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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 49.1921-1922

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Erlebnisarten
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https://doi.org/10.11588/diglit.9142#0251

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WIENER WERKSTÄTTE - WIEN. »KLÖPPEL-ARBEIT c KNTW: PECHE.

ERLEBNISARTEN.

Man kann zwei Arten des Erlebnisses unter-
scheiden, die sich bejahende und die sich
verneinende, die sich nehmende und die sich
hingebende, das Erlebnis des bezwingenden
und des bezwungenen Menschen. Beispiele für
diese Erlebnisarten sind besonders in der Lite-
ratur gehäuft. Wenn Rilke ein Gedicht auf
einen blühenden Apfelgarten gibt, dann ist es,
als ob der ganze Apfelgarten rilkisch töne, der
Dichter ist hinter sein Sujet zurückgetreten und
singt durch es hindurch. Wenn George ein
Gedicht auf einen Garten gibt, dann ist es, als
ob George den Garten tönen ließe, der Dichter
ist vor sein Sujet gestellt und läßt es durch sich
hindurch singen. Wenn Jean Paul eine frän-
kische Landschaft beschreibt, dann hat er ge-
wissermaßen diese Landschaft vor sich, die
Landschaft hat ihn bewältigt, er hat sich ihr
hingegeben, er ist mit seiner Seele in sie hinein-
geschlüpft; wenn Georg Büchner eine elsässische
Landschaft beschreibt, dann ist es fast umge-
kehrt : er hat die Landschaft hinter sich, er hat
sie bewältigt, er hat sie genommen. Das deut-
lichste Beispiel geben wohl Goethe und Hölder-
lin. Goethe lebt und erlebt immer und überall
dadurch, daß er sich aneignet, die Dinge zwingt,

zu sich hinzieht, er erlebt mit der Kraft seines
Stolzes, dadurch, daß er hinreißt, seine Erleb-
nisart hat ganz apollinischen Charakter, sie ist
klärend und bändigend im Prinzip. Hölderlin,
durchaus sein Antipode, lebt und erlebt dadurch,
daß er sich enteignet, sich in die Dinge zwingt,
sich hingibt, er erlebt mit der Kraft seiner De-
mut, dadurch, daß er hingerissen ist, seine Er-
lebnisart hat durchaus dionysischen Charakter,
sie ist verdunkelnd und strömend im Prinzip.

Diese beiden Erlebnisarten stecken in jedem
Menschen, es läßt sich natürlich nur feststellen,
welche den Ausschlag gibt. Durchgehends ist
bei dem Menschen der Selbsterhaltungstrieb, der
seelische Überwinder- und Erobererwille der
stärkere, er will der Dinge Herr werden, und
wenn er Kunstwerke erlebte, das Theater be-
suchte und in Konzerten war, ist er gewöhnlich
innerlich bereichert, er hat einen menschlichen
Gewinn, der größer ist, als der Verlust an Le-
bensenergie, den ihn die Einstellung gekostet
hat. Der Ideal-Mensch als Erlebender aber ist
harmonisch ausgeglichen, ausgewägt, durch ihn
gehen die beiden großen Wechselströme, geben-
des Hingenommensein und nehmendes Hinge-
gebensein dauernd hindurch....... h. sch.
 
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