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Burckhardt, Jacob; Dürr, Emil [Hrsg.]
Vorträge 1844 - 1887 — Basel, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.30685#0359
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BYZANZ IM X. JAHRHUNDERT

9. NOVEMBER 1886.

Das heutige Thema ist etwas entlegen, für welches ein Inter?
esse zu verlangen kaum angeht.

Byzantion ist der alte Name von Konstantinopel, und
das danach benannte Reich ist ursprünglich die Osthälfte des
großen alten römischen Weltreiches. Unter Justinian hat es nach dem
Westen, nach Italien und Afrika, ausgegriffen, hat vom VII. zum IX.
Jahrhundert im Osten durch den Islam eine gewaltige Verringerung er?
fahren und befand sich seitdem mit diesem in beständigem Kampf. Dazu
kamen seine übrigen Feinde: früher die Perser und Avaren, jetzt die
Bulgaren, Petschenegen, Slaven, Normanno^Russen und Ungarn, später,
von den Seldschuken an, die Türken verschiedener Stämme, im Jahre
1204 die Kreuzfahrer, in demselben Jahrhundert die Mongolen.

Trotzdem hat Byzanz die Ungunst der Neuern, von Gibbon bis
Dahn erfahren. Es laufen über dies Reich Wendungen und Urteile wie
„Fäulnis oder richtiger noch Vertrocknung“, „das Reich habe weder zu
leben noch zu sterben vermocht“; man spricht von einem angeblichen
raschen Verfall, wo es doch tausend Jahre gedauert hat (1). Und byzam
tinisch heißt: im Staatsleben: Despotismus mit lauter Thronrevolutionen,
Druck und Erpressung, Knechtssinn; in der Kirche: unauslöschlicher dog*
matischer Zank und daneben bodenloser Aberglaube; im Felde: käufs
liche Söldner und verweichlichte Griechen; in der Kunst: knechtische
Wiederholung. Ja, dies Reich leidet unter einer eigentlichen Abgunst
neben einer abgeschmackten Vorliebe, die dem Islam zu Teil wird:
glänzend wird jenem gegenüber die Entwicklung des abendländischen
Mittelalters hervorgehoben.

Fremdartig ist uns allerdings das Byzantinische von Grund aus, und
wir möchten nicht darin gelebt haben, freilich in unserm Mittelalter auch
nicht, ja es wäre uns schon in der Zeit unserer Großeltern recht un*
bequem zu Mute. Aber in diesem Fremdartigen erkennt ein unbe*
fangener Blick allermindestens eine große Lebenskraft, welche sich
gegen alle Feinde auf das mächtigste gewehrt hat, und noch heute, nach*
dem ihr staatliches Gehäuse seit 400 Jahren untergegangen, als Sitte und
Sprache weiterlebt, den jetzigen Osmanen das Leben schwer macht und
in ihrer Umwandlung als griechische Kirche das Band zwischen Rußland

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