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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 15.1904-1905

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Michel, Wilhelm: Zur Ästhetik der Illustration
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https://doi.org/10.11588/diglit.7137#0374

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Wilhelm Michel: Zur Ästhetik der Illustration.

unter eine »Illustration«, die von der tat-
sächlichen Situation des Gedichtes nicht das
mindeste beibehält. Aber die künstlerische
Essenz des Liedes, das, was dem Gedichte
die Daseinsberechtigung gibt, hat er restlos
geborgen; er hat es aus der fremden Sphäre
des Wortes in die Bildtafel hinübergerettet
und ihm sogar einen Namen gegeben: Me-
lancholie. Von demselben Künstler gibt es
hervorragende Umdichtungen musikalischer
Motive, die, wie ähnliche Arbeiten Max
Klingers, die künstlerische Essenz der Vor-
lage durch die dunklen Gänge einer ener-
gischen Gestaltungskraft hindurchführen und
die formlosen Töne schliesslich als stark-
bewegte Menschen- und Tiergestalten wieder
ans Tageslicht treten lassen.

Nur auf diese Weise wird die Illustration
zur freien, höchsten Kunst. Nur dann, wenn
sie ihren Bereich eifersüchtig festhält und
den Text, zu dem sie geschaffen, energisch,
aber nicht buchstäblich für ihre Zwecke
ausbeutet, tritt sie selbständig neben das
geschriebene Wort, um mit ihm ein drittes
zu zeugen: das Illustrationswerk.

Eine letzte Forderung versteht sich mehr
als die übrigen von selbst, möge aber aus
Gründen der Vollständigkeit hier noch ihren
Platz finden. Die letzten Ausführungen
haben gezeigt, dass es bei der Illustration
nicht auf ein blosses Nacherzählen des Textes
ankommt, sondern auf freie Ausbeutung des-
selben unter höchster Wahrung der künst-
lerischen Selbständigkeit. Nicht jeder Künst-
ler kann daher jeden Text illustrieren. Es
muss auch hier eine Auswahl stattfinden in
dem Sinne, dass nur verwandte oder sich
ergänzende Naturen beim Illustrationswerke
mit Erfolg zusammenwirken können.

Wenn man schliesslich in solcher Weise
die Schranken wie die Freiheiten der Illu-
strationskunst richtig abwägt, wird sich ohne
weiteres die Einsicht einstellen, dass es sehr
verkehrt ist, die Illustration als eine Art
Kunstgewerbe, als angewandte Kunst im
herabwürdigenden Sinne dieses Wortes an-
zusehen. Den höchsten Ansprüchen der
Illustration vermag in der Tat nur eine sehr
ungebundene, im tiefsten Sinne geniale Ge-
staltungskraft völlig zu genügen, w. michel.
 
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