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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 49.1921-1922

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Corwegh, Robert: Tizian
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Frank, Willy: Das Kunstwerk als Porträt
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https://doi.org/10.11588/diglit.9142#0170

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Tizian.

geht durch die Umrißlinien der Körper. Der
Kontraposto wird zur Drehung, die die Glieder
und Gelenke durchschwingt. Gleich dem be-
wegten Liniengefüge zuckt die Verteilung von
Licht und Schatten, ein Gewitterleuchten, über
die Fläche. Nicht mehr gilt der Eigenwert der
Farbe. Wie liebte man die schöne Farbe in
Venedig! Nur ihr Verhalten zu Hell oder Dunkel,
ihre Klangfarbe im Tongefüge der Kompositinn
wird gewertet. Und in aller Bewegung fühlen wir
die Beherrschung der Meisterhand. Der Meister
kann die Geister bannen, dem Zauberlehrling
des Barocks zertrümmern sie jede Form.

Die neue Erfüllung mit Form schreitet im
Bild vom Vordergrund in die Tiefe. Während
die Renaissance, wo der Außenseite des Seins
aller Wert zugemessen wurde, nur Vordergrund
und Mittelgrund unter die bestimmenden Ge-
setze gestellt hatte, schreitet die Geltung des
Gesetzes durch das ganze Gemälde von vorn
nach hinten. Den Humanisten mit der lachen-
den Lebenslüge, den höliichen Schmeichlern
ist der Mann mit der Selbstverantwortung vor
Gott gefolgt. Man prüft seit Galileo Galilei die
Naturgesetze durch das Experiment. Mit seinem

„Epur si muove" werden alte überkommene
Sätze auf den Kopf gestellt. Fest bleibt allein
in all der Bewegung der Erden, Sterne und
Atome des selbstbewußten Menschen Geist.
Doch auch er lächelt über die Schlüsse letzter
Weisheit; und selig macht allein der Glaube.
Der Abend des Lebens bezeugt durch Frömmig-
keit seine tiefste Weisheit. Wo dem Wissen
Grenzen trotzen, dort kennt die Weisheit im-
mer noch kein Ende.

So ist die letzte Arbeit Tizians ein Kirchen-
gemälde („Dornenkrönung", München). Pietro
Aretinos lästerlicher Mund ist verstummt, auch
die freien Sitten der Renaissancepäpste geben
nicht mehr in Rom den Ton an. Das Sacco di
Roma war die mahnende Bußpredigt, und der
Geist des Loyola herrscht über die Zukunft der
Kirche. Wer solche Wandlungen gleich Tizian
erlebte, der lächelt über das Feststehende von
Menschensatzung, der wird frei in Leben und
in der Kunst. Von Überlieferung zur Freiheit
der Selbstbestimmung ist der Weg der Kunst
Tizians. Der letzte Rest Erdenschwere, der
ihm blieb, man kann ihn Zeitgeist, aber auch
Schicksal nennen........ robert corwegh.

DAS KUNSTWERK ALS PORTRÄT.

Der Maler und der Schriftsteller sprachen
miteinander im hohen, lichtüberströmten
Atelier, und es ging um die Kunst.

„Auf die Natur geht doch alles wieder zu-
rück," meinte grübelnd der Maler; „auf die
Natur, das heißt auf eine einfache porträtistische
Gesinnung gegenüber dem, was man sinnlich
vor sich hat. All das Tiefe und Hohe, das Gei-
stige und Überlegte, das man hinterher aus dem
Kunstwerk herausliest, ist im Augenblick des
Schaffens dem Künstler nicht bewußt. Er hat
das in sich, er ist es. Was er an Bewußtem
braucht, das ist lediglich die treue, ehrerbietige
Arbeitsgesinnung, der Wille, ein wahres und
vollständiges Abbild dessen zu geben, was ihn
am Vorbild reizt, beglückt und erregt."

„Porträtgesinnung," sagte der Schriftsteller.
„Sie haben recht. Es ist bei uns, selbst bei
dem bloßen Essayisten, nicht anders. Ein Ge-
danke oder ein Ablauf von Gedanken taucht
wortlos im Geist auf. Das ist ein sonderbares,
ganz unsinnliches Ding, aber merkwürdig wort-
hungrig, begierig nach sprachlicher Materie, aus-
gestattet mit einem ganz bestimmten und sehr
eigensinnigen Appetit nach sinnlichen Bildern
und Vorstellungen. Da handelt es sich denn um
das peinlich genaue Treffen, um die Findung
von Wendungen, die dem ganz bestimmten und

unglaublich anspruchsvollenHungerdiesesGeist-
dinges genügen können. Da muß der Schein-
werfer des Bewußtseins mit bestimmter Ab-
biendung und sehr wählerisch die langen Gassen
der Worte entlang blitzen. Das Gewählte muß
sorgsam verglichen, gewogen, ja abgeschmeckt
werden. Es ist ein so penibler Vorgang, wie
wenn man zwei Saiten ganz genau aufeinander
stimmen will, bis in die letzte Tonschwebung
hinein. Der Fleiß, die Treue, die Empfindlich-
keit für Unter- und Nebentöne — dies alles
macht allein den guten Schriftsteller aus. Es
ist Porträtarbeit, ganz und gar. Für den Schrift-
steller gilt ganz gewiß, daß er nur bei treuester
Arbeit nach der Natur etwas Kernhaftes und
Wertvolles zustande bringt."

„Es ist," sagte der Maler, „wie bei der Ent-
stehung lebendiger Wesen; ich meine, es ist
dieselbe Zurückdrängung oder, wie Sie sagen,
Abbiendung des Bewußtseins wie bei der Zeu-
gung. Da gilt ja auch nur, was der Mensch ist,
da helfen keine edlen und erlauchten Gedanken
zurVervollkommnung des entstehenden Wesens.
Nur das Sein geht über und wird zeugend.
Und, um wieder vom Kunstwerk und seiner
nachträglichen Ausdeutung zu sprechen; man
könnte sagen, daß im Kunstwerk nur dann
echte und kräftige Gedanken sind, wenn sie
 
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