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Burckhardt, Jacob; Dürr, Emil [Hrsg.]
Vorträge 1844 - 1887 — Basel, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.30685#0132
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DAS PHÄAKENLAND HOMERS

14. NOVEMBER 1876.

Weit über die Jahrtausende hinaus schimmert zu uns das
Bild einer wunderbaren Insel herüber, die Homer mit
allem Glanze seiner unsterblichen Poesie verklärt hat,
— es ist die Insel Scheria. Wo liegt dieses wunderbare
Eiland? Man hat geglaubt, es in der Insel Korkyra oder Korfu ents
deckt zu haben; allein Scheria gehört dem Traumleben des Mythos,
gehört einer und derselben wunderbaren Traumgeographie an, in der die
Phantasie aller Zeiten von jeher stark zu Hause war. In solchen
Regionen weilt ja die Phantasie so gerne, und darum entstehen auch
diese Fabelländer sozusagen von selber.

Wir sollen den Göttern danken, wenn eine große alte Dichtung uns
einen solchen Zustand vorempfindet; denn aus eigenen Mitteln ver*
möchte es die jetzige Poesie nicht mehr.

Was das Bild des Phäakenlebens bei Homer so zauberhaft macht,
ist, daß der Dichter von einem solchen Zustand noch gar nicht so ferne
ist und ihn in vollem Ernst als einen möglichen, denkbaren und vielleicht
ganz nahen behandelt.

Daher die untrügliche Sicherheit seiner Phantasie vor aller Phan#
tastik, die große Gewißheit, womit seine Formen und Farben auftreten
und die Kraft, womit sie sich uns einprägen.

Die Unzulänglichkeiten des Erdenlebens haben von alten Zeiten
her die Phantasie der Völker angeregt, Bilder zu entwerfen, Schilder*
ungen eines Zustandes, wie man ihn gerne gehabt hätte. Eine kindlich
schöne und wehmiitige und tiefsinnige Phantasie bringt es zum Bilde
eines goldenen Zeitalters, eine kindlich possenhafte zum Bilde eines
Schlaraffenlandes, wie dies schon die attischen Komiker getan haben;
dann kommen Denker, Philosophen und Politiker wie Plato und Thomas
Morus, und entwerfen, vom ethisch, politisch und ökonomisch Wünsch?
baren ausgehend, das Gemälde ihres Nirgendheim, ihrer Utopie.

Die Fabelländer der Poeten schildern nicht immer einen Zustand
den man wünscht, einen Idealzustand, sondern eben so oft ein Dasein,
welches die Kritik und selbst die Karikatur des wirklichen Erdenlebens
einer bestimmten Zeit und Gegend bildef. So bei Rabelais.

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