Mt II . n
Die Feder sank ihm aus der Hand. Alle Auf-
regung war von ihm gewichen. Mit müden Be-
wegungen faltete er das Schreiben zusammen, steckte
es in den Umschlag zu dem anderen, schloß und
adressierte den Brief.
Es war geschehen! Und es war gut so, wenn
es auch Tränen gab und kurzes Herzeleid.
Mit dem Briefe in der Hand schritt er in die
Diele hinunter und gab Auftrag, einen reitenden
Boten damit in die Stadt zu senden.
Dann ließ er sich seinen Inspektor kommen und
besprach mit dem die Wahrscheinlichkeit seiner bal-
digen Abreise.
Sie schlief wohl den glücklichsten Schlaf ihres
Lebens, die blonde Inge Sondegg, denn sie lächelte
über das ganze Gesicht, als die Mutter in die Stube
trat, um nach ihr zu sehen. Träumte sie davon,
daß sie nun Braut war, daß ihr ein eigenes Leben,
ein eigenes Heim, ein eigener Wirkungskreis werden
sollte? Oder träumte sie davon, daß sie nun keine
mütterlichen Vorwürfe mehr hören, kein grämliches
Gesicht mehr sehen würde, daß nur Zärtlichkeiten
und zarte Aufmerksamkeiten ihrer warteten?
Leise ging die Mutter wieder hinaus und begann
ihre Festgarderobe aufzuräumen, deren verschiedene
Teile im Wohnzimmer Herumlagen. Dabei fiel ihr
jenes Täschchen in die Hände, das sie gestern zur
Aufbewahrung für alle möglichen Kleinigkeiten be-
nützt hatte. Da kam ihr auch der Brief des Aus-
kunftsbureaus wieder in den Sinn. Den hatte sie
ja in die Tasche hineingesteckt. Sie wollte ihn doch
schnell noch verschließen, ehe Inge ihn am Ende fand.
Das Täschchen sprang auf, die Posträtin griff
hinein, wühlte darin herum, immer hastiger, immer
aufgeregter — und plötzlich wurde ihr Gesicht braun-
rot vor Schreck.
Der Brief war fort! Der gesamte Inhalt der
Tasche flog auf die Kommodendecke — der Brief
blieb verschwunden! Zu ihrem grauseidenen Kleide
eilte sie und befühlte dessen Tasche — nein, sie wußte
es ja auch ganz bestimmt, im Handtäschchen hatte
sie den Brief aufbewahrt. Und jetzt war er nicht
mehr drinnen, war fort, verloren!
Wo hatte sie ihn verloren, wo um Gottes willen?
Sie sann nach, an allen Gliedern zitternd. Wer
ihn auch gefunden hatte, jeder konnte ihn miß-
brauchen, in jeder Hand konnte er unberechenbaren
Schaden stiften. An das Schlimmste aber, daß er
ihr im Wagen bei der Heimfahrt entglitten fein
konnte, daran dachte sie noch gar nicht einmal.
In ihrer Verwirrung machte sie sich an ein ganz
unnützes Suchen im Hause, als es draußen schellte.
Eine Sekunde fuhr sie erschreckt zusammen, ein Blick
auf die Uhr beruhigte sie jedoch gleich wieder. Es
war noch keine Besuchszeit. Vor Nachmittag würde
der Baron wohl überhaupt kaum erscheinen.
Da wurde an die Tür gepocht, das Mädchen trat
ein und überreichte einen Brief. „Ein Bote brachte
ihn," fügte fie hinzu.
„Was für ein Bote?" wollte die Posträtin fragen
und sprach doch kein Wort, blieb stumm und reglos
mit dem Briefe in der Hand stehen, bis das Mädchen
sich entfernt hatte. Wie Blei dünkte ihr die Hand —
wie Blei so schwer. Ahnungen, die zuweilen in
der Seele flüstern, sagten es ihr: Du hältst ein Schick-
sal in der Hand — und es ist kein gutes.
Ihre Füße versagten ihr, sie mußte sich setzen.
