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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 49.1921-1922

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Michel, Wilhelm: Die Kunst im Zusammenhang der geistigen Zeitprobleme
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https://doi.org/10.11588/diglit.9142#0030

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DIE KUNST IM ZUSAMMENHANG DER GEISTIGEN ZEITPROBLEME.

VON WILHELM MICHEL.

Wir werden uns selten bewußt, wie tief-
greifend die geistige Umwälzung ist, die
sich gegenwärtig in unserem Kulturkreis voll-
zieht. Sie ist nicht von heute und nicht von
gestern. Seit vielen Jahrzehnten schwankt und
bricht es in den Grundfesten, und viele Jahr-
zehnte noch wird es dauern, bis der Übergang
von den alten Fundamenten auf neue und stär-
kere beendet ist.

Alles menschliche Tun in Kunst, Geist, Wirt-
schaft setzt eine solche geistige Grundlage vor-
aus. Das Allgemeinste ist das Wichtigste. Der
Mensch bedarf vor allem eines klaren Grund-
gefühls in Bezug auf seine Stellung zu der Welt
und in der Welt. Wird dieses Grundgefühl
schwankend, so wirkt das in geistiger und wirk-
licher Welt wie einErdbeben: das Festeste stürzt,
die letzte Oberfläche zeigt Risse und Spalten.

Von der Kunst z. B. sollte man wohl denken,
sie könne von geistigen Schwierigkeiten des
Zeitalters nicht im Tiefsten ergriffen oder er-

schüttert werden; denn sie ist doch zu einem
wesentlichen Teil aufgebaut auf der Beziehung
des Menschen zur Natur, und die Natur bleibt
sich ewig gleich. Heutige Maler stehen vor
genau derselben Umwelt wie Grünewald oder
Van Eyck. Bäume, Wolken, Menschen, Berge:
es ist alles, wie es je und je gewesen ist. Das
trifft aber nicht zu. Es zeigt sich, daß das
Ordnungs- und Gestaltungsprinzip, auf Grund
dessen es feste, reale Dinge außer uns gibt, in
unserem Innern liegt; daß die Welt geordnet,
sinnvoll und dinglich nur dann ist, wenn die
ewig mitschöpferische Kraft in uns dazu mit-
hilft; daß die Welt sogleich ein tolles Chaos
wird, sobald diese orphische Kraft in uasrer
Seele erlahmt. Wenn die Beziehungen des
Menschen zu „Golt" verwildern, dann verwil-
dert sogleich auch die sinnliche Welt. Und in-
sofern kann man sagen; Seitdem der Mensch
seine tiefe religiöse Verbundenheit, sein klares
geistiges Ortsgefühl in der Welt verloren hat,
 
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