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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 49.1921-1922

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Niebelschütz, Ernst von: Vergeistigter Naturalismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.9142#0156

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Vergeistigter Naturalismus.

Feststellung, was Naturalismus nicht sein darf
— nicht ein bloß leidendes Verhalten des Künst-
lers gegenüber der Erscheinung. Aber — so
wird der philosophisch Geschulte fragen — ist
ein solches Verhalten denn auch nur möglich?
Ist diese Erscheinung denn so eindeutig objek-
tiv, daß wir sie bloß passiv aufzusaugen haben?
Ist sie nicht vielmehr selbst etwas Geistiges,
von unserm Ich Abhängiges? Das einfachste
Nachdenken belehrt uns, daß dem in der Tat
so sein muß. Was wir so schlechthin „Natur"
nennen, als wäre es eine isolierte Macht, die
anzunehmen oder abzulehnen ganz in unserm
Belieben steht, ist in Wahrheit das verwickeiste
Phänomen, das es gibt, aus objektiven und sub-
jektiven Elementen, passiven und aktiven, bunt
zusammengesetzt — das Ergebnis unserer intel-
lektuellen Auffassung, unzertrennlich mit un-
serm Fühlen und Denken verknüpft. Nur als
objektiviertes Ich gibt Natur sich uns zu erken-
nen, denn „die Welt ist unsere Vorstellung".

Und doch — wer wollte leugnen, daß das
Verhältnis der Einzelnen — entsprechend dem
Intensitätsgrad der beiden Komponenten Sub-
jekt und Objekt — dieser Natur gegenüber
höchst verschiedenartig ist? — schon dies der

vollgültigste Beweis dafür, daß Natur mehr als
eine einfach gegebene Größe sein muß. Wäre
sie dies, so ist nicht einzusehen, warum jeder
sie anders sieht, ja weshalb sogar ein und der-
selbe Intellekt sie je nach der momentanen Stim-
mung seines Trägers unter stets wechselnden
Gesichtswinkeln erlebt. Das Maß der geistigen
Aktivität ist es, das hier Veränderungen im
Naturbild bewirkt, die denen im Kaleidoskop
nicht unähnlich sind, wo schon die kleinste
Drehung die Konfiguration der bunten Glas-
körperchen verschiebt. Der Hauptunterschied
jedoch zwischen dem duldenden und dem tätigen
Verhalten der Natur gegenüber, wie überhaupt
das Wesentliche und Wertentscheidende der
Betrachtungsart, scheint mir dieses zu sein:
Während der passiv-stumpfe Intellekt jedes
Ding nicht nur als ein ihm gegenüberstehendes
Fremdes, sondern als Ding für sich, losgelöst
von seinen höheren Beziehungen aufnimmt, ver-
leiht der tätige Geist ihm eine Bedeutung, die
es als bloße Erscheinung nicht besitzt. Er er-
greift es eben nicht allein mit den äußeren Or-
ganen der Sinneswahrnehmung, sondern intuitiv,
mit der Phantasie, von innen heraus. Damit
verschiebt sich das Bild aber vollkommen, es
 
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