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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 49.1921-1922

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Michel, Wilhelm: Ruhiges Werden
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https://doi.org/10.11588/diglit.9142#0183

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»madonna«
terrakotta.
richard
langer-
düsseldorf.

RUHIGES WERDEN. Siehe, es ist eine
sanfte Meeresstille über die Kunst gekom-
men. Das Gewitter von Schlagworten und wilden
Programmrufen, das Niederblitzen der Verdam-
mungen und ekstatischen Lobpreisungen ist da-
hin und versäuselt. Eine etwas matte, aber doch
wohltätige Nüchternheit herrscht in den Ate-
liers. Der finstere Kunstprofessor hat seine
Stirn entrunzelt, der fromme Bürger greift nicht
mehr zur Wehr, wenn er einem modernen Kunst-
maler begegnet. Und wie im Alten Testament
geschrieben steht, daß Gott nicht wohnte im
Wetter, sondern in der Sanftheit darnach, so
dämmert jetzt zum mindesten die Erkenntnis,
daß Wildheit nicht unbedingt Stärke sein muß.
Freilich gilt es nun nicht vorschnell schließen,
das Gegenteil der Wildheit berge und bringe
nun wirklich den Gott, die Kraft, die starke
Gestalt. Man wird nicht übersehen dürfen, daß
eine gewisse Müdigkeit, sogar Ratlosigkeit vor-
liegt. Aber immerhin: es ist Stille, und in der
Stille reift der Sinn, der wahre, leichter als im
lauten Wirrwarr, der ablenkt und betäubt.

In der Kunst wie auf allen Gebieten des
Denkens und Lebens besteht Neigung, das

Eigentliche und wirklich Voranbringende in tie-
feren Bewußtseinsschichten aufzusuchen. Das
Mißtrauen gegen das bloße Können und gegen
das bewußte Wollen belebt sich mehr und mehr.
Das Seinsmäßige hebt sich in seiner Wichtigkeit
immer stärker hervor. Die Programme, die
Erregungen, die Wollungen und Anstrengungen
sinken immer mehr im Kurs, werden als zustand -

lieh und unwesentlich entlarvt__Die Erhitzung

um Programme verlegt immer wieder den
Schwerpunkt des Problems an die Oberfläche.
Die Frage „Wer bist du?" wird im Trubel nicht
gehört und deshalb nicht beantwortet. Wir
leben in einem Augenblick, da die Vorbeding-
ungen für ruhiges Werden in der Kunst günstiger
sind als seit geraumer Zeit. Nach langer Herr-
schaft der oberflächlichen Namengebung und der
schnellferligen Erörterung dämmert die Einsicht,
daß alles Starke und Entscheidende sich im
Schutz der Namenlosigkeit vollzieht. Und die-
sem Werden haben wir als achtsame Zuschauer
und Mithelfer zu folgen, ohne stürmische Hoff-
nungen, aber doch mit der lächelnden Gewißheit,
daß eine höhere Weisheit als die der Menschen
das Geschehen führt...... Wilhelm michel.
 
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