Mit fliegenden Fingern erbrach sie des Briefes Um-
schlag, und das erste, was ihr daraus entgegenfiel,
war das vermißte Schreiben aus ihrem Handtäsch-
chen! Sie fühlte, wie sie bleich wurde bis in die
Lippen, wie ihr Herz aussetzte. Alle Gegenstände
im Zimmer drehten sich um sie in wirbelndem Kreise,
die Buchstaben, die sie zu lesen versuchte, tanzten
auf und nieder und formten sich nur mühsam zu
Worten.
Aus also — es war aus! Den Kopf auf die
Brust gesenkt, den Blick starr zu Boden gerichtet,
als lägen dort zu ihren Füßen ihre zerschlagenen
Hoffnungen, so saß die Posträtin, nachdem sie den
Brief zu Ende gelesen und rührte sich nicht. Sie
dachte auch nichts, empfand nichts Bewußtes, alle
Sinne waren ihr gelähmt vor Schreck und Ratlosig-
keit. Langsam erst, ganz langsam erwachte sie aus
dieser Betäubung — und da schlug das Scham-
empfinden wie mit Ruten auf sie ein. Er hatte es
durchschaut, wie sie dem Schicksal nachgeholfen, und
er schleuderte ihr dafür seine Verachtung ins Gesicht.
Nicht mit brutalen Worten, aber mit brutaler Tat.
War es denn ein Verbrechen, was sie getan, durfte
er so ihr gegenübertreten? Taten nicht hundert
und tausend Nkütter dasselbe in der Sorge für ihrer
Töchter Zukunft? Schien es nicht vielmehr, als
wäre ihm das unglückselige Schreiben nur ein will-
kommener Vorwand gewesen, um sich nicht mit dem
Mädchen verloben zu müssen, das ihm zum Küssen
gut genug war?
- V35 Luch für- Mle -.—.
Vorbei war es jählings mit der glühenden Scham,
Zorn und Wut stürzten über die hinweg. Sie
wollte sich nicht schämen und sie hatte sich nicht zu
schämen! Sie war im Recht! Und er sollte sie
kennen lernen, der Herr Baron, er sollte sich nicht
einbilden, ein Mädchen so mir nichts dir nichts bla-
mieren zu dürfen!
Kerzengerade, das Gesicht flammendrot vor Em-
pörung, die Briefe mit den Fingern fest umklam-
mernd, so stand sie inmitten des Zimmers, als neben-
an ein leichter Schritt erklang und Inges Gesicht
zur Tür hereinlugte.
„Mama, wo steckst du denn nur? Ich dachte,
du wecktest mich heut mit einem schönen Glück-
wunsch!"
Es kam keine Antwort, aber ein Zittern ging
plötzlich durch die Gestalt der Mutter und mit einem
wilden Aufschluchzen stürzte sie zur Tochter und fiel
ihr um den Hals.
„Es ist ja aus, Inge — aus! Verschmäht hat
er dich, weggeworfen wie irgend eine!"
Inge riß der Mutter Hände sich vom Nacken, sah
die Briefe, und taumelte mit wirrem Laut zurück.
„Was schrieb er, was - was will er? Gib mir die
Briefe! Zwei hast du. Warum zwei?"
Blitzschnell hatte die Posträtin die Papiere in
die Tiefen ihrer Tasche versenkt. „Nein, die Schmach
tu' ich dir nicht an, dir die Briefe zu geben," stieß
fie hervor, während fie überlegte, was sie denn nur
sagen sollte? Wie fing sie's an, Inge den wahren
Sachverhalt zu verbergen? Erfuhr diese, daß die
heimlichen mütterlichen Erkundigungen dem Baron
in die Hände gerieten und so die Ursache seines
Bruches mit ihr wurden, so würde sie zeitlebens der
Mutter die Schuld aufbürden und ihr Ehrfurcht und
Liebe verweigern. Das aber sollte sie nicht — lieber
sollte sie den Mann hassen, der sie verschmäht, wie
ihn die Mutter haßte, die er beleidigt hatte.
„Gib mir die Briefe," forderte Inge noch einmal
und sah aus wie ein Marmorbild in ihrem langen
weißen Morgengewand und mit dem schneeweißen
Gesicht.
„Es ist ja nur einer, Inge. Der andere, der —"
Die Röte des Schuldbewußtseins stieg der Mutter
nun doch in die Stirn und stammelnd erklärte fie,
daß der zweite Brief ein zugleich empfangenes, be-
langloses Schreiben sei.
