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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 47.1920-1921

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Michel, Wilhelm: Das Kunstwerk als Erlebnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.9122#0166

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WIENER WERKSTÄTTE—WIEN. »GETRIEBENE SILBER-KASSETTE

DAS KUNSTWERK ALS ERLEBNIS.

VON WILHELM MICHEL.

Ich will vom Kunstwerk sprechen nicht als von
einer Ausprägung des Künstler-Ichs, nicht als
von einer Darstellung der Zeit, nicht als von
einer reinen Formleistung, sondern als von einem
Erlebnis des Beschauers, als von einer Be-
reicherung und Bestimmung seines Daseins. Das
hat mit dem rein ästhetischen Wert nicht un-
mittelbar zu tun: auch schwache Kunstwerke
können Erlebnis werden, können Gefühle an-
ziehen und das Denken in Bewegung setzen.
Aber in der Regel werden nur vollwertige
Leistungen die Tugend haben, den Menschen
so zu ergreifen, daß sie zu Ereignissen in seinem
Dasein werden oder gar schicksalhafte Wir-
kungen erzeugen, ähnlich wie eine Freundschaft,
eine Reise, eine Begegnung mit einer Frau.

Der Erlebniswert der Kunstwerke spielt in
alter Dichtung, Sage und Geschichte eine sehr
bedeutende Rolle. Ich erinnere nur an das in
hundert Märchen wiederholte Motiv, daß ein
Frauenbildnis Liebe entzündet und Leben be-
stimmt. Wo Kunst im Dienst des Kultus steht,
ziehen ihre Gebilde Andacht und Sehnsucht an.
Heilige Personen werden in gewissen künst-
lerischen Verkörperungen deutlicher empfunden
und bestimmter geliebt als in andern. Man
denke weiterhin an die eigentümliche Bedeu-

tung, die gewisse Gemälde in der Dichtung,
vorab in der romantischen, gewonnen haben;
oft in der Weise, daß sich wunderliche Bezieh-
ungen spinnen zwischen dem Bild und der Wirk-
lichkeit. Die Bilder prägen sich im Wachen ein,
steigen im Traum von den Wänden, aus Rah-
men und Wirkteppichen nieder und dringen
schließlich tief in den Tag ein. Oder sie stellen
eine Situation und Schicksalsverknüpfung dar,
die sich dann in der Wirklichkeit wiederholt.
Oder sie nehmen gar am Leben einer Person
einen wunderlichen und grauenhaften Anteil.
Wenn ich aus dem Gedächtnis Beispiele nennen
soll, so wäre als Beleg für das Letztere etwa
Oskar Wildes „Bildnis des Dorian Gray" zu
nennen, für das zweite Dichtungen von Meyrink,
Julius Maria Becker, Edgar Allan Poe, für das
erste Erzählungen von Gautier, E. T. A. Hoff-
mann, Tieck, Houwald. Jeder Literaturkenner
wird die Beispiele aus eigenem Wissen ver-
mehren können.

Wir erleben sogar, daß sich um Kunstwerke
starke geschichtliche Mächte verdichten, daß
sich z. B. um sie der politische Gestaltungswille
ganzer Völker sammelt; man hat mit Recht ge-
sagt, daß Homer zur Entstehung des neugrie-
chischen Staates wesentlicheres beigetragen
 
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