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Burckhardt, Jacob; Dürr, Emil [Hrsg.]
Vorträge 1844 - 1887 — Basel, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.30685#0074
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Alexandrien insbesondere ist sie eines der wichtigsten Aktenstücke. Sie
hebt das Unfreie und Nervöse an jenem Treiben meisterhaft hervor
und führt daneben noch die stärksten Geißelhiebe auf die vornehmen
Lokalphilosophen wie auf die Cyniker an allen Kreuzstraßen und
Tempelpylonen, auf die Schmeichelrhetoren wie auf die Advokaten, im
dem alle nicht mehr reden, sondern einen singenden Vortrag haben an#
nehmen müssen. Am Ende wird der geistig verödeten Bevölkerung, die
nur noch Hohnreden und Melodien im Gedächtnis behalten kann, an?
gedeutet, daß ihr Gelächter nur ein Beweis dafür sei, wie gänzlich ihnen
die wahre Freude abhanden gekommen.

Endlich aber findet sich und zwar als siebente Rede, unter dem
Titel Etjßo'cxbg rj xovrjyog, Venator, eine der schönsten Idyllen der alten
Literatur, unstreitig das für uns wertvollste Stück der ganzen großen
Sammlung.

Wenn sich Dio von den Städten des damaligen Griechenlands
hoffnungslos abwendet, so behält er doch eine offene Sympathie für die
spärlichen Landbevölkerungen mit ihren altertümlichen Sitten. Von
seinem Aufenthalt im Peloponnes sagt er in der ersten Rede: Ich mied
die Städte und hielt mich auf bei Hirten und Jägern von edeln und eins
fachen Sitten. Der Ebßo'cxög ist nun eine lebendige, völlig in den
Schranken der Wirklichkeit gehaltene und dabei teils launige, teils
hochpoetische Darstellung einer Existenz dieser Art. Dio, von Chios
herkommend, leidet Schiffbruch an der Küste von Euböa und findet dann
hülfreiche Aufnahme in einer Doppelfamilie, welche von Jagd und etwas
Feld* und Gartenbau und ein paar Reben über den Abgründen lebt
und deren Geschichte ihm nun erzählt wird. Außerordentlich schön ist
besonders der Gegensatz zwischen der Freiheit und Weltvergessenheit
dieser einfachen und rüstigen Leute und dem Zustand einer ver?
kommenen und verfaulten Küstenstadt geschildert, unter welcher man
sich nach Belieben Chalcis, Eretria oder einen andern Ort der Insel
denken kann. Dies alles wird nicht etwa beschrieben, sondern enL
wickelt sich vor den Augen des Lesers an einem vollkommen lebendigen
Vorgang. Zuletzt lernt Dio die beiden Familien näher kennen und wohnt
als glücklicher Gast der Verlobung zwischen dem Sohne der einen und
der Tochter der andern bei.

Zweierlei Wünsche pflegen bei der Betrachtung der so fragmenta*
tarisch auf uns gekommenen alten Literatur aufzusteigen: der eine, daß
auch noch das verloren Gegangene von den Autoren, die wir kennen.

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