„Dann laß mich wenigstens das lesen, was mich
so sehr angeht!" beharrte die Tochter.
„Nein!"
„Mutter!" Inge trat dicht vor die Posträtin
hin und sah sie zwingend an. „Glaubst du, du
kannst mich auch in diesem Falle wie ein unmün-
diges Kind behandeln? Ich will wissen, was der
Mann mir heute vorzuwerfen hat, der sich gestern
mit mir verlobte."
„Der dich gestern küßte, willst du wohl sagen,"
fiel aufgebracht die Mutter ein. Etwas wie miß-
trauisches Forschen in Inges Blick reizte sie. Sie
fing wohl schon an, Vorwürfe zu machen? Nun,
sie wollte sich beizeiten dagegen verwahren! Und
rücksichtslos rief sie: „Jawohl! Und der sich heute
dafür bedankt, eine flüchtige Empfindung, wie er
es nennt, mit dem bindenden Wort fürs Leben zu
quittieren."
„Das ist nicht wahr! Sag', daß es nicht wahr ist,
Mutter!"
„Es ist wahr, seine eigenen Worte sind's sogar,
wenn er sie auch in so und so viele Phrasen hinein-
gepackt hat."
Die Lippen zitternd wie in Fieberschauern stand
Inge gegen die Wand gedrückt und schüttelte wild
den Kopf. „Nein — ich glaub's nicht! Und wenn
er es zehnmal bereute. Da spräche er doch wohl zu-
nächst mit mir. Mutter, du weißt es — warum
kam er nicht selber, warum schrieb er dir, nicht mir?
Gib mir den Brief!"
„Alfo deiner Mutter mißtraust du, und den Herrn
Baron, dem du zum Heiraten nicht gut genug bist,
den nimmst du in Schutz. Nun, da sollst du doch selber
hören!" Die Posträtin machte eine Gebärde, als
wolle sie in die Tasche greifen, den Brief hervor-
zuholen.
Inges Augen, die der Bewegung gefolgt, wurden
starr, und als hätte ein Schlag sie gefüllt, brach sie
zusammen.
Das griff der Mutter doch ans Herz. Sie beugte
sich herab zu Inge und streichelte ihr den auf einer
Stuhlkante ruhenden Kopf. „Nun glaubst du es,
nicht wahr, du armes Kind! Ich hatte ja auch ge-
glaubt, der Schlag rührte mich auf der Stelle heute
morgen. Solch ein gewissenloser Schuft! Schreibt
auch noch ganz frech, die Angelegenheit wäre ja nur
unter uns in der Familie geblieben und wenn er
dann noch auf längere Zeit verreise, wäre alles wie
nie gewesen."
„Schweig doch, Mutter! Sei doch barmherzig
und schweige! Ich möchte ja sterben vor Scham."
--237
Ihr Körper bebte, sie wand sich am Boden wie in
wilden Schmerzen.
„Ich soll schweigen — ich! Aber es sind doch nur
seine Worte, die ich dir sage. Und weil er zu feige
dazu war, selber zu kommen, halste er mir's auf, dir
alles beizubringen." Es war keine bewußte Ver-
drehung der Tatsachen mehr in ihrer eifernden Rede,
die Posträtin war jetzt selber fest davon überzeugt,
daß fie das Rechte sprach und tat.
Inge aber, ohne ein Wort zu erwidern, sprang
plötzlich auf und stürzte zur Tür. Ängstlich über ihr
jäh verändertes Aussehen eilte die Mutter ihr nach
und hielt sie am Arme zurück.
„Wo willst du denn hin — um Gottes willen?"
„Zu ihm!" Inge warf den Kopf zurück, ihre
Augen flammten. „Mir soll er das alles sagen —
mir ins Gesicht!"
Jäher Schrecken durchzuckte Frau Sondegg. Eine
Aussprache zwischen den zweien bedeutete für sie
den sicheren Verlust ihrer mütterlichen Autorität,
für Inge den Verlust ihres Rufes. Fester um-
klammerte sie der Tochter Arm und rief: „Du bleibst!
