PYTHAGORAS
(WAHRHEIT UND DICHTUNG)
28. OKTOBER 1884.
In einer sonst völlig historischen Zeit und Umgebung, in dem Großs
griechenland des VI. Jahrhunderts vor Chr., tritt eine Gestalt auf,
um welche der Mythos mit unerbittlicher Gewalt seine schimmerns
den Fittiche geschlagen hat; dazu kam eine bewußte Tendenz
Früherer und Späterer, diese Gestalt nachträglich bestimmten Absichten
dienstbar zu machen. Durch den Schleier doppelter und dreifacher
Täuschungen hindurch sucht nun die neuere Forschung den Tatbestand
zu ergründen, wie er in Wahrheit gewesen sein möchte, und doch ist die
Frage in Hauptbeziehungen noch eine offene zu nennen. Was ich in
meinem Beitrag zur Lösung als Dichtung bezeichne, ist nun nicht etwa
ein Ersinnen von Tatsachen in der Art eines historischen Romans; meine
Willkür wird nur darin bestehen, daß ich unter dem Ueberlieferten nach
Gutdünken auswähle, die Akzente verteile und die Motive, wo sie nicht
überliefert sind, zu erraten versuche. Weit entfernt von dem Ansprucli,
der Wissenschaft einen Dienst zu leisten, habe ich nur versuchen müssen,
mich selber nach Kräften ins Klare zu setzen über ein Problem, das mich
schon längst lebhaft beschäftigt hatte. Es fand sich, daß mehr als ein
Baustein, der von der Kritik aufgegeben in dem Trümmerhaufen lag, sich
wohl wieder mit einem zweiten und dritten zusammenfügen lasse und
dann Schlüsse gestatte auf die Urgestalt des Baues. Das Bild des Pytha?
goras, wie es sich nun darbietet, ist fremdartig und sonderbar, allein es
hat unleugbare Züge von Größe.
Strabo: Wenn man vom Vorgebirge Lacinium umbiegt,
da lagen die Achäerstädte, welche jetzt nicht mehr sind, aus*
genommen Tarent. Aber wegen des Ruhmes einiger derselben
muß ihrer doch gedacht werden.
Inmitten der großen kolonialen Bewegung der griechischen Nation,
da sie an allen Barbarenstrand einen hellenischen Küstensaum anwob,
erhielt außer Sizilien, Campanien, Calabrien und Apulien auch der Golf
von Tarent eine Reihe Ansiedelungen, meist gegen Ende des VIII. Jahr*
hunderts vor Chr. Es waren Auswanderer der verschiedensten Herkunft,
spartanische Dorer, ozolische Lokrer, Ionier und namentlich Achäer;
228
(WAHRHEIT UND DICHTUNG)
28. OKTOBER 1884.
In einer sonst völlig historischen Zeit und Umgebung, in dem Großs
griechenland des VI. Jahrhunderts vor Chr., tritt eine Gestalt auf,
um welche der Mythos mit unerbittlicher Gewalt seine schimmerns
den Fittiche geschlagen hat; dazu kam eine bewußte Tendenz
Früherer und Späterer, diese Gestalt nachträglich bestimmten Absichten
dienstbar zu machen. Durch den Schleier doppelter und dreifacher
Täuschungen hindurch sucht nun die neuere Forschung den Tatbestand
zu ergründen, wie er in Wahrheit gewesen sein möchte, und doch ist die
Frage in Hauptbeziehungen noch eine offene zu nennen. Was ich in
meinem Beitrag zur Lösung als Dichtung bezeichne, ist nun nicht etwa
ein Ersinnen von Tatsachen in der Art eines historischen Romans; meine
Willkür wird nur darin bestehen, daß ich unter dem Ueberlieferten nach
Gutdünken auswähle, die Akzente verteile und die Motive, wo sie nicht
überliefert sind, zu erraten versuche. Weit entfernt von dem Ansprucli,
der Wissenschaft einen Dienst zu leisten, habe ich nur versuchen müssen,
mich selber nach Kräften ins Klare zu setzen über ein Problem, das mich
schon längst lebhaft beschäftigt hatte. Es fand sich, daß mehr als ein
Baustein, der von der Kritik aufgegeben in dem Trümmerhaufen lag, sich
wohl wieder mit einem zweiten und dritten zusammenfügen lasse und
dann Schlüsse gestatte auf die Urgestalt des Baues. Das Bild des Pytha?
goras, wie es sich nun darbietet, ist fremdartig und sonderbar, allein es
hat unleugbare Züge von Größe.
Strabo: Wenn man vom Vorgebirge Lacinium umbiegt,
da lagen die Achäerstädte, welche jetzt nicht mehr sind, aus*
genommen Tarent. Aber wegen des Ruhmes einiger derselben
muß ihrer doch gedacht werden.
Inmitten der großen kolonialen Bewegung der griechischen Nation,
da sie an allen Barbarenstrand einen hellenischen Küstensaum anwob,
erhielt außer Sizilien, Campanien, Calabrien und Apulien auch der Golf
von Tarent eine Reihe Ansiedelungen, meist gegen Ende des VIII. Jahr*
hunderts vor Chr. Es waren Auswanderer der verschiedensten Herkunft,
spartanische Dorer, ozolische Lokrer, Ionier und namentlich Achäer;
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