KUNSTSINN.
Die Wieder-
geburt der schönen
Kunst setzt zwei
notwendige Erfor-
dernisse als vorläu-
fige Bedingungen
ihrer Möglichkeit
voraus. Das erste
derselben ist die
künstlerische Kraft.
Nicht das Genie des
Künstlers allein,
oder die erfindende
Kraft idealischer
Darstellung u. poe-
tischer Wirkung läß t
sich weder erwer-
ben noch ersetzen.
Es gibt auch eine
ursprüngliche
Naturgabe des
echten Kenners,
welche zwar, wenn
sie schon vorhan-
den ist, vielfach ge-
bildet, wo sie aber
mangelt, durch kei-
ne Bildung ersetzt
werden kann. Der
treffende Blick, der
sichere Takt; jene
höhere Reizbarkeit
des Gefühls, und
offene Regsamkeit
der Phantasie, las-
sen sich weder ler-
nen noch lehren.
Aberauch die glück-
lichste Anlage ist
weder zu einem
großen Künstler
noch zu einem gro-
ßen Kenner zurei-
chend. Ohne Stär-
ke und Umfang des
sittlichen Vermö-
gens, ohne Harmo-
nie des ganzen Ge-
müts, oder wenig-
stens ein durch-
gängiges Streben zu
derselben, wird nie-
mand in das Aller-
heiligste der Mu-
senkunst und des
Tempels der Schön-
El LDH AUER GEORG KOLBE—BERLIN. »GARTENFIGUR IN BRONZE«
heit gelangen kön-
nen. Daher ist das
zweite notwendige
Erfordernis für den
einzelnen Künstler
und Kenner wie für
die Masse des Zeit-
alters und der Na-
tion, bei welchen
die Kunst des Schö-
nen blühen soll, der
Adel des Cha-
rakters und einer
sittlicherhöhten
Stimmung. Der
richtige Kunstsinn,
könnte man sagen,
ist das gebildete
Gefühl eines sitt-
lich guten Gemüts.
Unmöglich kann
hingegen das Kunst-
gefühl eines schlech-
ten Menschen rich-
tig und mit sich
selbst einig sein.
Die Stoiker hatten
in dieser Rücksicht
nicht Unrecht zu
behaupten, daß nur
der Weise ein voll-
kommner Dichter
und Kenner sein
könne. Gewiß hat
der Mensch dasVer-
mögen, durch bloße
Freiheit die man-
nigfaltigen Kräfte
seines Gemüts zu
lenken und zu ord-
nen. Er wird also
auch seiner künst-
lerischen Anlage
und Kraft eine bes-
sere Richtung und
richtige Stimmung
erteilen können.
Nur muß er es wol-
len; und die Kraft,
es zu wollen, die
Selbständigkeit, bei
dem Entschluß zu
beharren, kann ihm
niemand mitteilen,
wenn er sie nicht
in sich selbst findet.
FRIEDRICH SCHLEGEL.
Die Wieder-
geburt der schönen
Kunst setzt zwei
notwendige Erfor-
dernisse als vorläu-
fige Bedingungen
ihrer Möglichkeit
voraus. Das erste
derselben ist die
künstlerische Kraft.
Nicht das Genie des
Künstlers allein,
oder die erfindende
Kraft idealischer
Darstellung u. poe-
tischer Wirkung läß t
sich weder erwer-
ben noch ersetzen.
Es gibt auch eine
ursprüngliche
Naturgabe des
echten Kenners,
welche zwar, wenn
sie schon vorhan-
den ist, vielfach ge-
bildet, wo sie aber
mangelt, durch kei-
ne Bildung ersetzt
werden kann. Der
treffende Blick, der
sichere Takt; jene
höhere Reizbarkeit
des Gefühls, und
offene Regsamkeit
der Phantasie, las-
sen sich weder ler-
nen noch lehren.
Aberauch die glück-
lichste Anlage ist
weder zu einem
großen Künstler
noch zu einem gro-
ßen Kenner zurei-
chend. Ohne Stär-
ke und Umfang des
sittlichen Vermö-
gens, ohne Harmo-
nie des ganzen Ge-
müts, oder wenig-
stens ein durch-
gängiges Streben zu
derselben, wird nie-
mand in das Aller-
heiligste der Mu-
senkunst und des
Tempels der Schön-
El LDH AUER GEORG KOLBE—BERLIN. »GARTENFIGUR IN BRONZE«
heit gelangen kön-
nen. Daher ist das
zweite notwendige
Erfordernis für den
einzelnen Künstler
und Kenner wie für
die Masse des Zeit-
alters und der Na-
tion, bei welchen
die Kunst des Schö-
nen blühen soll, der
Adel des Cha-
rakters und einer
sittlicherhöhten
Stimmung. Der
richtige Kunstsinn,
könnte man sagen,
ist das gebildete
Gefühl eines sitt-
lich guten Gemüts.
Unmöglich kann
hingegen das Kunst-
gefühl eines schlech-
ten Menschen rich-
tig und mit sich
selbst einig sein.
Die Stoiker hatten
in dieser Rücksicht
nicht Unrecht zu
behaupten, daß nur
der Weise ein voll-
kommner Dichter
und Kenner sein
könne. Gewiß hat
der Mensch dasVer-
mögen, durch bloße
Freiheit die man-
nigfaltigen Kräfte
seines Gemüts zu
lenken und zu ord-
nen. Er wird also
auch seiner künst-
lerischen Anlage
und Kraft eine bes-
sere Richtung und
richtige Stimmung
erteilen können.
Nur muß er es wol-
len; und die Kraft,
es zu wollen, die
Selbständigkeit, bei
dem Entschluß zu
beharren, kann ihm
niemand mitteilen,
wenn er sie nicht
in sich selbst findet.
FRIEDRICH SCHLEGEL.