Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 49.1921-1922

DOI Artikel:
W. F.: Zur Seelenkunde des Künstlers
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9142#0344

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
VINCENT VAN GOGH.

GEMÄLDE »WASSERMÜHLE«

ZUR SEELENKUNDE DES KÜNSTLERS.

Der Künstler ist der typisch lebendige
Mensch. Dadurch tritt er in Gegensatz
zur gewöhnlichen bürgerlichen Welt. Der Künst-
ler sucht nichts als das Lebendige. Oder viel-
mehr: Er ist das Lebendige, er lebt und webt
in ihm und sucht seinen immer treffenderen
und wirksameren Ausdruck. Die bürgerliche
Welt aber haftet am Buchstaben, am Erstarrten,
selbst am Toten. Sie verwechselt ewig die
Erscheinungsform mit dem Inhalt. Sie hält das
Zuständliche für das Eigentliche, sie glaubt ewig
mit der einmal erfaßten Form auch das zu be-
halten, von dem diese Form einmal als Lebens-
ausdruck hervorgebracht worden war. Der
Künstler weiß von Mutterschoß her, daß das
Lebendige alle Gestaltung nur als ein flüchtiges
Element durchflutet. Er ist daher geneigt, dem
Lebendigen in alle Formen und aus allen
Formen zu folgen. Das Lebendige ist unsichtbar.
Der Künstler sieht diesen Führer immer vor
sich; der Laie sieht ihn nicht. Er sieht nur das
unbeirrte Voranstürmen des Künstlers und sagt
daher gerne von ihm: Er geht irre. Daraus

kommt der Widerstand, den er den Neuerungen
des Künstlers am Anfang immer entgegensetzt.

Wird dieser Widerstand je ganz zu beseitigen
sein? Niemals. Denn eine höhere als die
Menschenvernunft hat ihn eingesetzt und ver-
wendet ihn sinnvoll, wenn auch im einzelnen
oft grausam, zur Erprobung, ob es nicht eine
Chimäre ist, der der Künstler folgt, ob er ein
Recht hat, unmittelbar in der Kielspur des
Lebendigen zu gehen.

Das Lebendige ist das Ewige.

Das Ewige auf zeitbestimmte Weise auszu-
sprechen, ist die einzige Aufgabe des Künstlers.


Man hört viel Verächtliches über „Mode"
in der Kunst und über ungewähltes Mitläuferlum.
Aber beide erfüllen in der Kunstentwicklung
eine sehr notwendige Funktion. Mode und
Mitläufer bemächtigen sich stets nur des Ge-
bärdenhaften, des Ausstattungsmäßigen der
Kunst. Indem sie dieses in kleine Gebrauchs-
münze auswerten und damit entwerten, nötigen
sie die ernsten Künstler, die Ebene ihrer Be-

318

«■■■■■■■Ml
 
Annotationen