bravo, Tantchen, das hat ja großartig ge-
klappt! Wir kamen gerade im rechten Augenblick.
Nun hätten sich die Leutchen glücklich! Hier übrigens
dein Brief zurück."
Mit hastiger Bewegung griff die Posträtin nach
dem Papier, öffnete ihr Handtäschchen, steckte es
hinein und sagte: „Gott sei Dank! Aber die Auf-
regung und die Freude sind mir in die Glieder ge-
fahren."
„Ach was," fiel Alice ein, „heim dürft ihr noch
nicht, ein bißchen müssen wir die Neuigkeit doch erst
verbreiten — unter den nächsten Bekannten wenig-
stens. Das Brautpaar braucht ja nichts davon zu
wissen."

Der Abend war bereits stark vorgeschritten, und
ein Teil der Gäste hatte sich entfernt. Nur ein
kleiner intimer Kreis war zurückgeblieben. Dem
war das Geheimnis, daß Inge Sondegg und Baron
Jellinghaus ein Paar geworden, bald enthüllt.
„Unter dem Siegel vorläufiger Verschwiegenheit
natürlich!" Frau Alice sagte das sehr niedlich durch-
trieben und legte jedesmal den Zeigefinger dabei
auf die Lippen. Sie wußte es ganz genau, wie
locker solch ein Siegel saß. —
„Mein lieber Baron, ich dächte, wir führen jetzt
nach Hause." In schöner schwiegermütterlicher
Selbstverständlichkeit gab endlich die Posträtin, als
sie ihre Nervenabspannung nicht länger beherrschen
konnte, das Aufbruchssignal. Inge stimmte schnell
zu im Gefühl, dem Manne an ihrer Seite, der
immer wortkarger geworden war, etwas An-
genehmes damit zu tun.
Das schien auch der Fall zu sein, denn seine Ant-
wort klang sehr bereitwillig: „Ich darf die Damen
wohl in meinem Wagen heimfahren? Er wartet
schon seit Stunden draußen."
„Natürlich — natürlich, lieber Baron, das nehmen
wir mit Dank an." —
Wenig später fuhren sie heim miteinander. Im
Dämmer des Wagens tastete Inge nach seiner Hand.
Sie war kalt und schwer und umschloß die ihre dann
so krampfhaft fest, daß es ihr fast weh tat. Ihre
Hände lösten sich erst wieder voneinander, als der
Wagen vor Sondeggs Hause hielt.
„Ach Gott, der Hausschlüssel! Das Mädchen
schläft doch schon! Wo hab' ich ihn nur?" Noch im
Wagen drinnen begann die Posträtin in ihrem ge-
füllten Handtäschchen herumzuwühlen, bis sie zwi-
schen allerhand Krimskrams den Gesuchten ent-
deckte.
Daß ihr dabei ein weißes Papier auf den Schoß
geglitten und dann zu Boden gesunken war, als sie
sich erhob und hinter Inge und Jellinghaus dem
Wagen entstieg — das hatte sie nicht bemerkt.
„Auf morgen also, lieber Baron!"
Das waren die letzten der noch vor der Haustüre
gewechselten Abschiedsworte, die bei ihm blieben,
als Jellinghaus wieder in seinem Wagen laß und
der Weiherburg zufuhr.
5echstes Kapitel.-
Der Wagen fuhr die Rampe hinauf und hielt
vor dem Portale der Weiherburg. Still und ver-
schlafen schaute das Herrenhaus in den grau däm-
mernden Morgen hinein, in den Wirtschaftsräumen
nebenan regten sich die ersten fleißigen Hände. Ein
Stallbursche sprang herbei und riß den Wagen-
schlag auf.
