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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 6.1900

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Heft 9 (Juni)
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Becker, Marie L.: Formen-Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.6696#0174

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448 Marie Luise Becker: Formen-Sprache.

MANUEL WIELANDT—KARLSRUHE.

-»Sonniger Strand*.. Oelgemälde.

loses Nachahmen schöner, klassischer Motive,
deren symbolische Bedeutung uns fremd
geworden, führte zu einer jämmerlichen
Verflachung nicht allein unseres Schaffens
— auch unseres Empfindens. Jedes kleinste
Gebrauchs-Stück — in schlichter Form ruhig
und zweckentsprechend — trug einen Orna-
menten-Wust, der unverstanden, falsch ange-
wendet und vergewaltigt war. Diese Orna-
mente erfreuten uns nicht, — sie waren uns
fremd und Hessen uns kalt — wie die ara-
bischen Sinnsprüche im Mittelalter, die un-
verstanden, verbogen und stilisirt, als Orna-
ment, als »Arabeske« wiedergegeben — oder
gar von Kirchenfürsten, eingemalt und ein-
gestickt auf dem Goldgewande, bei der
Prozession getragen wurden! Haben es die
christlichen Heiligen denn gar nicht übel
genommen, dass dort auf dem Bischofs-
gewande in hundertmaliger Wiederholung zu
lesen war: »Ehre und Ruhm dem Sultan!«?

Und das ist die Kraft des Neuen, das
das heutige Kunstgewerbe uns brachte mit

all' seinen Schroffheiten und all' seinen
jugendfrischen Härten: wir verstehen seine
Sprache! Wir verstehen die jubelnde, kraft-
bewusste Freude, die die aufstrebende Knospe
beseelt, die Blüthe verstehen wir, die ihren
Kelch sehnsüchtig, glücksdurstig der Sonne
öffnete: wir verstehen die Heimath!

Die Sprache unserer Thiere — die
Sprache unserer Blumen, die müssen wir
beachten! — Die alten Inder forschten nach
ihr, auch die alten Aegypter. Ihre Kunst-
formen reden — jede Farbe, jede Linie ist
ihnen Symbol gewesen. Das Blatt des
heiligen Baumes an den fernen Ufern des
Euphrat, es ward zum Symbol des innigsten
Glaubens in dem verschwiegenen Gottes-
dienst —; es ward das Symbol des Ruhmes,
das Palmata-Muster auf den Festgewändern
der Griechen und Römer, und wir ahmen
es nach, tausend, tausend Mal, aber es hat
für uns durch die Jahrhunderte seine Sprache
verloren. Wir nennen sie Palmaten- und
Renaissance - Arabesken; wir kopiren und
 
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