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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 49.1921-1922

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Naturhaftigkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.9142#0252

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willi schade berlin.

»klein plastik in messing«

NATURHAFTIGKEIT.

Die Forderung nach einem organischen Wachs-
tum des geistigen Gebildes in der Geschichte
der Kunst ist sehr alt. Aber sie ist oft mißver-
standen worden. Beging man einmal den Sach-
irrtum, dies besonders in der Literatur, Wahr-
scheinlichkeit und Lebenswahrheit im Stofflichen
zu fordern, so erhärtete man diese irrtümliche
These später sogar durch einen groben Anschau-
ungsfehler dahin, in der Darstellung des Gegen-
ständlichen Natürlichkeit und naturalistische
Treue vom Künstler zu verlangen. Während der
Realismus den Flug des schöpferischen Geistes
an die erbärmlichen Tatsächlichkeiten des im
Außen gedachten Lebensdaseins fesseln wollte,
versündigte sich derNaturalismus noch garstiger,
als er nichts anders als die genaue Spiegelung
vorhandener Sujets vom Schaffenden verlangte.
Der Realismus verwechselte Wahrscheinlichkeit
und Lebenswahrheit der stofflichen Gebung
mit der Wahrhaftigkeit des geistigen Bekenner-
tums. Der Naturalismus verwechselte die For-

derung naturalistischer Darstellung und natür-
licher Gegenstandstreue mit der Naturhaftigkeit
des Kunstgebildes als geistiger Tatsache. Man
fragt sich umsonst, warum solchen Forderungen
niemals Shakespeares Hamlet-Wort entgegen
geantwortet wurde, daß es Dinge zwischen
Himmel und Erde gäbe, von denen sich die
Schulweisheit nichts träumen läßt, und daß mit
gerade diesen Dingen und durch sie zu leben
ein Hauptwesenszug der Psychologie des schöp-
ferischen Menschen sei. Als sich Kant gelegent-
lich eines Spaziergangs in der Umgebung seiner
Vaterstadt zum erstenmal die Frage vorlegte,
ob denn ein Baum wirklich sei, oder vielmehr
seine geistige Vorstellung dieses Baumes, und
sich dahin entschied, den Wirklichkeitswert
seiner eignen, sinnlich vermittelnden Bildschaf-
fungskraft zuzuerkennen, dachte er ganz als
schöpferischer Künstler, und die Wirklichkeit
des Baums in ihm muß als naturhaft und wahr-
haft angesprochen werden.........h. sch.
 
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