Jellinghaus erhob sich, um auszusteigen, als ein
Rascheln an seinem Fuße ihn aufmerken und zu
Boden blicken ließ. Ein zusammengeknittertes, be-
schriebenes Papier lag da, ein Brief offenbar. Er
selber hatte keinerlei Papiere bei sich geführt, also
konnte nur Inge oder ihre Mutter das Schreiben
verloren haben. Hastig griff er danach und hob es
auf, froh darüber, daß jetzt der offene Brief der
Dienerschaft nicht in die Hände fallen konnte. Dann
schritt er ins Haus hinein und suchte sein Schlaf-
zimmer auf. Das gefundene Papier warf er acht-

los auf seinen Toilettentisch. Er wollte noch ein
paar Stunden schlafen.
Er begann sich auszulleiden, ging in dem ein-
fach eingerichteten Zimmer hin und her, blieb einen
Moment vor dem Toilettentisch stehen, um seine
wertvolle Krawattennadel darauf niederzulegen, als
ein Blick den zerdrückten Brief streifte. Dieser Blick
wurde plötzlich scharf und stählern. Sein Name war
groß und deutlich zu lesen. Wie kam sein Name in
einen Brief an Inge oder ihre Mutter? Er faltete
das Papier auseinander.
Nur wenige Zeilen hatte er gelesen, da ging ein
Ruck durch seine Gestalt, wie wenn alles in ihm zu
fieberhafter Aufmerksamkeit sich zusammenrisse, glut-
rot brannte sein Kopf, seine Finger bebten, seine
Zähne schlossen sich fest aufeinander.
Als sei es widerwärtiger Schmutz, so schleuderte
er den Brief plötzlich von sich und knirschte: „Be-
trogen, infam betrogen!" Alle seine Sinne schärf-
ten sich ihm jählings, die Schleier zerrissen, er sah
sonnenklar und schlug sich mit der geballten Faust
vor die Stirn.
Narr, blinder Narr, der er gewesen war, so ins
Garn zu laufen! Helle Empörung lohte in ihm.
Dabei saß ihm ein Kitzel in der Kehle, als müsse er
laut hinauslachen. Das tat er zwar nicht, aber
ätzende Selbstverhöhnung spritzte ihm Gift in jeden
seiner Gedanken, in jede Rückerinnerung, die Inges
Namen oder den ihrer Mutter trug. Ob das gerecht,
ob es ungerecht war, das kümmerte ihn nicht in
diesem Augenblick, wo all sein Feingefühl aufs töd-
lichste beleidigt war. Sie hatten sich also nach ihm
erkundigt, nach seinem Soll und Haben, nach seiner
sittlichen Führung! Ja, die Frau Pofirätin wav
wohl vorsichtig, ehe sie zu einem sprach: „Auf morgen,
lieber Baron." Und sie führte das Leumunds-
zeugnis des jeweiligen Kandidaten hübsch bei sich,
um Nachlesen zu können, wenn ihr Gedächtnis
irgendwo versagte.
Was aber nun tun? Er war ja doch gefangen.
Was half es ihm, daß ihn ein gewisses Gefühl, über
das er sich selbst keine Rechenschaft ablegen konnte,
bei allem Reiz, den Inge auf ihn ausgeübt, so und
so oft zurückgerissen hatte? Heute hatte sie ihn doch
umgarnt.
Lange schritt er in seinem Zimmer auf und ab,
zwecklos schloß er die Fenster und stieß sie wieder
auf. Endlich warf er sich in einen Sessel und ver-
grub grübelnd den Kopf in die Hände. Er mußte
sich doch zur Ruhe zwingen, mußte sich vorzustellen
suchen, wie er innerlich Stellung zu dem Geschehenen
nehmen wollte. Die Ereignisse glitten an seinem
Geiste vorüber. Als er Inge Sondegg kennen
lernte, machte ihre blonde Schönheit einen tiefen
Eindruck auf ihn. Ihr inneres Wesen aber blieb
ihm undurchsichtig. Sie schien ihm stark unter dem
Einfluß ihrer Mutter zu stehen, und diese Mutter
gefiel ihm gar nicht. Damit hätte er sich aber ab-
gefunden, wäre Inge in ihrer ganzen Art von
größerer Klarheit gewesen. Allein ihr Benehmen
wechselte oft und schien ebenso oft im völligen Ein-
klänge mit der Denkungsart der Mutter zu stehen.
