TIZIAN. LONDON, BRIDGEWATER GAL.
»DIE DREI LEBENS-ALTER« 1512-1513.
TIZIAN.
Griechheit, was war sie? Maß, Adel, Klar-
heit." Dieses Wort Schillers bedarf kei-
ner Umprägung, um in gleicher Weise für das
Schaffen eines Tizian zu gelten. Als er mit
seinen ersten Gemälden in der Gefolgschaft
Giorgiones hervortritt, steht er schon im Mannes-
alter. Wir kennen von ihm keine Werke, wo
stürmische Kämpfe jugendlichen Strebens sich
auslösen. Und auch alle Bildnisse, die uns sein
Äußeres überliefern, zeigen den Mann oder den
Greis. Während Dürer und Rembrandt ihr
eigenes Antlitz von Jugend an festgehalten
haben, während wir aus diesen Werken ihren
künstlerischen und besonders ihren mensch-
lichen Werdegang ablesen können, verrät Tizian
auch im Selbstbildnis die bewußte Beherrschung
und Zurückhaltung des königlichen Mannes. Er
verschönt sich nicht durch Christuspose wie
Dürer, er hängt nicht gleich Rembrandt Flitter
und goldenen Ketten an sich; denn königlicher
wirkt der wahrhaft seines Wertes Bewußte,
wenn durch die äußere Schlichtheit innere Größe
leuchtet. Dabei war er alles andere, nur kein
Asket. In seinem Garten und Hause rauschten
die seidenen Gewänder schöner Frauen; fest-
liche Tage umzäunten sein arbeitsreiches Leben.
Farbenprächtig in üppiger Form müssen wir
uns seine geselligen Abende denken. Von den
Lippen des Aretiners sprühen die Scherze, und
in die allgemeine Heiterkeit muß selbst der vom
Witz Getroffene einstimmen. Ariost trägt seine
Gesänge vor, ebenbürtig stellt er die reife Dich-
tung neben das Werk des Freundes. Aber auch
die Musik fehlt nicht. Von Lautenliedern ist
die Nacht erfüllt. Violine und Cello begleiten
die zögernden Versuche der Kantilene, in der die
dramatische Dichtung sich der Musik gesellt.
Doch diese Feierstunden erschlaffen ihn nicht,
er tritt gestärkt stets an neue Arbeit. Es ist
ein glückliches Dasein, das Tizian aufbaut und
vor uns hinbreitet, und es wurde glücklich, weil
ein bewußter Mensch sich selbst die Grenzen
in Wollen und Streben steckte: „Der Mensch
ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes
Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt".
Goethe formt diese Einsicht in „Wilhelm Mei-
ster", und bringt so seine dem großen Meister
der Renaissance verwandte Saite zum klingen.
Unsere Zeit liebt das Grenzenlose, und die un-
beherrschte Sehnsucht steht ihr näher als die
kleine, aber beherrschte Möglichkeit. An einer
Zeitenwende wollen wir Trümmer und Urgestein
zu neuem Bau, den wir ahnen. Ungeklärt, wie
unser Wollen, sind alle Formen in uns und um
uns. Aus eigner Ungeklärtheit vermögen wir
nicht die gerechte Stellung zu finden zum klas-
sischen Ideal. Und doch, es wird einer nicht
zu fernen Zeit wieder das Ideal bedeuten.
Wenn der goethische Mensch das geistige Ziel
Europas geworden, dann wird man für bau-
»DIE DREI LEBENS-ALTER« 1512-1513.
TIZIAN.
Griechheit, was war sie? Maß, Adel, Klar-
heit." Dieses Wort Schillers bedarf kei-
ner Umprägung, um in gleicher Weise für das
Schaffen eines Tizian zu gelten. Als er mit
seinen ersten Gemälden in der Gefolgschaft
Giorgiones hervortritt, steht er schon im Mannes-
alter. Wir kennen von ihm keine Werke, wo
stürmische Kämpfe jugendlichen Strebens sich
auslösen. Und auch alle Bildnisse, die uns sein
Äußeres überliefern, zeigen den Mann oder den
Greis. Während Dürer und Rembrandt ihr
eigenes Antlitz von Jugend an festgehalten
haben, während wir aus diesen Werken ihren
künstlerischen und besonders ihren mensch-
lichen Werdegang ablesen können, verrät Tizian
auch im Selbstbildnis die bewußte Beherrschung
und Zurückhaltung des königlichen Mannes. Er
verschönt sich nicht durch Christuspose wie
Dürer, er hängt nicht gleich Rembrandt Flitter
und goldenen Ketten an sich; denn königlicher
wirkt der wahrhaft seines Wertes Bewußte,
wenn durch die äußere Schlichtheit innere Größe
leuchtet. Dabei war er alles andere, nur kein
Asket. In seinem Garten und Hause rauschten
die seidenen Gewänder schöner Frauen; fest-
liche Tage umzäunten sein arbeitsreiches Leben.
Farbenprächtig in üppiger Form müssen wir
uns seine geselligen Abende denken. Von den
Lippen des Aretiners sprühen die Scherze, und
in die allgemeine Heiterkeit muß selbst der vom
Witz Getroffene einstimmen. Ariost trägt seine
Gesänge vor, ebenbürtig stellt er die reife Dich-
tung neben das Werk des Freundes. Aber auch
die Musik fehlt nicht. Von Lautenliedern ist
die Nacht erfüllt. Violine und Cello begleiten
die zögernden Versuche der Kantilene, in der die
dramatische Dichtung sich der Musik gesellt.
Doch diese Feierstunden erschlaffen ihn nicht,
er tritt gestärkt stets an neue Arbeit. Es ist
ein glückliches Dasein, das Tizian aufbaut und
vor uns hinbreitet, und es wurde glücklich, weil
ein bewußter Mensch sich selbst die Grenzen
in Wollen und Streben steckte: „Der Mensch
ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes
Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt".
Goethe formt diese Einsicht in „Wilhelm Mei-
ster", und bringt so seine dem großen Meister
der Renaissance verwandte Saite zum klingen.
Unsere Zeit liebt das Grenzenlose, und die un-
beherrschte Sehnsucht steht ihr näher als die
kleine, aber beherrschte Möglichkeit. An einer
Zeitenwende wollen wir Trümmer und Urgestein
zu neuem Bau, den wir ahnen. Ungeklärt, wie
unser Wollen, sind alle Formen in uns und um
uns. Aus eigner Ungeklärtheit vermögen wir
nicht die gerechte Stellung zu finden zum klas-
sischen Ideal. Und doch, es wird einer nicht
zu fernen Zeit wieder das Ideal bedeuten.
Wenn der goethische Mensch das geistige Ziel
Europas geworden, dann wird man für bau-