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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 6.1900

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Heft 9 (Juni)
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Becker, Marie L.: Formen-Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.6696#0176

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Marie Luise Becker: Formen-Sprache.

MANUEL WIELANDT—KARLSRUHE.

i>Ein November-Tag auf den Lagunen«.

imitiren sie — sie aber sprechen nicht mehr
zu uns; denn sie sind fremde Kinder fremder
Zonen, unserem Kunstschaffen aufgepflanzt,
ohne aus uns geboren zu sein, tausend,
tausend Jahre älter als wir.

Als in der Mitte dieses Jahrhunderts
die assyrischen Kolosse in Mesopotamien
ausgegraben wurden, da fanden sich so
manche Aufschlüsse über die Bedeutung
der Thier-Ornamente und ihre Anwendung
auf den Alabaster-Reliefs im Palaste des
Königs Assur - Nassiipal erläuterte uns zu-
gleich ihre Bedeutung im Alterthum. Wir
durften auf den Trümmern von Babylon die
Sprache wieder lernen, die uns verloren
gegangen — das tönende Bibel-Wort von
den verklärten, Gott gesandten Thieren, die
mit Menschen-Zungen sprachen, — wir lernten
es versehen! Auch in der muhamedanischen
Symbolik repräsentirt der schreitende Löwe
den Herrscher, den Usurpator, den Sultan.
Die christliche Kirche übertrug mit dieser
Herrscherwürde zugleich das Löwensymbol
auf Christus, den »Löwen vom Stamme

Juda«. Dies war keine unberechtigte Ver-
gewaltigung; besitzen doch die Muhame-
daner und Christen die Psalmen Davids!
Ist doch die genialste Formensprache dieses
blühenden, orientalischen Geistes ihnen und
uns für die Religion und mit ihr gemein-
sam für unser Kunstschaffen befruchtend
gewesen und wird es noch bleiben!

Der Kreuzritter brachte die Thierformen
des Orientes heim und pflanzte sie in sein
Wappen und aus diesem Wappen grüssen
sie uns noch heute — deutsch verkleidet,
im Laufe der Jahre durch alle Stilformen
verschoben und vermodelt und doch die
altorientalische Poesie!

Auf den Trümmern von Babylon, das
Alexander der Grosse zerstörte, wuchs ein
Jahrhundert später noch eine mächtige Stadt
empor: Ktesiphon, die Hauptstadt der Sassa-
niden. Und von hier aus sollte noch einmal
ein Strom orientalischen Reichthums aus-
gehen. Hier wurzelten die kunstvollsten
Techniken auf einer genialen Beherrschung
des Flach-Ornamentes, einem phantasiereichen
 
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