Bist du denn wahnsinnig? Soll dir der Mann, der
dich verschmäht hat, auch noch nachsagen können, daß
du ihm bis in sein Haus nachgelaufen bist, um dich
ihm anzutragen?"
Das hatte getroffen. Inge schlug beide Hände
vor das Gesicht.
5iedente5 Kapitel.-- -
Inge hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und
ließ niemand zu sich herein. Die Posträtin wartete
fiebernd auf die Stunde, in der sie Alice aufsuchen
konnte. Die war ihre Vertraute und Mitschuldige,
zu der konnte sie vernünftig reden, die mußte ihr
helfen, raten. Inge war ja doch blamiert vor der
ganzen Stadt! Vorhin in dem ersten wilden Zorn
war ihr das gar nicht so zum Bewußtsein gekommen.
Da hatte das persönliche Gefühl, beleidigt, beschämt
worden zu sein, alles andere in den Hintergrund ge-
schoben; jetzt aber ertrank jedes Empfinden in der
entsetzlichen Erinnerung: es waren gestern abend
so und so viele Menschen zu Mitwissern der Ver-
lobung gemacht worden, und das war dasselbe, als
wenn sie eine öffentliche gewesen wäre!
Inge wußte das noch gar nicht, aber sie würde es
erfahren, wo sie sich auch zeigte. Die Blamage war
grenzenlos. Eine abgedankte Braut — ihre Inge,
ihr Stolz! Sie wollte aber nicht daran denken, und
wenn sie den Mann, der ihrer Tochter das antun
wollte, mit der Pistole dazu zwingen sollte, fein
Wort einzulösen.
Das war der felsenfeste Entschluß, der sich ihr
aus allem Wirrwarr der Empfindungen bildete, und
ganz durchdrungen davon pochte sie bei Inge an.
„Mach' endlich auf, ich muß dir etwas sagen."
Der Riegel flog zurück — so hoffnungsschnell,
als ob es doch noch etwas Glückliches sein könnte,
was ihr die Mutter zu sagen hätte. Aber die törichte
Hoffnung verschwand aus Inges Zügen bei den
ersten hastigen Worten der Eintretenden.
„Irgend etwas muß jetzt geschehen. Die Sache
könnte doch unter die Leute kommen. Da habe
ich mir nun geschworen: der Mensch soll dir Genug-
tuung geben und müßte man ihn mit der Pistole
dazu zwingen lassen."
„Genugtuung? Worin sollte die bestehen, Mut-
ter? Und wer in der weiten Welt nähme wohl für
meine Ehrenrettung die Pistole in die Hand?"
„Oho, haben wir keine Verwandten? Ich will
zunächst einmal hören, wie sich Alices Mann zu der
Sache stellt. In seinem Hause ist es geschehen, vor
Zeugen hat der Mensch dich da geküßt, hat schnöde
das Gastrecht mißbraucht, hat —"
Mit einem verzerrten Lächeln um die Lippen
schnitt Inge ihr das Wort ab. „Wozu spielen wir
uns Komödie vor, Mutter? Du weißt so gut wie ich,
daß man keinen Mann mit der Pistole vor den
Altar zwingt — und darauf kommt es uns beiden
ja wohl an."
„Auch darauf, daß eine schmachvolle Beleidi-
gung gesühnt wird," rief mit Pathos die Posträtin.
„Ich lasse mein Kind nicht beleidigen und herab-
ziehen! Dafür bin ich Mutter!"
Abermals irrte das schneidende Lächeln um
Inges Mund. „Mutter" — wiederholte sie und
starrte in die Luft dabei, als sinne sie dem Worte
nach.
„Mit dir ist kein vernünftiges Wort zu reden!"
eiferte die Posträtin, schlug ärgerlich die Tür hinter
sich zu, und ein paar Stunden später hatte sie ihrer
Nichte, die noch beim Ankleiden war, alles haarklein
erzählt, was sich zugetragen.
Alice sah sprachlos da, wie vor den Kopf ge-
schlagen. Nur als ihr von der Tante eine Mitschuld
an dem Geschehnis aufgebürdet werden sollte, brauste
sie auf. Da lenkte die Posträtin wieder ein, redete
zum Guten und beschwor Alice unter Tränen, ihr
Die Feder sank ihm aus der Hand. Alle Auf-
regung war von ihm gewichen. Mit müden Be-
wegungen faltete er das Schreiben zusammen, steckte
es in den Umschlag zu dem anderen, schloß und
adressierte den Brief.