Wie weit es sich nur um die Resultate einer ver-
kehrten Erziehung, oder um wirkliche Charakter-
anlage bei ihr handelte, das hatte er erst ergründen
wollen, da überrumpelte ihn der heutige Abend.
Wieder flammte der Zorn in ihm empor. Wer
sagte ihm, daß Inge nichts von diesem elenden
Briefe hier, der feinen guten Namen herumzerrte,
der seinen Eltern im Grabe nachspürte, gewußt
hatte? Mutter und Tochter pflegten ja sonst keine
Geheimnisse voreinander zu haben. Dann aber war
Inge eine kalte, raffinierte Glücksjägerin, die heut
Abend ihr Meisterstück gemacht!
Wieder begann er auf und ab zu laufen. Dabei
fiel ihm ein, wie überraschend oft Inge seine Wege
gekreuzt. Die Szene im Walde mit ihr stand plötz-
lich vor ihm. Wenn auch die gemacht gewesen wäre?
Sie hatte es sich über Gebühr angelegen sein lassen,
ihn zum Besuch des Rosenfestes zu verleiten. Er
hatte wenig Sympathien für Howalds, die er auch
nur flüchtig kannte, er hätte die Einladung sicher ab-
gelehnt, wenn Inge ihn nicht zur Annahme derselben
fast gezwungen hätte.
Und heute nun! Jede Einzelheit des verhäng-
nisvollen Abends lebte wieder auf in ihm. Die
abseits gelegene Rosenlaube! Sah es nicht wie Ab-
sicht aus, daß Inge gerade diese Laube aufsuchte.
Warum war eben diese reserviert? Für wen? Und
warum respektierte Inge die Absperrung nicht?
Und warum wurde sie verlegen, als er sie an die
Mutter erinnerte? Wo steckte die Frau Posträtin
überhaupt den ganzen Abend über, warum über-
ließ sie ihm die Tochter so schrankenlos? Wußte
Inge, daß in der Rosenlaube niemand zur Unzeit
sie aufsuchen oder stören würde?
Das berückende Bild stand vor ihm, wie sie die
Rose emporhielt und daraus die goldenen Cham-

pagnertropfen mit den roten Lippen trank. Er wäre
kein Mann gewesen, hätte er diese Lippen nicht
geküßt!
Für die nötige Mobilmachung aller Sinne war
ja auch gesorgt gewesen, der Sekt hatte bereit ge-
standen, ebenso bereit, wie nachher die segnende
Mutter, die sich zur Sicherheit gleich noch eine Zeu-
gin für das, was sie gesehen, mitgebracht hatte.
Wo hatte er denn nur seinen Verstand, seine
Augen gehabt? Es war ja doch sonnenklar, daß
alles eine abgekartete Geschichte gewesen war!
Was half es, daß ihn der Ekel schüttelte vor dieser
klugen Mache? Eines hatte sie doch fertig gebracht,
die blonde Inge Sondegg mit ihren sonnenflim-
mernden samtnen Augen! Schmerz brannte und
fraß in ihm, nicht nur Zorn und beleidigtes Selbst-
gefühl. Ihr Verlust tat ihm weh. Und doch war
es keine rechte Liebe, die um sie trauerte. Die wäre
wohl hingegangen und hätte sich Auge in Auge
mit der Geliebten Klarheit erzwungen, anstatt zu
zweifeln und —- zu verurteilen.

Ein paar Stunden später saß Günter v. Jelling-
haus an seinem Schreibtisch. Er hatte den inneren
Sturm gewaltsam zur Ruhe gezwungen, und mit
der Ruhe stand noch klarer, noch felsenfester in ihm
das Fühlen und Wissen: ich kann das nicht! Und es
gibt keine Pflicht und keine Anschauung der Welt,
die mich vor mir selber dazu zwingen könnte.
Vor ihm lag wieder glatt gestrichen und zu-
sammengefaltet der Brief des Auskunftsbureaus.
