DIE WEIHGESCHENKE DER ALTEN
12. FEBRUAR 1884.
Das Weihgeschenk in der Auffassung der Völker ist eine
höhere, dauernde Gestalt des Opfers. Bei den Kelten und
Germanen lagen in den Heiligtümern bedeutende Massen von
Edelmetallen, und Krösos von Lydien stiftete nach Delphi
seine bekannten Goldbarren. Aber erst bei den Griechen macht sich
das Weihgeschenk vom Stoffwerte oft völlig los und erhebt sich zum
Kunstwerke im höchsten Sinne.
Ungesprochene Anschauungen und Voraussetzungen der verschie?
densten Art begleiten dasselbe. So wie das Opfer, von den Vorfahren
der Griechen seit Jahrtausenden geübt, bevor es einen ausgebildeten
griechischen Kultus gab, nicht mehr genau JR.echenschaft geben konnte
von seinen ursprünglichen Bedeutungen, ebenso lagen dem Weih?
geschenk neben den hellern Motiven: Bitte, Dank und Sühne, auch
dunklere zu Grunde; deutlich war nur, daß es den Weihenden länger im
Gedächtnis der Gottheit gegenwärtig halten sollte als das Opfer. Das
griechische Volk hat hier, statt zu sprechen, Gaben dargebracht, und so
werden wir wohl darauf verzichten müssen, aus den zerstreuten Andeuts
ungen der Alten zu einer vollständigen Symbolik des Anathems in
Worten zu gelangen. Die vielleicht uralte Vorgeschichte des Anathems
wird erst allmählich aus den sich jetzt häufenden Funden der verschie*
densten Zeiten ermittelt werden müssen.
Zwar ist eine große Sammlung von anathematischen Epigrammen
vorhanden, welche die sechste Abteilung der Anthologie ausmachen und
auf den ersten Anblick viele Aufklärung versprechen. Allein im seltens
sten Fall spricht hier der wirkliche Stiftende; denn dieser wird sich mit
Nennung' seines Namens und desjenigen der betreffenden Gottheit be*
gnügt haben, und Unzähliges wurde gewiß schriftlos geweiht. Statt
dessen hören wir fast überall einen Dichter der alexandrinischen und
römischen, ja byzantinischen Zeit, welcher zwar vorgibt, im Namen des
Weihenden zu sprechen, in der Tat aber nur nach einem zierlichen oder
witzigen Wort über das Weihgeschenk sucht; ja oft sind es gegebene
Jeux d’esprit ohne allen Anlaß aus der Wirklichkeit, welche von mehrern
Epigrammatikern um die Wette behandelt wurden, ein Ballast, der be;
kanntlich alle Teile der Anthologie beschwert, und so kehrt manches,
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12. FEBRUAR 1884.
Das Weihgeschenk in der Auffassung der Völker ist eine
höhere, dauernde Gestalt des Opfers. Bei den Kelten und
Germanen lagen in den Heiligtümern bedeutende Massen von
Edelmetallen, und Krösos von Lydien stiftete nach Delphi
seine bekannten Goldbarren. Aber erst bei den Griechen macht sich
das Weihgeschenk vom Stoffwerte oft völlig los und erhebt sich zum
Kunstwerke im höchsten Sinne.
Ungesprochene Anschauungen und Voraussetzungen der verschie?
densten Art begleiten dasselbe. So wie das Opfer, von den Vorfahren
der Griechen seit Jahrtausenden geübt, bevor es einen ausgebildeten
griechischen Kultus gab, nicht mehr genau JR.echenschaft geben konnte
von seinen ursprünglichen Bedeutungen, ebenso lagen dem Weih?
geschenk neben den hellern Motiven: Bitte, Dank und Sühne, auch
dunklere zu Grunde; deutlich war nur, daß es den Weihenden länger im
Gedächtnis der Gottheit gegenwärtig halten sollte als das Opfer. Das
griechische Volk hat hier, statt zu sprechen, Gaben dargebracht, und so
werden wir wohl darauf verzichten müssen, aus den zerstreuten Andeuts
ungen der Alten zu einer vollständigen Symbolik des Anathems in
Worten zu gelangen. Die vielleicht uralte Vorgeschichte des Anathems
wird erst allmählich aus den sich jetzt häufenden Funden der verschie*
densten Zeiten ermittelt werden müssen.
Zwar ist eine große Sammlung von anathematischen Epigrammen
vorhanden, welche die sechste Abteilung der Anthologie ausmachen und
auf den ersten Anblick viele Aufklärung versprechen. Allein im seltens
sten Fall spricht hier der wirkliche Stiftende; denn dieser wird sich mit
Nennung' seines Namens und desjenigen der betreffenden Gottheit be*
gnügt haben, und Unzähliges wurde gewiß schriftlos geweiht. Statt
dessen hören wir fast überall einen Dichter der alexandrinischen und
römischen, ja byzantinischen Zeit, welcher zwar vorgibt, im Namen des
Weihenden zu sprechen, in der Tat aber nur nach einem zierlichen oder
witzigen Wort über das Weihgeschenk sucht; ja oft sind es gegebene
Jeux d’esprit ohne allen Anlaß aus der Wirklichkeit, welche von mehrern
Epigrammatikern um die Wette behandelt wurden, ein Ballast, der be;
kanntlich alle Teile der Anthologie beschwert, und so kehrt manches,
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