Es war geschehen! Und es war gut so, wenn
es auch Tränen gab und kurzes Herzeleid.
Mit dem Briefe in der Hand schritt er in die
Diele hinunter und gab Auftrag, einen reitenden
Boten damit in die Stadt zu senden.
Dann ließ er sich seinen Inspektor kommen und
besprach mit dem die Wahrscheinlichkeit seiner bal-
digen Abreise.
Sie schlief wohl den glücklichsten Schlaf ihres
Lebens, die blonde Inge Sondegg, denn sie lächelte
über das ganze Gesicht, als die Mutter in die Stube
trat, um nach ihr zu sehen. Träumte sie davon,
daß sie nun Braut war, daß ihr ein eigenes Leben,
ein eigenes Heim, ein eigener Wirkungskreis werden
sollte? Oder träumte sie davon, daß sie nun keine
mütterlichen Vorwürfe mehr hören, kein grämliches
Gesicht mehr sehen würde, daß nur Zärtlichkeiten
und zarte Aufmerksamkeiten ihrer warteten?
Leise ging die Mutter wieder hinaus und begann
ihre Festgarderobe aufzuräumen, deren verschiedene
Teile im Wohnzimmer Herumlagen. Dabei fiel ihr
jenes Täschchen in die Hände, das sie gestern zur
Aufbewahrung für alle möglichen Kleinigkeiten be-
nützt hatte. Da kam ihr auch der Brief des Aus-
kunftsbureaus wieder in den Sinn. Den hatte sie
ja in die Tasche hineingesteckt. Sie wollte ihn doch
schnell noch verschließen, ehe Inge ihn am Ende fand.
Das Täschchen sprang auf, die Posträtin griff
hinein, wühlte darin herum, immer hastiger, immer
aufgeregter — und plötzlich wurde ihr Gesicht braun-
rot vor Schreck.
Der Brief war fort! Der gesamte Inhalt der
Tasche flog auf die Kommodendecke — der Brief
blieb verschwunden! Zu ihrem grauseidenen Kleide
eilte sie und befühlte dessen Tasche — nein, sie wußte
es ja auch ganz bestimmt, im Handtäschchen hatte
sie den Brief aufbewahrt. Und jetzt war er nicht
mehr drinnen, war fort, verloren!
Wo hatte sie ihn verloren, wo um Gottes willen?
Sie sann nach, an allen Gliedern zitternd. Wer
ihn auch gefunden hatte, jeder konnte ihn miß-
brauchen, in jeder Hand konnte er unberechenbaren
Schaden stiften. An das Schlimmste aber, daß er
ihr im Wagen bei der Heimfahrt entglitten fein
konnte, daran dachte sie noch gar nicht einmal.
In ihrer Verwirrung machte sie sich an ein ganz
unnützes Suchen im Hause, als es draußen schellte.
Eine Sekunde fuhr sie erschreckt zusammen, ein Blick
auf die Uhr beruhigte sie jedoch gleich wieder. Es
war noch keine Besuchszeit. Vor Nachmittag würde
der Baron wohl überhaupt kaum erscheinen.
Da wurde an die Tür gepocht, das Mädchen trat
ein und überreichte einen Brief. „Ein Bote brachte
ihn," fügte fie hinzu.
„Was für ein Bote?" wollte die Posträtin fragen
und sprach doch kein Wort, blieb stumm und reglos
mit dem Briefe in der Hand stehen, bis das Mädchen
sich entfernt hatte. Wie Blei dünkte ihr die Hand —
wie Blei so schwer. Ahnungen, die zuweilen in
der Seele flüstern, sagten es ihr: Du hältst ein Schick-
sal in der Hand — und es ist kein gutes.
Ihre Füße versagten ihr, sie mußte sich setzen.
