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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 15.1904-1905

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Michel, Wilhelm: Zur Ästhetik der Illustration
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https://doi.org/10.11588/diglit.7137#0373

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Wilhelm Michel: Zur Ästhetik der Illustration.

Prinzips wird sich nirgends schlimmer rächen
als bei der Illustration.

Drittens muss die Illustration strengstens
pointieren und die Aufmerksamkeit gerades
Weges auf den einen Punkt hinleiten, der
das belebende Herz der Situation bildet und
in dem gleichsam alle Linien des Bildes
wie in einem Brennpunkte zusammenlaufen.
Es gibt meisterhafte Blätter von Th.Th.Heine,
in denen diese Aufgabe eine treffliche Lösung
erfährt. Wenn er in einer satyrischen Dar-
stellung einen kleinen Pinscher in eine
Schwurgerichts-Verhandlung bringt: wie
wundervoll hebt sich da der winzige Gegen-
stand aus dem Ganzen heraus, wie unmittel-
bar fällt er ins Auge, ohne ein Übersehen
zu gestatten! Alle Tendenzen des Bildes
leiten schnurstracks auf den Knirps zu und
heben ihn wie mit tausend Armen stark aus
seiner Umgebung hervor. Dagegen schwebt
mir eine andere Illustration vor, in deren
Mittelpunkt nach den Intentionen des Textes
ein — Spatz steht. Wenn er auch etwa
zum Fünffachen seiner natürlichen Grösse
aufgeblasen ist, so erdrückt ihn doch das
schwere reiche Milieu so völlig, dass er, die
Hauptperson, nur als beiläufiger Schnörkel,
als belanglose Nebensache im Bilde steht.
Fehler dieser Art wird man selbst in den
besten Illustrationen nicht selten antreffen.
Der internationale Naturalismus hat den
Künstlern das »Literarische« offenbar so
gründlich ausgetrieben, dass sie sich nur
selten darauf besinnen können.

Eine vierte Forderung ergibt sich aus
der speziellen Eigenart der Illustration, aus
ihrer Verbindung mit einem Texte.

Der Künstler hat den vollständigen Text
— es sei ein Märchen, ein Gedicht, ein
Roman-Kapitel — vor sich und stellt sich
(denn das heisst illustrieren) die Aufgabe,
das mit Worten Gestaltete nun seinerseits im
Bilde zu gestalten. Daraus folgt, dass er
sich nicht an untergeordnete, nebensächliche
Situationen halten darf, sondern dass er die
prägnantesten, lebendigsten Momente des
Ganzen, seine Höhepunkte heranziehen muss,
um sich von ihnen zu seiner Arbeit anregen
zu lassen. Die Verlegenheits-Auskunft, sich
mit einigen neckischen Zierleisten, einer

hübschen Vignette oder ein paar nichts-
sagenden Blumenschnörkeln aus der Affäre
zu ziehen, steht leider heute noch sehr im
Schwünge, widerstreitet jedoch dem Wesen
der Illustration in jeder Hinsicht. Allzu
häufig sieht man auch den Illustrator ins
Gebiet der Landschaft echappieren unter dem
Vorwande, dass der Text auch landschaft-
liche Motive bringe. Demgegenüber sollte
nicht vergessen werden, dass eine Landschaft
nur in den allerseltensten Fällen wirklich
illustriert. Selbst da, wo es sich um einen
Text handelt, der nur den Stimmungsgehalt
der Natur ausschöpft, ein Gedicht von Eichen-
dorff oder Lenau, selbst da wird sich der
Illustrator fragen müssen, ob er nicht in
einer figürlichen Darstellung die Essenz des
Textes sprechender, überzeugender wieder-
geben kann, als mit dem armen Mittel einer
Landschaftsskizze. Die Illustration ist ja be-
rufen, zu gestalten, den Text bildmäßig
umzusetzen; dazu aber eignet sich die stumme,
gleichsam sprachlose Landschaft viel weniger
als die vielsagende und unter allen Um-
ständen unser Herz tief berührende Gestalt
des Menschen. Als vollwertige Schwester-
kunst will die Illustration neben das ge-
schriebene Wort treten und darf daher nicht
mit leeren Händen kommen und einfach das
Motiv her plappern, aus dem der Dichter
erst seine Eindrücke geholt hat. Selbst in
einem Naturgedicht gibt der Poet nicht etwa
die Landschaft, er gibt auf dem Umwege
über einen starken Einführungsprozess immer
nur sich selbst; und dieses persönliche Ele-
ment wird der Illustrator aufgreifen und
nun seinerseits mit der ganzen Fülle seiner
Gestaltungskraft darstellen müssen.

Was ich in diesem Sinne Echtheit der
Gestaltung nennen möchte, finde ich in
manchen Blättern des Münchner Fritz Erler
geradezu exemplarisch erklärt. Dem reichen
Gedichte Goethes, welches mit den Worten
beginnt:

O gib vom weichen Pfühle
Träumend ein halb Gehör!
Bei meinem Saitenspiele
Schlafe! Was willst du mehr?

zieht er mit echter schöpferischer Kühnheit
seinen Stimmungsgehalt ab, er dichtet es in
die Sprache des Zeichners um und setzt es

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