Den schob er in einen Umschlag, dann nahm er einen
Briefbogen, legte ihn sich zurecht, tauchte die Feder
ein — und warf sie wieder von sich. Wie sollte er
ihr's schreiben? Er stützte den Kopf und sann nach.
Oder sollte er überhaupt nicht schreiben, sollte er
hingehen und es ihr persönlich sagen.
Man erwartete ihn ja so wie so heute bei Son-
deggs. Und wie erwartete man ihn dort? In seinen
Schläfen pochte es heißer, wenn er daran dachte.
Nein, eine persönliche Auseinandersetzung in diesem
Falle war unmöglich, sie mußte beiderseitig pein-
licher wirken als jeder Brief es tat.
Er begann zu schreiben.
„Gnädige Frau! Eingeschlossen erlaube ich mir,
Ihnen einen Brief zurückzureichen, den Sie in meinem
Wagen verloren haben, den ich fand — und las.
Ich beginne mit diesem Bekenntnis und führe
zu meiner Entschuldigung an, daß zufälliges Er-
blicken meines Namens in dem offenen Schreiben
eine geradezu zwingende Macht über meinen Willen
auf Kosten der Diskretion ausübte. Dennoch be-
reue ich nicht, daß ich mich verleiten ließ, gegen die
Gesetze der guten Erziehung zu verstoßen, ist es mir
doch dadurch noch in die Hand gegeben, eine vor-
eilige Tat ungeschehen zu machen, um sicheres Un-
heil von zwei, ja von drei Menschen abzuwenden.
Denn auch Sie, gnädige Frau, würden schmerzlich
darunter leiden, wenn Ihre Fräulein Tochter in
ihrer Ehe das erhoffte Glück nicht finden sollte. Ich
aber bin nach allem, was die heutige Nacht mir in
Anschluß au die Lektüre beigefügten Briefes offen-
bart hat, nicht mehr in der Lage, Ihrer Tochter
dieses Glück zu garantieren. Ehrliche Wahrheit ist
es, daß ich mich innerlich auf dem Wege befand,
mich zu Inge zu finden, verfrüht aber war es für mein
noch nicht gefestigtes Gefühl, ein durch allzu verfüh-
rerische Situation entschuldbares Empfinden mit dem
bindenden Wort fürs Leben zu quittieren. Sie allein,
gnädige Frau, müssen verstehen, was und wie ich es
meine, und Sie allein müssen es auch beurteilen
können, ob ich Ihrer Tochter Unrecht tue, wenn ich
heute der Ehrlichkeit ihrer Gefühle für mich miß-
traue. Ich hätte mich ihr gegenüber persönlich aus-
gesprochen, da ich aber nicht weiß, oh sie Kenntnis
von dem eingelegten Briefe hat, muß ich es Ihnen
überlassen, ihr mein Verhalten zu erklären.
Verzeihen Sie mir die Enttäuschung, gnädige
Frau, die ich Ihnen und Ihrer Tochter bereite. Ach
stehe Ihnen selbstverständlich persönlich zur Verfü-
gung, wann und sohald Sie es wünschen. Zum
Glück handelt es sich ja nicht um eine Verbindung,
die bereits in aller Form bestanden hätte. Fräu-
lein Inges Ruf kann nicht darunter leiden, denn das,
was gestern Abend geschehen, hat außer Frau Ho-
wald keine Zeugen gehabt. Sind Sie darin aber
anderer Meinung, so bin ich natürlich zu jeder Ge-
nugtuung bereit und stelle mich jeder Rechenschafts-
forderung zur Verfügung.
Meiner Diskretion dürfen Sie in jedem Falle
gewiß sein. Um nach außen hin keinerlei Miß-
deutung aufkommen zu lassen, werde ich, wenn ich
Ihre Rückäußerung empfangen, für längere Zeit
verreisen. Vielleicht gestattet es mir später das
Schicksal noch einmal, auf völlig neuem Boden
Ihrer Fräulein Tochter entgegenzutreten.
In hochachtungsvoller Ergehenheit empfiehlt sich
Ihnen Günter v. Jellinghaus."
 
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