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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,2.1916

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Heft 10 (2. Februarheft 1916)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Bücher der Zeit, 8: Aufklärendes zur Weltlage
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https://doi.org/10.11588/diglit.14292#0159

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der europäischen Völker gegenüber Rnßland, Asien usw. dar. Aberhaupt
wird in diesem Teil auf sehr eigenartige Weise immer wieder beleuchtet,
welche Stellung sich dem wissenschaftlich Denkenden zu den wesentlichsten
europäischen Fragen aufdrängt.

Der dritte Teil gibt einen Aberblick über die nicht örtlich, nicht national,
nicht zufällig bedingten Kulturerscheinungen, welche die europäischen Völker
wesentlich kennzeichnen. „Wachstum und Widerstände", „Vererbung", „Vom
»Fortschritt« und »Verfall«", „Die Religionen und ihre Priester", ,,Re«
genten", „Der Kampf" — so lauten die Aberschriften. Vor allem die ersten
drei Kapitel bieten tiefe Einblicke in die sozusagen naturwissenschaftlich er»
faßbare Organisation der Kultur und ihrer Träger. Alles in allem ist
dieser Teil aber am wenigsten ausgebildet; der R.iesenstoff erlaubte hier
manchmal nur kurze Aberblicke, die freilich in ihrer Ärt sehr Wesentliches
geben!

Rnd das Buch im Ganzen? Es ist das Werk eines Forschers, der
nichts Rnbewiesenes glaubt, keine blendenden tzypothesen aufstellt, jeder
Hypothese bis zum Außersten kritisch gegenübertritt und Darstellung und
Kritik beherrscht wie ein Meisterfechter seine Waffe. Es gibt wenige Schrift«
steller auf diesem Gebiete, die so knapp und zielsicher, so geistreich im
guten Wortsinn schreiben, mit so wenigen Sätzen ein Gedankengebäude
vernichten und mit ebenso wenigen eines errichten können. Seite für
Seite spürt man den durchgebildeten Kenner, der sich seiner Aberlegenheit
bewußt ist, aber auch den „Sokratiker", der weiß, wieviel noch zu erarbeiten
ist. Leicht lesbar ist ein solches Buch natürlich nicht; noch weniger zielt
es aus Unterhaltung oder Erbauung des Lesers. Dafür hat es eine gewisse
Macht, ihn geistig zu kräftigen. Letztlich liegt etwas vom tzauche dieses
Satzes über ihm: Der Europäer des zwanzigsten Iahrhunderts ist davor
bewahrt, eine Tendenz aus der Wissenschaft herauszulesen, die seine Tat-
kraft hemmen müßte. „Er kämpft, weil er für dieses Leben glaubt und
hofft" (S. 38(). Geistige Freiheit und Weltblickklarheit, das ist es, was
das Werk auch dem tzeute zu spenden vermag.

Aber man mag Techets Schrift auch noch aus einem ganz andern Ge-
sichtwinkel ansehn. Ein ungemein großer Teil der politisch wirksamen
wissenschaftlichen Schriftsteller läuft Gefahr, mehr zu behaupten, als sich
auch nur annähernd beweisen läßt. Bun soll gewiß an und für sich nicht
nur ausgesprochen werden, was „beweisbar" ist; an solcher Aberstrenge
würde das geistige Leben veröden. Aber es wäre zu wünschen, daß die Ver-
fasser das Unterscheiden zwischen Meinungen und Fest-
stellungen nicht gar so oft und in so weitem Maße der Kritik überließen.
Ie öfter das geschieht, um so höher steigt der relative Wert eines Buches
wie des Techetschen, das erinnert: „auf diesem Gebiete liegt die Grenze
des Wißbaren gegen das bloß Vermutete hier."

Als Gegenbeispiel mögen I. I. Ruedorffers „Grundzüge der Welt-
politik" genannt sein, ein Werk, das schon durch seinen Titel jetzt viele
anlocken mag. Wenn irgendwo, so hoffen sie hier das Dunkel durchleuchtet,
aus dem der Krieg hervorbrach. Vielen mag es auch noch nach dem Lesen
so scheinen. Denn Ruedorffers tzypothesen treten mit einem Anschein
letztgültiger Durchdachtheit auf, als ob die Weltgeschichte selbst nur eben
diese Möglichkeiten der Erläuterung zulasse. Ein geschmackloses Buch ist
trotzdem nicht entstanden; Ruedorffers tzypothesen stützen sich nicht nur
auf Ruedorffers Einbildung, aber allerdings bestehen sie mehr durch ihre
 
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