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Burckhardt, Jacob; Dürr, Emil [Hrsg.]
Vorträge 1844 - 1887 — Basel, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.30685#0436
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DIE BRIEFE DER MADAME DE SEVIGNE

15. NOVEMBER 1887.

bgesehen von einigen Briefsammlungen des Altertums, welche zu
gelehrten Zwecken immer neu gedruckt werden, bilden die Briefe
der Madame de Sevigne vielleicht die verbreitetste Sammlung,
k^die es gibt. Es existieren mehr Bände der Sevigne in den Händen

des Publikums als von irgend einem Briefautor. Es gab noch vor siebzig
Jahren in Frankreich manche Leute, die jährlich alle Bände durchlasen.

Und da der ganze Zustand, auf den sie sich beziehen, ein längst
vergangener ist, an welchen sich kein äußeres Interesse mehr anknüpft,
da sogar alle Familien ausgestorben sein werden, welche darin vor#
kommen, da auch das Ausland die Anhänglichkeit der Franzosen teilt,
so kann diese Verbreitung nur auf irgend einem innern Werte beruhen.
Ein solcher innerer Wert könnte ein sachlicher, ein historischer, zeit*
geschichtlicher oder sittengeschichtlicher sein; er könnte auch ein ästhe#
tischer sein, ein stilistischer, der einer formalen Vorbildlichkeit für die
Epistolographie; entscheidend aber auf alle Zeiten wird nur die Per?
sönlichkeit sein, welche sich darin offenbart. Die Sevigne vereinigt dies
alles, und das dritte gilt für sie im höchsten Grade. Man wird ewig
gerne in der Gesellschaft der Sevigne sein, und nun erfährt man, daß es
schon den Zeitgenossen so ging. Dazu sind die Briefe literarisch völlig
absichtslos; nicht eine Zeile ist für ein Publikum geschrieben; daher
denn der supreme Duft, den man der Naivität des Schreibens verdankt.
Diese Briefe haben eine besondere Weihe und geheime Grenze; es sind
sehr überwiegend Briefe einer Mutter an eine Tochter.

Und nun macht es nichts mehr aus, daß sie einem schon sehr locker
gewordenen höchsten Stande ihres Landes angehören. Dieses Land war
damals das höchst zivilisierte. Weder in dem verkommenen Italien
und Spanien, noch in Deutschland und England kann es damals eine
Briefschreiberin dieses Ganzen von Eigenschaften gegeben haben. Ebern
so treffliche Charaktere wohl, aber keine Frau mehr von solcher Begab*
ung und Lust der anmutigen und eleganten Mitteilung, zugleich Zeits
genossin einer für ihr Land klassischen Zeit der Poesie und Literatur,
einer Zeit der Hochschätzung des geschriebenen Wortes.

Es besteht eine Schwierigkeit für den Leser späterer Zeiten, in
Memoiren und Briefsammlungen sich in dem oft sehr zahlreichen, für
den Autor selbstverständlichen Personal zu orientieren.

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