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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 37.1915-1916

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Michel, Wilhelm: Kunst-Patriotismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.8533#0428

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Kunstpatriotismus.

Mensch wird ja schließlich auch nicht zum Fran-
zosen, wenn er sich an den trefflichen Erzeug-
nissen von Brie oder Roquefort erquickt. Bei-
spiele für die nationale Umwertung fremden
Kulturgutes liefert die Geschichte auf Schritt
und Tritt. Der Volksgeist kann zu seiner
Nahrung nur das Edelste und Zeitgemäßeste
gebrauchen. Er holt es sich, wo es eben vom
Geschick am üppigsten und reinsten ausgestreut
wurde. Was er daraus aufbaut, ist doch ewig
nur seine eigene Herrlichkeit.

Wenn man den Kunstpatrioten auf den Grund
geht, so wird man sehr häufig finden, daß sie
letzten Endes von der Kunst, von ihrer Würde
und von ihrer Geltung in wirklicher Welt keine
hohe Meinung haben. Daß Wissenschaft, Tech-
nik oder Handel den Fortschritt überall nehmen
müssen, wo er zu haben ist, das zu bestreiten
fällt ihnen nicht ein. Ist aber die Kunst nicht
im selben Sinne etwas Ernstes, Wirkliches,
gesetzmäßig sich bildend und dem Zugriff der
Willkür durchaus entzogen, wie die technischen

Dinge und die Erkenntnisse des Geistes? Wenn
Röntgen seine Strahlen entdeckt, so wird da-
durch im selben Augenblicke die ganze wissen-
schaftliche Welt von Pol zu Pol bereichert.
Wenn Kant die Idealität des Ursachbegriffes
feststellt, so hat in diesem Augenblicke das
Denken der gesamten Menschheit einen Schritt
nach vorwärts getan. Sollte diese allgemeine
Bereicherung nicht auch dann eintreten, wenn
Van Gogh Wichtiges zum rhythmischen Aus-
drucke der modernen Seele entdeckt? Oder
wenn Dostojewski Gebiete des menschlichen
Innern erschließt, in die sich vor ihm nur die
kühnsten Träume gewagt hatten ? Oder wenn
deutsche Künstler dem gewerblichen Formen
einen neuen Antrieb geben? Wilhelm michel.

Ein echtes Kunstgebilde hat den Charakter der Not-
wendigkeit, als könnte es nicht anders sein. Die
Natur hat keine Willkür, und willkürlos erscheint das
wahre Meisterwerk. Losgelöst, von dem, der es er-
schaffen, scheint es sein eigenes Herz zu haben, sein
eigenes Leben zu führen. . . . Joh. Heinr. v. Dannecker.
 
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