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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 47.1920-1921

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Michel, Wilhelm: Form als Lebensverteidigung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9122#0258

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Form als Lebensverteidigung.

Ich glaube, es ist unmöglich, das tiefste Wesen
der Form zu erkennen ohne das Erlebnis des
Nichts. Schöpfer und Vernichter der Welt ist der
Mensch. Der Mensch muß wissen, wie nahe er
rings vom unatembaren Nichts umdroht ist. Er
muß einmal für Augenblicke in ihm verschlungen
gewesen sein, um zu fühlen, daß es ein meta-
physisches Heldentum des Formschaffens gibt.
Die festen Dinge der Welt, Baum, Turm, Sterne,
müssen einmal vor seinen Augen gezittert haben.
Sie müssen seinem innern Sinn einmal tödlich
abgewelkt, zu unsinnigen Masken verdorrt sein.
Sein Gedanke muß einmal glühend in die Leere
gestürmt sein, von Spiegelungen entgeistert —
damit er weiß, was sein Herz schreckhaft be-
glückt, wenn sich in unbeschriebener Wüste
die starren, herrischen Dreieckflächen erheben,
streng gegen einander gelehnt, scharf gekantet,
unerbittlich die weichen Horizonte zerlegend
mit grausamen Überschneidungen: Burgen der
Menschlichkeit, Leuchttürme des Lebenswillens
im Uferlosen, Bindung des Ungeheuren und
Verzehrenden in unberechenbarer Gestalt.

Die Menschheit ist solidarisch an der Form
interessiert. Ein „pyr technikon", sagt ein alter
Denker, durchbrennt die Welt. Form ist Schutz-

wehr, die unser Leben gegen das Chaotische
verteidigt. Form ist Waffe, die das Dunkle
angreift und zurücktreibt.

Freilich: dieses Dunkle ist eigentlicher Stoff
unsres und alles Lebens. Aber Form ist die
Gewähr unsres einzelnen, verkörperten, persön-
lichen Daseins. Wir leben vom Geheimnis; wir
leben vom Schwall des Feindlichen, wie der
Schiffer vom Meere lebt. Er bedarf des Kahns.
Wir der Gestalt. Das Fluten um uns ist heilig
und tödlich. Form ist unsre Weise, es zu nutzen,
es anzueignen und umzuwerten. Form ist Be-
nennung des Feindlichen, eine unablässige Fort-
setzung des Namengebens, von dem wir auf
den ersten Seiten unsrer Schöpfungsgeschichte
lesen. Benennung aber heißt Indienststellung
des ewig Furchtbaren durch das Wort Vermensch-
lichung des Geheimnisses, Überführung des Töd-
lichen in unschädliche, lebenfördernde Gestalt.

Jede Kunstform bannt eine Woge Chaos in
ablesbare und den Menschen zuträgliche Bin-
dung und hindert sie, das Menschenland ver-
derblich zu überströmen. Alles Chaos, das die
Kunst nicht formt, müssen wir leben. Alles
Chaos, das die Kunst in Gestalten bindet, wird
unsrem Leben zur Mehrung. .. wilhelm michel.

OTTO TH. W. STEIN. »LESENDER KNABE« 1914.
 
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