Mit fliegenden Fingern erbrach sie des Briefes Um-
schlag, und das erste, was ihr daraus entgegenfiel,
war das vermißte Schreiben aus ihrem Handtäsch-
chen! Sie fühlte, wie sie bleich wurde bis in die
Lippen, wie ihr Herz aussetzte. Alle Gegenstände
im Zimmer drehten sich um sie in wirbelndem Kreise,
die Buchstaben, die sie zu lesen versuchte, tanzten
auf und nieder und formten sich nur mühsam zu
Worten.
Aus also — es war aus! Den Kopf auf die
Brust gesenkt, den Blick starr zu Boden gerichtet,
als lägen dort zu ihren Füßen ihre zerschlagenen
Hoffnungen, so saß die Posträtin, nachdem sie den
Brief zu Ende gelesen und rührte sich nicht. Sie
dachte auch nichts, empfand nichts Bewußtes, alle
Sinne waren ihr gelähmt vor Schreck und Ratlosig-
keit. Langsam erst, ganz langsam erwachte sie aus
dieser Betäubung — und da schlug das Scham-
empfinden wie mit Ruten auf sie ein. Er hatte es
durchschaut, wie sie dem Schicksal nachgeholfen, und
er schleuderte ihr dafür seine Verachtung ins Gesicht.
Nicht mit brutalen Worten, aber mit brutaler Tat.
War es denn ein Verbrechen, was sie getan, durfte
er so ihr gegenübertreten? Taten nicht hundert
und tausend Nkütter dasselbe in der Sorge für ihrer
Töchter Zukunft? Schien es nicht vielmehr, als
wäre ihm das unglückselige Schreiben nur ein will-
kommener Vorwand gewesen, um sich nicht mit dem
Mädchen verloben zu müssen, das ihm zum Küssen
gut genug war?
- V35 Luch für- Mle -.—.
Vorbei war es jählings mit der glühenden Scham,
Zorn und Wut stürzten über die hinweg. Sie
wollte sich nicht schämen und sie hatte sich nicht zu
schämen! Sie war im Recht! Und er sollte sie
kennen lernen, der Herr Baron, er sollte sich nicht
einbilden, ein Mädchen so mir nichts dir nichts bla-
mieren zu dürfen!
Kerzengerade, das Gesicht flammendrot vor Em-
pörung, die Briefe mit den Fingern fest umklam-
mernd, so stand sie inmitten des Zimmers, als neben-
an ein leichter Schritt erklang und Inges Gesicht
zur Tür hereinlugte.
„Mama, wo steckst du denn nur? Ich dachte,
du wecktest mich heut mit einem schönen Glück-
wunsch!"
Es kam keine Antwort, aber ein Zittern ging
plötzlich durch die Gestalt der Mutter und mit einem
wilden Aufschluchzen stürzte sie zur Tochter und fiel
ihr um den Hals.
„Es ist ja aus, Inge — aus! Verschmäht hat
er dich, weggeworfen wie irgend eine!"
Inge riß der Mutter Hände sich vom Nacken, sah
die Briefe, und taumelte mit wirrem Laut zurück.
„Was schrieb er, was - was will er? Gib mir die
Briefe! Zwei hast du. Warum zwei?"
Blitzschnell hatte die Posträtin die Papiere in
die Tiefen ihrer Tasche versenkt. „Nein, die Schmach
tu' ich dir nicht an, dir die Briefe zu geben," stieß
fie hervor, während fie überlegte, was sie denn nur
sagen sollte? Wie fing sie's an, Inge den wahren
Sachverhalt zu verbergen? Erfuhr diese, daß die
heimlichen mütterlichen Erkundigungen dem Baron
in die Hände gerieten und so die Ursache seines
Bruches mit ihr wurden, so würde sie zeitlebens der
Mutter die Schuld aufbürden und ihr Ehrfurcht und
Liebe verweigern. Das aber sollte sie nicht — lieber
sollte sie den Mann hassen, der sie verschmäht, wie
ihn die Mutter haßte, die er beleidigt hatte.
„Gib mir die Briefe," forderte Inge noch einmal
und sah aus wie ein Marmorbild in ihrem langen
weißen Morgengewand und mit dem schneeweißen
Gesicht.
„Es ist ja nur einer, Inge. Der andere, der —"
Die Röte des Schuldbewußtseins stieg der Mutter
nun doch in die Stirn und stammelnd erklärte fie,
daß der zweite Brief ein zugleich empfangenes, be-
langloses Schreiben sei.
