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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 37.1915-1916

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Schliepmann, Hans: Lotte Nicklass, eine neue Schwarzkünstlerin
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https://doi.org/10.11588/diglit.8533#0456

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Lotte Nicklaß, eine neue Schwarzkünstlerin.

LOTTE NICKLASS -BERLIN. SCHERENSCHNITT »FLUCHT NACH ÄGYPTEN«

deckung der feinen Kunst Fröhlichs und Konew-
kas einen ersten Kunstgewinn brachte, ward
in der Logik der Tatsachen ein Fortschritt im
Kunstverständnis, der zuletzt auch der Kunst-
entwicklung förderlich sein muß.

Vergegenwärtigen wir uns nämlich, wo letz-
tere unter dem Einfluß des modernen Kunst-
betriebes angelangt war, so bleibt für den Ein-
sichtigen nur das Zugeständnis, daß dank eines
endlosen Kunstgeschwätzes in den Zeitungen,
einer planlosen Neuigkeitsjagd, einer Überfüt-
terung mit immer wüsteren „Ismen" unter blö-
der Überschätzung des Auslandes alle maßvolle
und innerliche Kunst jeden Kredit verloren,
ja, daß man den Geschmack des Volkes ge-
radezu planvoll zugrunde gerichtet hatte, um
in Tagesgötzen ein besseres Geschäft machen
zu können. Wer noch ein „Bild" malte, war
veraltet; nur die möglichst wüste Skizze ver-
riet Genie. Dabei konnte man denn schließlich
die Qualitäten der klassischen Meister: das
Miteinander von Linie, Farbe, Raumaus-
schnitt und Aufbau gar nicht mehr sehen, ge-
schweige denn schätzen. Daher auch der „Pri-
mitivismus"; man kehrte zu den Anfangsgrün-
den zurück, um von neuem einen nach dem
anderen die Reize eines richtigen Bildes wieder
fühlen zu lernen. Lange galten alle Mühen nur
der Farbe, über der die bildhafte Komposition
völlig vernachlässigt wurde; im Schwarz-weiß-
blatt tobte sich eine Phantastik aus, der oft
wirkliche Phantasie fast ebenso gebrach wie
jede Ahnung von zeichnerischem Können. Da
hat nun die Kunst der Schere eine Erziehungs-

aufgabe zum Kunstsehen übernommen, die für
unsere Zeit und die Gesundung unseres Ge-
schmackes nicht hoch genug einzuschätzen ist.
Hier hilft kein geniales „Fummeln", kein Halb-
ton über faulen Stellen, keine Farbenfanfare:
alles will gekonnt und auf das Ganze zuge-
schnitten sein. So bringt uns denn der Genuß
einer Silhouette wieder zum Verständnis für
Linie und Raumfüllung und Massenabwägung
in der Komposition; das Schattenbild wird zur
nötigsten Vorstufe in der künftigen Erziehung
unseres Geschmacks, wie es für den Künstler
eine heilsamste Zucht zu wirklicher Arbeit wer-
den könnte. —

Die junge Künstlerin, die mich zu diesen all-
gemeinen und vielleicht nicht überflüssigen Be-
trachtungen anregte, zeigt freilich, daß natür-
liche Begabung und Ernst sich selbst in gute
Zucht nehmen. Ja, ich darf sagen, daß ich noch
kaum einmal so unter dem Staunen über ein
geborenes Genie gestanden habe wie bei dem
Schaffen von Lotte Nicklaß, das ich fast von
Anbeginn still zu beobachten Gelegenheit hatte.
Denn Lotte Nicklaß ist von Hause — Vio-
linistin und hat nie anderen als den üblichen
Schulunterricht im Zeichnen erhalten. Eine
Erkrankung hatte eines Tages die Zweiund-
zwanzigjährige zu wochenlangem Stilliegen ver-
urteilt; die Langeweile zu töten, ließ sie sich
eine Stickschere geben und begann in weißem
Papier herumzuschneiden; und mit dem ersten
Versuch ward es etwas!

Kleinen zierlichen Püppchen folgten sehr bald
ganze figürliche Friese und daneben pflanzliche

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