Die Angst um die Kunst.
PROFESSOR EMANUEL V. SEIDL MÜNCHEN. »GÄRTNEREI« ZUM HAUSE HUGO SCHÖLLER - DÜREN.
Jahren hervorgegangen, bis zum Zarathustra.
Fontane war voll in der Arbeit, sein Roman
„Vor dem Sturm" wurde damals geschrieben.
Damals entstand „Auch Einer" von Vischer.
Damals entstanden die Meisterwerke Anzen-
grubers: 1872 brachte den „Pfarrer von Kirch-
feld", den „Meineidbauer", die „Kreuzelschrei-
ber", 1874 brachte den „G'wissenswurm". Da-
mals entstanden die schönen Altersnovellen
von Theodor Storm, seine Gedenkblätter, und
„Aquis submersus". Damals entstanden (um
auch die Schweizer mitzunennen) die „Züricher
Novellen" und das „Sinngedicht" von Gottfried
Keller, und Conrad Ferdinand Meyer wurde
durch den Krieg eigentlich erst zum Dichter,
wie er selbst gestanden. Und noch lange nicht
genug: Freytag vollbrachte in diesem Jahrzehnt
seine große Romanreihe „Die Ahnen". Ranke
und Treitschke schrieben ihr Bedeutendstes,
Fechner seine „Vorschule der Ästhetik", Grimm
seine „Vorlesungen über Goethe". Soll man
endlich noch davon sprechen, daß sich die Re-
volution des Naturalismus damals schon vor-
bereitete, daß ihre Vorkämpfer schon daran
waren, auf den Plan zu treten?
Wie verhält es sich aber zu gleicher Zeit mit
der bildenden Kunst? Nun, es wird nicht über-
trieben sein, wenn man von einem Höhepunkt
der Kunst nach 1870 spricht. Sie erlebte da-
mals ihre Loslösung aus aller Tradition, sie
befreite sich von der berüchtigten braunen
„Sauce", sie wagte den Schritt vom Atelier in
die Freiluft, und sie nahm — man bedenke
doch! — mit hungerndem Herzen alle Errungen-
schaften der Franzosen auf. Der große kleine
Menzel ließ damals seine Historienmalerei hinter
sich, mit einem Mal erschien ihm die Friederi-
zianische Zeit, der er Jahre gewidmet, nicht
mehr wichtig genug und er warf sich wie einer,
dem eine Offenbarung wurde, in die neue, große,
berauschende Gegenwart. 1875 entsteht sein
„Eisenwalzwerk", eines der Haupt-Werke der
neuzeitlichen Kunst, nachdem er vorher die
„Krönung in Königsberg" und die „Ballpause"
vollendet hatte. In diesen Jahren aber wacht
der ganze Leibi auf, in diesen Jahren vollzieht
sich seine Übersiedelung nach Grasslfing, ent-
stehn die „Dachauerinnen". (Würde dies allein
nicht schon genügen, um ein Jahrzehnt unver-
geßlich zu machen?) Aber noch lange nicht
genug: Hans Thoma malt seine feinsten Schwarz-
wald- und Rheinlandschaften, welche, von allem
Kriegerischen fern, die tiefe Stille der deutschen
Welt wiedergeben. Im Jahre 1873 siedeln sich
Hildebrand, Marees und Konrad Fiedler in
Florenz an, in dem alten Bau von San Fran-
cesco di Paolo, und entwickeln jene Anschauung
der Kunst, welche für den Deutschen immer
das höchste Ziel, aber auch das unerreichbarste,
bleiben sollten. Endlich aber beginnt der neue
Naturalismus schon seine Vorstöße, einige Jahre
früher als die Literatur: Liebermanns „Gänse-
rupferinnen" entstehen 1873, bald darnach die
„Konservenmacherinnen"und damit eine Kunst,
PROFESSOR EMANUEL V. SEIDL MÜNCHEN. »GÄRTNEREI« ZUM HAUSE HUGO SCHÖLLER - DÜREN.
Jahren hervorgegangen, bis zum Zarathustra.
Fontane war voll in der Arbeit, sein Roman
„Vor dem Sturm" wurde damals geschrieben.
Damals entstand „Auch Einer" von Vischer.
Damals entstanden die Meisterwerke Anzen-
grubers: 1872 brachte den „Pfarrer von Kirch-
feld", den „Meineidbauer", die „Kreuzelschrei-
ber", 1874 brachte den „G'wissenswurm". Da-
mals entstanden die schönen Altersnovellen
von Theodor Storm, seine Gedenkblätter, und
„Aquis submersus". Damals entstanden (um
auch die Schweizer mitzunennen) die „Züricher
Novellen" und das „Sinngedicht" von Gottfried
Keller, und Conrad Ferdinand Meyer wurde
durch den Krieg eigentlich erst zum Dichter,
wie er selbst gestanden. Und noch lange nicht
genug: Freytag vollbrachte in diesem Jahrzehnt
seine große Romanreihe „Die Ahnen". Ranke
und Treitschke schrieben ihr Bedeutendstes,
Fechner seine „Vorschule der Ästhetik", Grimm
seine „Vorlesungen über Goethe". Soll man
endlich noch davon sprechen, daß sich die Re-
volution des Naturalismus damals schon vor-
bereitete, daß ihre Vorkämpfer schon daran
waren, auf den Plan zu treten?
Wie verhält es sich aber zu gleicher Zeit mit
der bildenden Kunst? Nun, es wird nicht über-
trieben sein, wenn man von einem Höhepunkt
der Kunst nach 1870 spricht. Sie erlebte da-
mals ihre Loslösung aus aller Tradition, sie
befreite sich von der berüchtigten braunen
„Sauce", sie wagte den Schritt vom Atelier in
die Freiluft, und sie nahm — man bedenke
doch! — mit hungerndem Herzen alle Errungen-
schaften der Franzosen auf. Der große kleine
Menzel ließ damals seine Historienmalerei hinter
sich, mit einem Mal erschien ihm die Friederi-
zianische Zeit, der er Jahre gewidmet, nicht
mehr wichtig genug und er warf sich wie einer,
dem eine Offenbarung wurde, in die neue, große,
berauschende Gegenwart. 1875 entsteht sein
„Eisenwalzwerk", eines der Haupt-Werke der
neuzeitlichen Kunst, nachdem er vorher die
„Krönung in Königsberg" und die „Ballpause"
vollendet hatte. In diesen Jahren aber wacht
der ganze Leibi auf, in diesen Jahren vollzieht
sich seine Übersiedelung nach Grasslfing, ent-
stehn die „Dachauerinnen". (Würde dies allein
nicht schon genügen, um ein Jahrzehnt unver-
geßlich zu machen?) Aber noch lange nicht
genug: Hans Thoma malt seine feinsten Schwarz-
wald- und Rheinlandschaften, welche, von allem
Kriegerischen fern, die tiefe Stille der deutschen
Welt wiedergeben. Im Jahre 1873 siedeln sich
Hildebrand, Marees und Konrad Fiedler in
Florenz an, in dem alten Bau von San Fran-
cesco di Paolo, und entwickeln jene Anschauung
der Kunst, welche für den Deutschen immer
das höchste Ziel, aber auch das unerreichbarste,
bleiben sollten. Endlich aber beginnt der neue
Naturalismus schon seine Vorstöße, einige Jahre
früher als die Literatur: Liebermanns „Gänse-
rupferinnen" entstehen 1873, bald darnach die
„Konservenmacherinnen"und damit eine Kunst,