„Dann laß mich wenigstens das lesen, was mich
so sehr angeht!" beharrte die Tochter.
„Nein!"
„Mutter!" Inge trat dicht vor die Posträtin
hin und sah sie zwingend an. „Glaubst du, du
kannst mich auch in diesem Falle wie ein unmün-
diges Kind behandeln? Ich will wissen, was der
Mann mir heute vorzuwerfen hat, der sich gestern
mit mir verlobte."
„Der dich gestern küßte, willst du wohl sagen,"
fiel aufgebracht die Mutter ein. Etwas wie miß-
trauisches Forschen in Inges Blick reizte sie. Sie
fing wohl schon an, Vorwürfe zu machen? Nun,
sie wollte sich beizeiten dagegen verwahren! Und
rücksichtslos rief sie: „Jawohl! Und der sich heute
dafür bedankt, eine flüchtige Empfindung, wie er
es nennt, mit dem bindenden Wort fürs Leben zu
quittieren."
„Das ist nicht wahr! Sag', daß es nicht wahr ist,
Mutter!"
„Es ist wahr, seine eigenen Worte sind's sogar,
wenn er sie auch in so und so viele Phrasen hinein-
gepackt hat."
Die Lippen zitternd wie in Fieberschauern stand
Inge gegen die Wand gedrückt und schüttelte wild
den Kopf. „Nein — ich glaub's nicht! Und wenn
er es zehnmal bereute. Da spräche er doch wohl zu-
nächst mit mir. Mutter, du weißt es — warum
kam er nicht selber, warum schrieb er dir, nicht mir?
Gib mir den Brief!"
„Alfo deiner Mutter mißtraust du, und den Herrn
Baron, dem du zum Heiraten nicht gut genug bist,
den nimmst du in Schutz. Nun, da sollst du doch selber
hören!" Die Posträtin machte eine Gebärde, als
wolle sie in die Tasche greifen, den Brief hervor-
zuholen.
Inges Augen, die der Bewegung gefolgt, wurden
starr, und als hätte ein Schlag sie gefüllt, brach sie
zusammen.
Das griff der Mutter doch ans Herz. Sie beugte
sich herab zu Inge und streichelte ihr den auf einer
Stuhlkante ruhenden Kopf. „Nun glaubst du es,
nicht wahr, du armes Kind! Ich hatte ja auch ge-
glaubt, der Schlag rührte mich auf der Stelle heute
morgen. Solch ein gewissenloser Schuft! Schreibt
auch noch ganz frech, die Angelegenheit wäre ja nur
unter uns in der Familie geblieben und wenn er
dann noch auf längere Zeit verreise, wäre alles wie
nie gewesen."
„Schweig doch, Mutter! Sei doch barmherzig
und schweige! Ich möchte ja sterben vor Scham."
--237
Ihr Körper bebte, sie wand sich am Boden wie in
wilden Schmerzen.
„Ich soll schweigen — ich! Aber es sind doch nur
seine Worte, die ich dir sage. Und weil er zu feige
dazu war, selber zu kommen, halste er mir's auf, dir
alles beizubringen." Es war keine bewußte Ver-
drehung der Tatsachen mehr in ihrer eifernden Rede,
die Posträtin war jetzt selber fest davon überzeugt,
daß fie das Rechte sprach und tat.
Inge aber, ohne ein Wort zu erwidern, sprang
plötzlich auf und stürzte zur Tür. Ängstlich über ihr
jäh verändertes Aussehen eilte die Mutter ihr nach
und hielt sie am Arme zurück.
„Wo willst du denn hin — um Gottes willen?"
„Zu ihm!" Inge warf den Kopf zurück, ihre
Augen flammten. „Mir soll er das alles sagen —
mir ins Gesicht!"
Jäher Schrecken durchzuckte Frau Sondegg. Eine
Aussprache zwischen den zweien bedeutete für sie
den sicheren Verlust ihrer mütterlichen Autorität,
für Inge den Verlust ihres Rufes. Fester um-
klammerte sie der Tochter Arm und rief: „Du bleibst!
