LOTTE NICKLASS- -BERLIN. SCHERENSCHNITT. ILLUSTRATION »TAUSENDUNDEINE NACHT« (l/l GRÖSSE) PRIVATBESITZ.
LOTTE NICKLASS, EINE NEUE SCHWARZKÜNSTLERIN.
VON HANS SCHLTEPMANN.
Die Wege der Kunst sind wunderlich; einen
geradlinigen, zielbewußten Verlauf hat
vielleicht nur die griechische Plastik genommen,
weil sie einem ganz einhelligen Volksempfinden
entsprach. Annähernd gleich geradlinigen
Verlauf zeigt noch die ansteigende Entwicklung
der Gotik und der niederländischen Malerei
aus gleichen Gründen. So bald aber im Völker-
leben verschiedene Strömungen auftreten, wech-
selt auch der Kunstverlauf die Richtung je nach
dem Vorwiegen dieser und jener Rasse und
nach dem Einfluß eines oder des anderen Genies,
dem es gelang, Zeitspannungen zur Auslösung
zu bringen. So ward die spätrömische Kunst
durch das Eindringen asiatischen Einflusses,
die niederländische durch italienische Auffas-
sung in neue Bahnen abgelenkt; so übten Vrede-
mann de Vries, der Erfinder des Schnörkelwer-
kes im Ornament, Michelangelo und Gluck,
neuerdings Manet, Richard Wagner, Zola, Wal-
ter Crane, Eckmann und Olbrich einen kaum
vorherbestimmbaren Einfluß auf die Kunstent-
wicklung aus. Je mehr sich die Kunst „inter-
nationalisierte", desto weniger konnte sie be-
stimmten völkischen Strömungen folgen, desto
weniger auch blieb die Kunst Ausdruck des
Volksempfindens, desto mehr mußte an Stelle
einer gefühlten Kunst die Mode treten, die,
jeder Verinnerlichung feind, nur immer wieder
nach neuen Reizmitteln sucht. Da aber Erfin-
dung für ihren Heißhunger nicht genug liefern
kann, so muß das „Einfühlen" in halb ver-
gessene Künste die Vorräte „sirecken" helfen;
darum kam man uns mit Japanisch, Indisch usw.
und gar mit dem Primitiven, das in Baukunst
und Bildnerei allgemach zu einem wahren
Hohn auf unsere leichtgläubige Geschmack-
losigkeit geworden ist.
So brachte uns denn auch die modische
Schwärmerei für das Biedermeier die Wieder-
kehr des Schattenschnittes. Das goldene Rähm-
chen mit Großvätern als Student und als schwar-
zes Klexchen durfte an der Wand des stilvollen
Zimmers nicht fehlen. Daß es einst nur ein
spärlicher Behelf gewesen, kam gar nicht ins
Bewußtsein; es sah so „echt" aus: das war
der Ersatz für fehlendes Kunstempfinden.
War nun aber die Wiederbelebung der Sil-
houette zunächst nur eine „antiquarische Ma-
rotte", so zeigte sich doch auch hier, daß kein
Ding ganz schlecht und nutzlos ist. „Denen,
die Gott lieben, müssen alle Dinge zum besten
dienen"; und da auch rechte Kunst ein Teil der
Gottheit ist, so entsprang für der Kunst rechte
Jünger auch hier ein neuer, wenn auch nicht
überwältigender, so doch immerhin befruch-
tender Lebensquell. Was für die Menge bloße
Mode war und zunächst in der Wiederent-
XIX. März 1916. 3
LOTTE NICKLASS, EINE NEUE SCHWARZKÜNSTLERIN.
VON HANS SCHLTEPMANN.
Die Wege der Kunst sind wunderlich; einen
geradlinigen, zielbewußten Verlauf hat
vielleicht nur die griechische Plastik genommen,
weil sie einem ganz einhelligen Volksempfinden
entsprach. Annähernd gleich geradlinigen
Verlauf zeigt noch die ansteigende Entwicklung
der Gotik und der niederländischen Malerei
aus gleichen Gründen. So bald aber im Völker-
leben verschiedene Strömungen auftreten, wech-
selt auch der Kunstverlauf die Richtung je nach
dem Vorwiegen dieser und jener Rasse und
nach dem Einfluß eines oder des anderen Genies,
dem es gelang, Zeitspannungen zur Auslösung
zu bringen. So ward die spätrömische Kunst
durch das Eindringen asiatischen Einflusses,
die niederländische durch italienische Auffas-
sung in neue Bahnen abgelenkt; so übten Vrede-
mann de Vries, der Erfinder des Schnörkelwer-
kes im Ornament, Michelangelo und Gluck,
neuerdings Manet, Richard Wagner, Zola, Wal-
ter Crane, Eckmann und Olbrich einen kaum
vorherbestimmbaren Einfluß auf die Kunstent-
wicklung aus. Je mehr sich die Kunst „inter-
nationalisierte", desto weniger konnte sie be-
stimmten völkischen Strömungen folgen, desto
weniger auch blieb die Kunst Ausdruck des
Volksempfindens, desto mehr mußte an Stelle
einer gefühlten Kunst die Mode treten, die,
jeder Verinnerlichung feind, nur immer wieder
nach neuen Reizmitteln sucht. Da aber Erfin-
dung für ihren Heißhunger nicht genug liefern
kann, so muß das „Einfühlen" in halb ver-
gessene Künste die Vorräte „sirecken" helfen;
darum kam man uns mit Japanisch, Indisch usw.
und gar mit dem Primitiven, das in Baukunst
und Bildnerei allgemach zu einem wahren
Hohn auf unsere leichtgläubige Geschmack-
losigkeit geworden ist.
So brachte uns denn auch die modische
Schwärmerei für das Biedermeier die Wieder-
kehr des Schattenschnittes. Das goldene Rähm-
chen mit Großvätern als Student und als schwar-
zes Klexchen durfte an der Wand des stilvollen
Zimmers nicht fehlen. Daß es einst nur ein
spärlicher Behelf gewesen, kam gar nicht ins
Bewußtsein; es sah so „echt" aus: das war
der Ersatz für fehlendes Kunstempfinden.
War nun aber die Wiederbelebung der Sil-
houette zunächst nur eine „antiquarische Ma-
rotte", so zeigte sich doch auch hier, daß kein
Ding ganz schlecht und nutzlos ist. „Denen,
die Gott lieben, müssen alle Dinge zum besten
dienen"; und da auch rechte Kunst ein Teil der
Gottheit ist, so entsprang für der Kunst rechte
Jünger auch hier ein neuer, wenn auch nicht
überwältigender, so doch immerhin befruch-
tender Lebensquell. Was für die Menge bloße
Mode war und zunächst in der Wiederent-
XIX. März 1916. 3