Ernst Moritz Geyger.
393
FRAU IDA GEYGER, MUTTER DES KÜNSTLERS. I9OI.
(FLORENTINER TERRACOTTA, LEBENSGRÖSSE).
sönlichen Erlebnissen zu finden, doch es ist
hier nicht Ort und Raum für weitere Aus-
malung dieses eigenartig ergreifenden Motivs.
Auf dem ersten Spiegel sehen wir den Ideal-
Menschen in seiner reinen und herrlichsten
Jugendschönheit, der das Weib seiner An-
betung hoch über das Irdische emporhebt
und dieses Weib ist von mehr als faszi-
nierendem Liebreiz; in der winzig kleinen
Form ist eine ganze Welt von Sinnenrausch
Und heissblütigem Begehren und seliger
Hingabe verkörpert. Auf dem zweiten
Spiegel führen des Meeres und der Liebe
Wellen von der Idealhöhe hinab in die
schlammigen Tiefen von Sünde, Schuld und
Tod. Von dem Fuss über den Ständer bis
zum Kristallrand empor ranken die starren,
glitschigen Algen, auf einer mächtigen, aber
schwanken Woge taumelt das Glück der
Liebe, und in dem Augenblick, wo die Frau
die Herrschaft über den Mann erlangt und
mit kaltem Hohnlächeln ihm das Kleinod
entreisst, ist das Ende da. Es sinken Mann
und Weib ins Bodenlose. Wird der Mann
in der Muschel gleichsam in einem Ehren-
Sarkophag gebettet, versinkt das Weib in
die tiefste Tiefe....
Nun endlich treten wir ein in den Kreis
der Bildwerke der grossen Gestaltung. Ver-
folgen wir die Lebensläufe der grossen
Meister, der Donatello, Michelangelo, Rem-
brandt, so sehen wir allemal eine folgerichtige
Entwickelung aus der kleinen in die grosse
Form, aus dem Anmutigen ins Strenge, aus
dem erprobenden Spiel der jugendlichen
Kräfte in den gewaltigen Wurf hoch-
gesteigerten Wollens und Könnens. Wie
Geyger fast unbewusst, allein dem Empfinden
folgend, sich von Stufe zu Stufe aufwärts
arbeitet, das mutet beinahe wie ein Werk
der Vorsehung an. Als der Künstler sofort
nach Vollendung der graphischen Meisterwerke
seinen Ehrgeiz auf einen grossen plastischen
Wurf setzte, entstand im Jahre 1895 der
Bogenschütz von Sans-Souci. Bei all der
peinlich sorgsamen Kleinarbeit lebt in jenen
beiden Blättern doch ein grosser Schaffens-
BEGEISTERUNG PLAKETTE, (STAATS-BESITZ). I 894.
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FRAU IDA GEYGER, MUTTER DES KÜNSTLERS. I9OI.
(FLORENTINER TERRACOTTA, LEBENSGRÖSSE).
sönlichen Erlebnissen zu finden, doch es ist
hier nicht Ort und Raum für weitere Aus-
malung dieses eigenartig ergreifenden Motivs.
Auf dem ersten Spiegel sehen wir den Ideal-
Menschen in seiner reinen und herrlichsten
Jugendschönheit, der das Weib seiner An-
betung hoch über das Irdische emporhebt
und dieses Weib ist von mehr als faszi-
nierendem Liebreiz; in der winzig kleinen
Form ist eine ganze Welt von Sinnenrausch
Und heissblütigem Begehren und seliger
Hingabe verkörpert. Auf dem zweiten
Spiegel führen des Meeres und der Liebe
Wellen von der Idealhöhe hinab in die
schlammigen Tiefen von Sünde, Schuld und
Tod. Von dem Fuss über den Ständer bis
zum Kristallrand empor ranken die starren,
glitschigen Algen, auf einer mächtigen, aber
schwanken Woge taumelt das Glück der
Liebe, und in dem Augenblick, wo die Frau
die Herrschaft über den Mann erlangt und
mit kaltem Hohnlächeln ihm das Kleinod
entreisst, ist das Ende da. Es sinken Mann
und Weib ins Bodenlose. Wird der Mann
in der Muschel gleichsam in einem Ehren-
Sarkophag gebettet, versinkt das Weib in
die tiefste Tiefe....
Nun endlich treten wir ein in den Kreis
der Bildwerke der grossen Gestaltung. Ver-
folgen wir die Lebensläufe der grossen
Meister, der Donatello, Michelangelo, Rem-
brandt, so sehen wir allemal eine folgerichtige
Entwickelung aus der kleinen in die grosse
Form, aus dem Anmutigen ins Strenge, aus
dem erprobenden Spiel der jugendlichen
Kräfte in den gewaltigen Wurf hoch-
gesteigerten Wollens und Könnens. Wie
Geyger fast unbewusst, allein dem Empfinden
folgend, sich von Stufe zu Stufe aufwärts
arbeitet, das mutet beinahe wie ein Werk
der Vorsehung an. Als der Künstler sofort
nach Vollendung der graphischen Meisterwerke
seinen Ehrgeiz auf einen grossen plastischen
Wurf setzte, entstand im Jahre 1895 der
Bogenschütz von Sans-Souci. Bei all der
peinlich sorgsamen Kleinarbeit lebt in jenen
beiden Blättern doch ein grosser Schaffens-
BEGEISTERUNG PLAKETTE, (STAATS-BESITZ). I 894.