Bist du denn wahnsinnig? Soll dir der Mann, der
dich verschmäht hat, auch noch nachsagen können, daß
du ihm bis in sein Haus nachgelaufen bist, um dich
ihm anzutragen?"
Das hatte getroffen. Inge schlug beide Hände
vor das Gesicht.
5iedente5 Kapitel.-- -
Inge hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und
ließ niemand zu sich herein. Die Posträtin wartete
fiebernd auf die Stunde, in der sie Alice aufsuchen
konnte. Die war ihre Vertraute und Mitschuldige,
zu der konnte sie vernünftig reden, die mußte ihr
helfen, raten. Inge war ja doch blamiert vor der
ganzen Stadt! Vorhin in dem ersten wilden Zorn
war ihr das gar nicht so zum Bewußtsein gekommen.
Da hatte das persönliche Gefühl, beleidigt, beschämt
worden zu sein, alles andere in den Hintergrund ge-
schoben; jetzt aber ertrank jedes Empfinden in der
entsetzlichen Erinnerung: es waren gestern abend
so und so viele Menschen zu Mitwissern der Ver-
lobung gemacht worden, und das war dasselbe, als
wenn sie eine öffentliche gewesen wäre!
Inge wußte das noch gar nicht, aber sie würde es
erfahren, wo sie sich auch zeigte. Die Blamage war
grenzenlos. Eine abgedankte Braut — ihre Inge,
ihr Stolz! Sie wollte aber nicht daran denken, und
wenn sie den Mann, der ihrer Tochter das antun
wollte, mit der Pistole dazu zwingen sollte, fein
Wort einzulösen.
Das war der felsenfeste Entschluß, der sich ihr
aus allem Wirrwarr der Empfindungen bildete, und
ganz durchdrungen davon pochte sie bei Inge an.
„Mach' endlich auf, ich muß dir etwas sagen."
Der Riegel flog zurück — so hoffnungsschnell,
als ob es doch noch etwas Glückliches sein könnte,
was ihr die Mutter zu sagen hätte. Aber die törichte
Hoffnung verschwand aus Inges Zügen bei den
ersten hastigen Worten der Eintretenden.
„Irgend etwas muß jetzt geschehen. Die Sache
könnte doch unter die Leute kommen. Da habe
ich mir nun geschworen: der Mensch soll dir Genug-
tuung geben und müßte man ihn mit der Pistole
dazu zwingen lassen."
„Genugtuung? Worin sollte die bestehen, Mut-
ter? Und wer in der weiten Welt nähme wohl für
meine Ehrenrettung die Pistole in die Hand?"
„Oho, haben wir keine Verwandten? Ich will
zunächst einmal hören, wie sich Alices Mann zu der
Sache stellt. In seinem Hause ist es geschehen, vor
Zeugen hat der Mensch dich da geküßt, hat schnöde
das Gastrecht mißbraucht, hat —"
Mit einem verzerrten Lächeln um die Lippen
schnitt Inge ihr das Wort ab. „Wozu spielen wir
uns Komödie vor, Mutter? Du weißt so gut wie ich,
daß man keinen Mann mit der Pistole vor den
Altar zwingt — und darauf kommt es uns beiden
ja wohl an."
„Auch darauf, daß eine schmachvolle Beleidi-
gung gesühnt wird," rief mit Pathos die Posträtin.
„Ich lasse mein Kind nicht beleidigen und herab-
ziehen! Dafür bin ich Mutter!"
Abermals irrte das schneidende Lächeln um
Inges Mund. „Mutter" — wiederholte sie und
starrte in die Luft dabei, als sinne sie dem Worte
nach.
„Mit dir ist kein vernünftiges Wort zu reden!"
eiferte die Posträtin, schlug ärgerlich die Tür hinter
sich zu, und ein paar Stunden später hatte sie ihrer
Nichte, die noch beim Ankleiden war, alles haarklein
erzählt, was sich zugetragen.
Alice sah sprachlos da, wie vor den Kopf ge-
schlagen. Nur als ihr von der Tante eine Mitschuld
an dem Geschehnis aufgebürdet werden sollte, brauste
sie auf. Da lenkte die Posträtin wieder ein, redete
zum Guten und beschwor Alice unter Tränen, ihr